| Hier lesen Sie die besten Beiträge der vierten Runde (März '02 - April '02), die unseren Autorinnen und Autoren zu einem Satz von J. M. Coetzee eingefallen sind. Der Satz stammt aus dem Roman »Warten auf die Barbaren«. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag. ISBN 3-10-010814-0. 19,90 EUR: |  | Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Ruhe sanft! von Widukind Remus, 36100 Petersberg (Deutschand) Ich bin ein Ruhestörer, und dies obwohl meine Anwesenheit niemanden auffällt.Mit festen und gesättigten Schritten durcheile ich die Nächte, durchquere ich die dunkle Saite des Tages.Der Schlaf geht mir ab, und dies obwohl ich in allen Winkeln unseres Städtchens nach ihm stöbere.Hastig eile ich durch Nebenstraßen, schrecke die Katzen auf, beobachte verknäulte Paare, die ineinander verschlungen wohl ebenfalls auf der Suche nach Ruhe sind. Mit gehetztem Blick streife ich die Stadtmauer entlang, hin zum ehemaligen Stadttor.Dort schlage ich mich in die Büsche, ersinne mir Geschichten über die Stadtwachen, die mit grimmigen Gesichtern Reisende einließen oder wieder fortschickten, die sich heimlich betranken und dann würfelten, vielleicht auch manchmal um die eigene Seele.Fast zu Freunden sind sie mir geworden.Aber eben nur fast, denn ihr schlechter Atem stößt mir doch allzu oft übel auf. Auch in dieser Nacht, die meine Nacht ist, hocke ich inmitten meiner Büsche, das Treiben am Tore beobachtend. Es ist Marktnacht, und somit viel Gesindel unterwegs, um hier und dort zu feilschen, den Weibern unter die Röcke zu greifen, und dem Tod, oder einem Narr, eine Nase zu drehen. Plötzlich bemerke ich eine Bewegung fernab meiner Geschichte, ganz dicht am Tor. Es könnte ein Mensch sein. Einer aus Blut.Einer aus Fleisch. Mucksmäuschenstill harre ich und warte.Dann ist wieder Ruhe eingekehrt.Trotzig ob des Eindringlings, dieses wilden Geschichten-zerstücklers beschließe ich dem Aas ins Auge zu sehen. Ich schleiche auf allen Vieren, fast so wie eine Katze, gleich bin ich bei Ihm, jetzt noch ein Ast, und dann... Es sind die Augen eines explodierenden Sternes. Leer und zugleich angefüllt mit ganzen Lavaströmen starren sie mich an. Das Gesicht ist umrahmt von einem Dschungel aus Haaren. Die Welt hier ist einzug nur Geruch von Erbrochenem und Schnaps.Das Bündel dort zu meinen Füßen, es ist tot.Entschlafen.Gesegnet durch den Schlaf der Ewigkeit.Hier herrscht nun Ruhe. Der Anblick besänftigt mich.Ich fühle eine große Schwere über mich kommen. Wie trunken kehre ich neben der nun leblosen Gestalt ein, nehme seine rechte Hand, die kurz zuvor noch eine Schnapsflasche umklammert hatte, und flüstere ihm zärtlich ins Ohr,Ruhe sanft. Ich bin ganz ruhig.Ich bin die Ruhe.Ich werde Schlaf finden. Zurück zur Übersichtsseite des Satzfischers Es regnet in New York von Andrea van der Velde, 55411 Bingen (Deutschand) New York. Manhatten. 