Satzfischer - Das literarische Kreativprojekt des Literatur-Cafés in Zusammenarbeit mit dem S. Fischer Verlag
Hier lesen Sie die besten Beiträge der vierten Runde (März '02 - April '02), die unseren Autorinnen und Autoren zu einem Satz von J. M. Coetzee eingefallen sind. Der Satz stammt aus dem Roman »Warten auf die Barbaren«. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag. ISBN 3-10-010814-0. 19,90 EUR: Cover: Warten auf die Barbaren

Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat.

Inspiration ist alles
von Birtha Noltmann, 70597 Stuttgart (Deutschand)

"Neben dem Tor kann ich - wenn ich mich anstrenge - den dunklen Umriss eines Menschen erkennen." Irgendwie fängt die Situation an, ihr zu entgleiten. "Er sitzt ... oh, es ist ein wenig verschwommen ... doch, er sitzt dort an die Wand gelehnt." Ein kurzer Blick auf die Besucherin. "Oder ... ja, ich glaube, das ist es eher ... er hat sich zusammengerollt und schläft." Ihre Hände streichen über die Kugel. Noch sieht ihr Gegenüber sie gespannt an, aber dann fragt die Frau: "Lerne ich ihn erst dort kennen?" Stirnrunzeln, ein leichtes Zweifeln in der Stimme. "Wie soll ich wissen, dass er es ist?" Oh, oh, das war wohl kein überzeugendes Bild von der Zukunft gewesen. "Ich meine, so wie Sie das beschreiben...". Die Hände sinken langsam an der Kugel herab, das Ende der Geschäftsbeziehung naht. Die Besucherin setzt sich auf ihrem Stuhl zurecht, "könnte ich doch versehentlich an irgendeinen Landstreicher geraten." Angestrengtes Schweigen auf beiden Seiten. Recht hatte sie ja, das war dieses Mal ein bisschen weit hergeholt. "Naja, trotzdem vielen Dank." Stuhlrücken, schwungvoller Griff nach der Handtasche im Aufstehen. "Aber ich glaube, für heute habe ich genug gehört." Und wünscht im Gehen "einen schönen Abend noch". Stille. Tiefes Durchatmen, und die gebräunten Hände schieben die Kugel auf der samtenen Unterlage mitten auf den Tisch. Müde zieht sie das Kopftuch - albernes Ding - vom angedrückten Haar und schiebt den dicken Vorhang beiseite, ehe sie die Tür zum Nebenzimmer öffnet. Sie blättert ein paar Seiten in dem aufgeschlagenen Buch, klappt es dann zu und stellt es ins Regal zu den anderen Bildbänden. Also taugte die Pariser Clochard- und Brückenromantik, nicht mal in Schwarz-Weiß. Klack, Klingelschalter aus, keine Besucher mehr heute. Klick, Computer an, das Modem piept, knarzt und quietscht. Der Cursor blinkt erwartungsvoll ihrem Suchbegriff entgegen. Sie tippt: Inspiration.

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Imitation
von Ursula Escherlor, 26386 Wilhelmshaven (Deutschand)

"Das war gutes Theater, ich bin begeistert." Mit diesen Worten erreichte ich Pia, die schon am Ausgang auf mich gewartet hatte. "Na endlich," sagte sie ungeduldig, "wir laufen noch eine ganze Weile." Der Weg nach Hause führte uns ein Stück durch die Stadt, vorbei an belebten Straßen mit Autos, Bussen und Taxen. In meinen Gedanken war ich noch beim Schauspiel, konnte mich nicht so schnell befreien von Racheschwüren, Mord und Verzweiflung der Heldin. Unser Schritt war schnell und wir verschwendeten keinen Blick nach links oder rechts und wechselten auf die andere Straßenseite. Nach kurzer Zeit wurde es ruhiger, Wohnhäuser, kleine Geschäfte und wie an einer langen Schnur aufgezogen – parkende Autos. Es war dunkel, wir redeten kaum, denn holprige Gehwege und Baustellen forderten unsere Aufmerksamkeit. Vor uns sahen wir die Silhouette des Stadttores, denn der grüne Sandstein wurde nachts von Strahlern erleuchtet. Stimmen. Stimmengewirr. "Hörst du das?" flüsterte ich Pia zu. "Kommt vom Tor", meinte sie. Wir überquerten den Museumsplatz, kamen wieder in eine belebtere Gegend, der Italiener gegenüber hatte noch geöffnet. Die Stimmen wurden jetzt immer stärker. Wortwechsel. Ich blinzelte, strengte meine Augen an, um zu erkennen, was sich in der Nähe des Tores abspielte. Und mit jedem weiteren Schritt erkannte ich deutlich die dunklen Umrisse eines Menschen. Saß er ans Mauerwerk gelehnt oder schlief er dort zusammengerollt? Wir kamen ihm näher. "Irgendetwas stimmt hier nicht", sagte Pia. Die anderen, die dort redeten, blickten zu uns, aber ihr Interesse galt dem schlafenden Menschen an der Mauer. Sie sprachen über ihn, das hörten wir deutlich. Nun ging einer näher heran und beugte sich zu ihm runter. Er schläft tief, dachte ich und wunderte mich. Der Mann trug eine helle Cordhose, sein rechtes Bein war angewinkelt. Ich hatte einen schlimmen Verdacht oder war er nur betrunken? Und weshalb redeten die nur und halfen nicht? Entschlossen ging ich auf die Gruppe von Menschen zu, ich wollte Aufklärung. Und die bekam ich: Ausstellung ‚Hyperrealismus’- Duane Hanson. Davon hatte ich noch nie gehört. Einen Moment lang war ich irritiert. Der "Schlafende" sollte ein Kunstwerk sein, eine Skulptur. Sofort blickte ich zu ihm, diese Echtheit war unglaublich. Es war die verblüffende Imitation einer menschlichen Gestalt. Ich hatte Mühe, Realität und Illusion zu trennen, denn ich glaubte fast, dass er atmete, wenn ich ihn nur lange genug ansah...

