Satzfischer - Das literarische Kreativprojekt des Literatur-Cafés in Zusammenarbeit mit dem S. Fischer Verlag
Hier lesen Sie die besten Beiträge der vierten Runde (März '02 - April '02), die unseren Autorinnen und Autoren zu einem Satz von J. M. Coetzee eingefallen sind. Der Satz stammt aus dem Roman »Warten auf die Barbaren«. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag. ISBN 3-10-010814-0. 19,90 EUR: Cover: Warten auf die Barbaren

Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat.

Jagdflüge
von Katrin Atmanspacher, 79115 Freiburg (Deutschand)

Die Sonne ist untergegangen und in der hereinbrechenden Dämmerung kann ich die ersten Fledermäuse herumflitzen sehen. Ich kann sie auch hören. Ich höre auch den lästigen Piepston des Fernsehers der Nachbarn. Ich kann ihr Gestreite nicht mehr hören! Sie belasten mich, wenn er die Tür knallt und sie weint. Manchmal auch anders rum. Sie strengen mich dann sehr an. Immer muss ich sie hören. Ich habe keinen Fernseher.
Ich brauche nur mein Fenster. Ich habe gute Augen, scharf kann ich weit sehen, auch wenn es dunkel ist, draußen, auch drinnen, kenne ich keine Unsicherheit, ruhig bewege ich mich, beinahe wie eine Fledermaus auf nächtlichem Flug.
Die Nachbarn haben Handy und Telefon, ständig klingelt etwas. Ich habe kein Telefon. Schon seit Jahren nicht mehr. Manchmal denke ich mir, nur zum Spaß, eine Telefonnummer für mich aus und schreibe sie irgendwo an öffentliche Toilettentüren. Dann habe ich das Gefühl, modern zu sein.
Aber im wesentlichen bin ich glücklich, wenn ich, so wie jetzt, hier an meinem Fenster stehe und die Fledermäuse auf ihrem Jagdflug beobachten kann, solange bis es ganz dunkel geworden ist, dann erkenne ich nur noch Schemen. Und natürlich höre ich sie und den Fernseher meiner Nachbarn.
Auch sonst kann ich immer etwas sehen, vom Fenster aus, wie der Mond auf geht und die Sonne. Oder Menschen. Neben dem Tor zum Hof kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Ich beneide ihn nicht. Ich habe auch kein Mitleid. Menschen kümmern mich nicht. Gefühl und Mitmenschen habe ich gleichermaßen abgeschüttelt und hinter mir gelassen. Ich habe mein Fenster. Mir geht es gut.
Vielleicht kann ich zu Stein werden? Das wäre schön. Ich wäre auch zufrieden, ein Baum zu sein.
Der Umriss an der Wand rührt sich nicht, er schläft.
Das Telefon der Nachbarn klingelt.
Ich gehe jetzt schlafen

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Ertrunkenes Gewissen
von Renee Eriks, 55599 Wonsheim (Deutschand)

Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an der Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat.
Leise schließe ich die Autotür und bewege mich vorsichtig Richtung Haus.
Ob er wirklich schläft? Ein Gefühl der Bedrohung weicht dem Mitleid. Was mag ihn hierher verschlagen haben? Wie kann er die Nacht dort an der Mauer überstehen? Vielleicht sollte man ihm Hilfe anbieten, ein Obdach für die Nacht?
Wieder die Furcht. Ich sehe mich beraubt, niedergeschlagen, vergewaltigt. Mein Schritt wird schneller, ich öffne die Tür und vergewissere mich, dass sie hinter mir ins Schloss fällt. Treppe hinauf, Wohnungstür öffnen, hinein, zumachen.
Im Wohnzimmer gieße ich Cognac in ein Glas, trage es ins Bad. Rauschend-dampfendes Wasser – ich versinke in der schaumigen Wärme und lasse mein Gewissen darin ertrinken.

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Freiheit
von Anwar Helweh, 8010 Graz (Österreich)

Das fahle Mondlicht wurde zum schummrigen Fackelschein gleich hinter jenen Mauern und gleich dahinter auch hocken heute noch Lichtjahre entfernt die Träumer und trauern.
In diesen wenigen Stunden wurden die Götter gerichtet, die Menge hinterher, ins Herz der Mutter Erde schlugen sie tiefe Wunden, die Gassen umspült ein blutrotes Meer. Moral, Stolz und Würde - so schien es in dieser Nacht - wurde zur kaum merkbaren Hürde, vergessen was Mensch sein ausmacht.
Und so zogen sie mit ihren schon Toten den Mauern entgegen und brüllten und schrien und dennoch sah ich keinen einzigen der schon toten vor ihnen Knien. Aufgestellt an eine graue Wand, nackt, das Schicksal längst aus der eigenen Hand und noch immer kein Wimmern und Flehen - nein - diese hier nicht, die überstehen.
Da plötzlich sangen sie ihre Lieder von der Freiheit und vom Meer, von der Stille und der Ruhe über ihrem Schlaf und sie sangen immer und immer wieder, bis sie die erste Kugel traf. Dann sackten sie zusammen, immer noch in Ketten aber längst nicht mehr gefangen.
Endlich, als dann die Menge im Rausch verschwand sah ich erschreckend klar mit Blut gespritzt ein Stück Freiheit an jener Wand.
Da frag ich euch was ist bloß geworden aus der guten alten Revolution? Anstatt der Helden stehen jetzt Marionetten auf dem Balkon und mit Buttermessern aus Plastik schneiden sie sich ihre Fäden ab, ja seht ihr nicht, das Leben in diesem Land wird knapp