200 qm Loft-Wohnung mit Blick auf Hudson River und Crysler Building. Weiße Wände, weiße Decke. Schiffsparkett, Buche mit dunklen Fugen. Sichtbare Stahlträger. An zwei Wänden Fensterfronten bis auf den Boden, die Profile aus Stahl. Mehrere verschieden große Leuchtelemente auf dem Boden – Kugeln aus weißem Muranoglas. Ein langer Tisch, ganz aus Buche mit kräftigen Beinen. Unregelmäßig angeordnet helle Stühle aus Loom-Geflecht mit dünnen Stahlbeinen. Auf dem Tisch ein Stapel großer, weißer Pasta-Teller, der umzufallen droht. Daneben Löffel und Gabeln, in ein weißes Leinentuch gewickelt. Am Kopfende ein Laptop. Über dem Tisch von der Zimmerdecke abgehängt lange Röhren aus satiniertem Glas. Sie spenden warmes Licht. In die Wände eingelassen quadratische Leuchten aus Glas und Chrom. Ein Sideboard mit Chromfüßen, einer Buchenplatte und Glasschiebetüren. Ohne Griffe. Teller und Gläser dahinter. Darauf ein blutrotes hohes Glasgefäß und eine lange, schmale Obstschale aus blauem Glas. Die Couchlandschaft ist straff mit schwarzem Leder bezogen, verschiedene Elemente im Bauhausstil teils mit, teils ohne Armlehnen. Daneben auf dem Boden quadratische Satinkissen in verschiedenen Weiß-Tönen. Mitten drin ein schmaler langer Tisch aus Glas. Darauf Zeitschriften und Kataloge, ein Silbertablett mit Flaschen und Gläsern. Im Raum verteilt mehrere hohe Bücherstabel. Irgendwo hängt ein CD-Wechsler, ein Tonband läuft. Van Morrison. Ganz leise. Die Glasschiebetür zur Küche steht einen Spalt auf und gibt den Blick auf drei Barhocker frei. Das Rot des Leders leuchtet, der Chromrand blinkt. Hinter der Tür kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt. Mitten im Raum liege ich auf einer weißen, kuscheligen Decke und schreibe in mein Tagebuch: Es regnet in New York. Zurück zur Übersichtsseite des Satzfischers Müde Liebesnacht von Tito Puente, 22929 Hamfelde (Deutschand) Mit und in ihm ruht mit trübem Blick erkannt mehr als die Wand
einer Nacht die ihn umgibt der Mann hat ausgeliebt
ist müde leer fast gibt es ihn nicht mehr
ist ein Schatten seiner selbst war einmal groß und nun - fast tot
er gab sich hin verströmte sich ein letztes Mal jetzt ist er müde
am Ende einer langen müden Liebesnacht Zurück zur Übersichtsseite des Satzfischers Die Aufsteiger von Georg Züger, 8303 Bassersdorf (Schweiz) Als wir weiter aufgestiegen waren, sagte Grossvater zu mir: Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Er nahm sein Fernglas von seinen Augen und reichte es mir rüber. Wie ein Mensch sieht das für mich nicht aus, eher wie ein Tier oder vielleicht eine steinerne Statue. Das letzte mal, als wir drüben waren, lag dort nichts woran ich mich noch erinnern könnte. Ich gab Grossvater das Fernglas zurück. Wir sahen uns Wortlos an und wussten zugleich, was wir zu tun hatten. Der Aufstieg bis hier hin war für ihn sehr beschwerlich gewesen. Letztes Jahr hatten wir diese Distanz in der halben Zeit geschafft. Sein Alter setzte ihm mit jedem Jahr mehr zu. Es wird der Tag kommen, an dem wir es nicht einmal mehr bis hierhin schaffen würden. Ich hatte ihm die ganze Zeit über versucht, dieses anstrengende Unterfangen auszureden, aber kein Argument konnte ihn überzeugen. Ich wusste nicht genau, wonach er hier oben suchte. Vermutlich nach alten Erinnerungen. Erinnerungen an seine verstorbene Frau. Letztes Jahr waren sie noch gemeinsam hier oben. Hatten mich besucht in meiner abgelegenen Ferienresidenz. Drei Wochen danach starb seine Frau. Herzversagen diagnostizierten die Ärzte. Überdosis Medikamente meinte Grossvater. Die letzen Meter musste ich ihn stützen. Jetzt brauchte er kein Fernglas mehr um zu erkennen, was sich vor dem Tor zur kleinen Hütte befand. Ein umgestürzter Baum versperrte den Zugang. Wieder sahen wir uns an. Nach