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Fremd
von Andreas Ruhry, 8580 Köflach (Österreich)

Das Aug mag dem des Adlers gleichen,
doch mag ichs Dunkel nicht durchbrechen,
wenn Aug und Geist mir dann zum Trotz,
zwei verschiedne Sprachen sprechen.

Wenn ich mit aller Phantasie
nicht sehen mag was dort geschieht,
wenn der, der sonst mit innren Augen
sogar verborgne Dinge sieht.

So schreit ich näher an das Tor,
und seh doch immer noch nicht scharf,
weil ich vielleicht was dort verborgen,
als guter Mensch nicht sehen darf.

Noch einen Schritt heran schreit ich,
schon wird es klarer was am Tor,
zur Ruhe sich gebettet hat
doch kommt es mir befremdlich vor.

Hat er sich hier zur Ruh gebettet?
Hat er kein Heim, kein wärmend Haus,
So schwarz wie jede Katz des Nachts,
so schwarz sieht auch der Fremde aus.

Hat er ein Lächeln auf den Lippen,
oder blickt er finster drein,
ich werde es wohl nie erfahren,
trat ich doch rasch ins Haus hinein.

Denk ich zurück an diesen Schatten
an diesen Menschen dort am Tor
kommt nicht der Mensch-nein mein Verhalten
mir mehr als er befremdlich vor.

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Zitaupen
von Johannes, Gutsche, 89312 Günzburg (Deutschand)

"Zitaupen sind gesellige Tiere, fröhlich im Schwarm lebend, bis sie die Geschlechtsreife erlangen," berichtete der TV-Ornithologe begeistert. Nur der Fernseher war an. Blau schimmerte das Vogelgefieder auf dem gespannten Laken, Luc hatte einen Drink in der Hand. Sundowner nannten das seine Gäste, ihn selbst scherzhaft den Krull vom Palais. Sechs Stunden am Tag Schlüssel überreichen, Telefonate annehmen und freundlichen Gesichts die hinterlegte Post überreichen. "Nein, heute keine Anrufe für Sie gnä Frau." Verwundertes, routiniertes Wegtrippeln der älteren Dame. Mit viel Gold behängt. Wie ein General, dessen Kameraden nur noch wenigen Denkmalbesuchern etwas sagten. In den Grand Hotels der Welt und dazu gehörte Lucs Posten, hatten die Jungen die neuen Fronten der Geselligkeit eröffnet, lauernde Handyspeichler in ihren Schützengräben der Geschäftswelt, die von den privaten Schlachten nicht mehr zu trennen war. "Nach der Befruchtung setzt unwiderruflich ein Stoffwechselvorgang ein, das Federkleid reduziert sich auf ein Minimum und die einst so prachtvollen Gesellen werden von der Gesellschaft des Schwarmverbundes mehr und mehr ignoriert." Erläuternde Stimme. "Oder sogar böswillig bekämpft!" Ergriffene Tonlage, den Bildern vorgreifend. Lucs Blick richtete sich auf seinen Fernseher. Ein hilfloser, stumpfgrauer Vogel wurde von vier geselligen Artgenossen munter traktiert. Mit den Schnäbeln aus dem Dunstkreis einer wohl vom Kamerateam hingeworfenen Semmel gestoßen. Luc ging ans Fenster, Sprossenfenster, zwei Flügel ihm zugestanden, nur einer halb geöffnet. Lauer Abend. Das Gezwitscher des gepeinigten Vogels steigerte sich. Zuerst nach seinen Möglichkeiten eher noch verärgert quiekend, langsam jedoch in klägliches Gejammer übergehend. Geht nix über eine gute Tierdoku nach soviel Gemenschel den ganzen Tag. Da wird wenigstens mal zugebissen und ehrlich reagiert. Ja ja, der Biologie kommt man nicht aus, da kann man noch so freundlich sein. Endlich für ne Stunde ausspannen, später Nachtschicht. Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. "Verpiss dich du Zitaupe!!!" Der Schatten hat meinen Schrei wohl nicht gehört. Wenigstens wegtrippeln hätte er können, der Penner... Luc fühlte sich ineffizient. Die Pause schien ungenutzt und schon auf der Treppe nach unten wusste er, " nein, heute kein Anruf für sie gnä Frau." In der Glotze Werbepause.

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