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Routinefall
von Marlene Geselle, 72513 Hettingen (Deutschand)

Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Nur für einen kleinen Moment stutze ich. Mann oder Frau?
Jeden Morgen, auf dem Weg zur Frühschicht, gehe ich durch das Tor. Dass hier jemand übernachtet, einer von denen, wie man so unschön sagt, kommt im Sommer öfter vor. Aber heute, heute ist Anfang März.
Es hat gefroren über Nacht. Und es weht noch immer ein kalter Wind: durch die Straße, durch das Tor, über mein Gesicht. Wirklich nicht das richtige Wetter, um hier einen Mittsommernachtsschlaf abzuhalten.
Meine Füße haben mich zu der Gestalt am Boden hingetragen. Ein alter, abgewetzter Armeeparka, schmuddelige Wollmütze, ebensolcher Schal. Habe ich wirklich was anderes erwartet? Soll ich ihn/sie einfach ansprechen?
„Hallo, Sie da! Da haben Sie sich aber einen miesen Platz zum Schlafen ausgesucht.“ Meine vorlaute Klappe hat die Regie übernommen. Die Hände rütteln an der Schulter, folgen meinem Mundwerk nur nach.
„Scheiße, der ist tot!“ Käsehaut, filziger Bart. Beides überzogen mit einer feinen Schicht raureif. Das Gesicht hart und kalt wie Putenfleisch aus der Tiefkühltruhe. Spüre, wie ich anfange zu zittern.
Die Hände greifen von alleine nach dem Handy; wählen automatisch die 110. Die freundliche, routinemäßige Stimme einer Polizistin lotst mich durch den Fragebogen. Alles klar!
Zwei Minuten später ist der Streifenwagen da. Der Leichenwagen kommt gleich hinterher.
Die Polizeibeamten taxieren mich mit einem einzigen Blick. Gucken kurz nach dem Obdachlosen, der noch immer da liegt. Der ältere der Beiden winkt den Männern mit der Zinkwanne. Sehe zum ersten Mal wie das gemacht wird – wenn einer abgeholt wird.
Die beiden Polizisten winken mir zum Abschied kurz zu. Alles erledigt, meine Daten haben sie; ein Routinefall.
Die Männer mit der Zinkwanne sind jetzt auch fertig. Rein in den Wagen, Türe zu. Ich sehe den beiden Autos nach, wie sie durch das Tor fahren. Stille.
Schrecke zusammen, als ich die Turmuhr von St. Johann höre. Muss los, zur Frühschicht.

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Suche
von Ulrike Wendt, 26655 Westerstede (Deutschand)

Nach meiner nun schon eine Stunde andauernden Wanderung durch die Stadt ist das die erste Begegnung mit etwas Lebendigem und ich zögere, ob ich auf die Gestalt im Schatten des Mauervorsprungs zugehen soll. Selbst das Innehalten verunsichert mich, denn ich weiß nicht , was die Gestalt mir bedeuten wird.Ein Gefühl von Gefahr erwacht in meinem Nacken.Nach der schweigsamen, geordneten Reihe von Wohnhäusern an sauber grau gefliesten
Bürgersteigen ,die Fenster der verputzten Häuser von sorgsam geglätteten Gardinen versiegelt, hatte
ich einen Ratgeber vermisst, jemanden, den ich nach dem Weg hätte fragen können.Die hölzernen Flügel des Tores stehen offen, es ist die Zufahrt in einen Hof, wie von einer Werkstatt,
die hier die Front der Häuser zerbricht. Die Gestalt rührt sich nicht, ein erwachsener Mensch im schwarzen Wollumhang, der mir den Rücken zukehrt.Lähmende, quälende Stille, keine Bewegung, kein Wort. Ich trete durch die Einfahrt und gelange auf einen Hof, der von Hinterhäusern umgeben ist, auch sie dreigeschossig, aber anders. Der Putz ist versehrt, Risse durchziehen das Mauerwerk, rechts pendelt im Erdgeschoß ein glasloses Fenster im Wind. Kleine und größere Löcher im Mauerwerk zeigen die Spuren der Gewaltanwendung. Überhaupt sehe ich offene Fenster, in einem hängt Wäsche. Hier leben Menschen. Schreiende Kinder, eine Gruppe von 5-7jährigen laufen im größten Tempo an mir vorbei, so als hätten sie mich nicht gesehen.
Zwischen den Häusern vor mir geht es weiter. Ein Weg, schmal, Sand und Steine. Ich blicke in ein Fenster und sehe nasse Wände, aufgebrochene Holzdielen und atme den Geruch von Schimmel.Weiter,es wird immer dunkler, als mir die Gestalt im eiligen Laufschritt entgegenkommt. Es ist ein
Mann mit Umhang. Er rennt, in der Hand einen Jutesack, an mir vorbei.
Die Häuser am Weg immer mehr wie Ruinen, ein abgebrochener Baum auf einem kleinen freien Platz und Eile ist geboten ,denn gleich werde ich allein im Dunkeln stehen.War es rechts oder links, irgendwie gehe ich weiter und stehe plötzlich auf einem freien Platz, Sand und Steine, Mauerreste, unbelaubte Stäucher und in der Mitte ein Feuer. Holz wird verbrannt,Türen,Baureste. Dabei sind Menschen .Sie sitzen und sprechen, tragen merkwürdig alte Sachen.
Ich gehe auf sie zu, sie lassen es geschehen. Ich sitze am Feuer mit Menschen, die meine Sprache nicht sprechen. Ich weiß nicht, wo ich bin.
Sie geben mir etwas zu essen.Ich schlafe ein.

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