dem Aufstieg standen uns jetzt auch noch Aufräumarbeiten bevor. Grossvater hatte sich seiner Jacke entledigt und begab sich zum Schuppen der weit neben der Hütte stand. Zurück kam er mit einer Axt und einer langen Säge. Er übergab mir die Säge und setzte zum ersten Schlag mit der Axt an. Eine Stunde später war der gestürzte Baum beseitigt, und wir konnten durch das schmale Tor zur Hütte gelangen. Diesmal war vom Alter meines Grossvaters nichts anzumerken. Im Gegenteil. Er war es, der im innern den Ofen einheizte und uns eine Suppe zubereitete. Mir taten die Arme weh und war froh, dass er noch über erstaunliche Energien verfügte. Energien, die von den Erinnerungen an seine Frau beflügelt worden sein mussten. Zurück zur Übersichtsseite des Satzfischers Singvogel, flieg! von Liese Bast, 59872 Meschede (Deutschand) Ich streifte die Pumps ab und nahm sie in die Hand. Wer auch immer das war, ich wollte nicht seine Aufmerksamkeit erregen. Vielleicht nur ein harmloser Penner, der die Nacht im Schutz vor dem Nieselregen verbrachte. Instinktiv hielt ich die Luft an, als ich an ihm vorbeischlich. Das Tor quietschte. Ich öffnete es nur einen Spalt, gerade weit genug, um mich vorsichtig hinein zu drängen. Im Haus brannte kein Licht. Die Kieselsteine schmerzten unter meinen Füßen. Der Schlüssel lag wie immer unter der Fußmatte.
"Hast du es bekommen?" Ich zuckte zusammen. Er stand direkt neben der Tür. "Nein, ich..." "Lass das Licht aus. Ich will nicht, dass man uns zusammen sieht." Ich atmete tief durch. Jetzt bloß keinen Fehler machen. "Es ist niemand gekommen. Die Übergabe ist geplatzt. Warum auch immer." Er antwortete nicht. Eine weiße Rauchwolke bewegte sich in meine Richtung. "Du warst also gar nicht da. Du weißt, was auf dem Spiel steht. Also stell dich nicht so dumm an." "Ich möchte aussteigen." "Ha, dafür ist es wohl zu spät." Er trat aus dem Schutz der Dunkelheit und drückte seine Kippe auf dem Fenstersims aus. "Ich rate dir, mach keinen Fehler. Du wirst da jetzt noch mal hingehen. Ich erwarte, dass es klappt. Heute noch." "Ich habe Angst. Was ist, wenn deine Kollegen davon Wind bekommen. Wir hätten nach dem ersten Mal aufhören sollen. Es wird zu gefährlich." "Diese Blindfische haben auch beim ersten Mal nicht bemerkt, dass ich das Zeug aus der Asservatenkammer genommen habe. Dieses eine Mal noch, und wir haben, was wir brauchen. Geh jetzt, sofort!" Ich eilte hinaus. Diesmal nahm ich keine Rücksicht auf das quietschende Tor. Der Penner saß unbeweglich an seinem Platz. Ich konnte keine Alkoholfahne oder den Muff seiner zerrissenen Klamotten wahrnehmen. Wie angewurzelt blieb ich stehen, als er sich plötzlich rührte und an seinen Hut tippte. "Es hat gereicht", flüsterte er. "Gehen Sie weiter. Wir greifen gleich ein." Ich brauchte keine Extraaufforderung, um diesen Ort zu verlassen. Ich rannte, immer noch auf Strümpfen, die Straße hinunter. Während ich lief, griff ich unter die Bluse und riss mir das Mikro vom Leib. Irgendwo hinter mir schlugen Autotüren. Schritte eilten über den Kieselsteinweg, die Haustür krachte aus der Verankerung. Ich rannte um mein Leben – mein neues Leben. Zurück zur Übersichtsseite des Satzfischers Hinweis: Für die Rechtschreibung und Zeichensetzung sind die Autoren selbst verantwortlich. Die Urheberrechte liegen beim jeweiligen Autor. |