Satzfischer - Das literarische Kreativprojekt des Literatur-Cafés in Zusammenarbeit mit dem S. Fischer Verlag
Hier lesen Sie die besten Beiträge der vierten Runde (März '02 - April '02), die unseren Autorinnen und Autoren zu einem Satz von J. M. Coetzee eingefallen sind. Der Satz stammt aus dem Roman »Warten auf die Barbaren«. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag. ISBN 3-10-010814-0. 19,90 EUR: Cover: Warten auf die Barbaren

Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat.

Mondhelle Nacht
von Sylvia Smuda, 71083 Herrenberg (Deutschand)

Mondhelle Nacht,
Am Tor der märchenhaften Stadt.
Ruhe.
Rätschende Zikaden. Sonst nichts.
An die Wand gelehnt, der Umriss eines Menschen,
Kaum zu erkennen im dunklen Djelaba.
Ein Bettler, ein Gestrauchelter.
Chauvinistisch zur Seite blickend passierten ihn Touristen.
Herrenvölker, den Menschen verachtend.

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Das zweite Gesicht
von Birgit Wagner, 50674 Köln (Deutschand)

Es ist dunkel. Dunkler als sonst, denn der Mond hat sich zu einer schmalen Sichel zusammengezogen und lugt nur ab und zu durch die dichte Wolkendecke. Ich bin wach. Kann nicht schlafen, weiß nicht warum und schaue aus dem Fenster auf die gegenüberliegende Friedhofsmauer. So gänzlich in schwarz getaucht, sieht sie aus wie der Wall einer mittelalterlichen Trutzburg. Die Bäume, die sich über ihrer Mauer erheben, erinnern an riesenhafte Gestalten aus einer anderen Welt. Totenwächter, denke ich und es schaudert mich. Mein Blick gleitet zu dem schmiedeeisernen Eingangstor hinüber, in dessen Mitte ein Engel mit einer Trompete dargestellt ist. In der Dunkelheit ist er nur zu erahnen. Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Ich erschrecke. Da ist die Alte wieder! Wer sonst treibt sich in der Nähe von Friedhöfen herum? Ich hoffte, sie wäre aus meinem Leben verschwunden. "Du hast das zweite Gesicht - wie deine Großmutter," sagte meine Mutter, als ich völlig aufgelöst nach der ersten Begegnung zu ihr gerannt kam. "Solche Menschen sehen mehr als andere." Von dieser Zeit an erschien mir die Alte regelmäßig, die schwarze Frau, die Todesbotin - und nie ohne Folgen. Wo sie auftauchte, wurde gestorben. Doch nur ich konnte sie sehen, diese schmale in schwarzen Tüchern gehüllte Person, deren Gesicht stets unter einem Spitzenschleier verborgen blieb. Sie war ganz plötzlich da und blieb so lange, bis sich eine Seele von ihrem Körper befreit hatte. Ich war nicht glücklich über die Gabe des zweiten Gesichts und hätte die Erscheinung gern als Sinnestäuschung abgetan. Doch die Toten sprachen für sie. Erst als ich von zu Hause wegging, kreuzte sie nicht mehr meinen Weg. Bis heute. Da sitzt sie nun. Ich ziehe die Vorhänge zu, lege mich ins Bett und überlege, wen es diesmal treffen könnte: Meine alte Nachbarin oder der Onkel, der seit Wochen im Krankenhaus liegt? Oder gar mich selbst? Im Schlaf durchwandert die schwarze Frau meine Träume, doch ich sehe niemanden sterben.
Am nächsten Morgen ziehe ich die Vorhänge beiseite und schaue gespannt hinüber zu dem Friedhofstor. Sie ist weg. Statt dessen lehnt ein alter fleckiger Sack an der Wand. Irgendwer hat seinen Müll dort gestern Abend abgestellt.

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Das Tor
von Barbara Kuhrau, 10551 Berlin (Deutschand)

Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Ich nähere mich langsam. Kenne ich ihn? Könnte es Hartmut sein? Nein, Hartmut ist mir zwar monatelang nachgelaufen, aber das würde er nicht tun, einfach da an der Wand lehnen, mitten in der Nacht. Das ginge zu weit. Ich muß durch das Tor, schließlich wohne ich im Hinterhaus, und das möglichst ohne ihn zu wecken. Schläft er überhaupt? Wenn es nicht Hartmut ist, könnte es ein Obdachloser sein, der mich vielleicht fragt, ob ich ein Bett frei habe. Oder schlimmer, ein Mörder oder Sittenstrolch? Einer der mich überfällt, sobald ich den Schlüssel ins Schloß gesteckt habe. Mich niederschlägt, vergewaltigt, mir ein Messer in den Rücken stößt? Wenn er wirklich schläft, ist er harmlos. Dann muß ich es nur schaffen, das Tor lautlos aufzuschließen und mich hinein zu schleichen. Aber das Tor, groß wie ein Scheunentor, mit zwei Türflügeln aus Eiche, das schon Kutschen auf den Hof gelassen hat bevor es Autos gab, das Tor knarrt immer. Wird mir nicht gelingen, es lautlos aufzuschließen. Bevor er mich sehen kann, drehe ich mich um und gehe leise zurück bis zur Ecke. Vielleicht steht er inzwischen auf und verschwindet. Drehe mich wieder um und gehe auf das Tor zu. Nein, da sitzt er, genau wie eben. Schritt für Schritt, auf ihn zu, kann ja nicht die ganze Nacht hier auf und ab... Wenn doch nur das Licht besser wäre. Aber die nächste Gaslaterne steht an der Ecke. Nun bin ich nur noch einen Katzensprung entfernt. Höre mein Herz wild klopfen. "Hartmut?" flüstere ich. Ich atme auf. Zwei pralle Altkleidersäcke, einer aufgerissen und umgefallen. Eine alte Hose kauert mit angewinkelten Beinen auf dem gepflasterten Boden.

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Die Obdachlose
von Ursula Knie, 50678 Köln (Deutschand)

Verletztheit war mein Elternhaus

mich wärmt nur die Sonne
im Frühling
im Park

und des Wermuts kurzlebiger Rausch

in meinen Händen die Flasche so glatt
birgt Traum und Zorn
Fetzen von Wolken und Feuer

Mauern findet mein Herz genug
daran zu klagen

doch ich suche vergebens
nach einem Versteck für meine Wunden
nach einer Höhle für meinen Tod

Lampen in den Fenstern hüten ihren Schein
Menschen treiben ihre Schritte vorbei

sie bleiben nur stehen
wenn rote Lichter es befehlen

sie sehen mich an
und ihre Augen erfrieren

am Morgen füllt sich der Himmel mit Blut
dann summ ich ein Lied vom Heimweh
das ich nicht kenne

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umrisse
von Susanne Müller, A-9020 Klagenfurt (Österreich)

reisebündel
graues
aus abgewetzten gedanken
-denk nur
an unsre alten sorgen-
ist an seine grenzen gekommen

sackleinen
grobes
kleidet fleckig
den alten mann des lächelns
-er schleppte sich lange
mühsam mit falten schon-

jetzt ist er müde.
die graue mauer
lässt ihm grenzen sein.
das tor
hat sich leise
quälend langsam
geschlossen.
die mauer ist
stein an stein gepresst
und die schatten tanzen

die stimme aus der stille sagt
irgendwann musst du aufhören
lächeln
du
wenn du alt geworden bist und verbraucht
lass die anderen
folgen

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