Satzfischer - Das literarische Kreativprojekt des Literatur-Cafés in Zusammenarbeit mit dem S. Fischer Verlag
Hier lesen Sie die besten Beiträge der vierten Runde (März '02 - April '02), die unseren Autorinnen und Autoren zu einem Satz von J. M. Coetzee eingefallen sind. Der Satz stammt aus dem Roman »Warten auf die Barbaren«. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag. ISBN 3-10-010814-0. 19,90 EUR: Cover: Warten auf die Barbaren

Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat.

Glück, Glück, Glück
von Frank M. Finke, 44791 Bochum (Deutschand)

Dunkel ist die Nacht, eiskalt der Wind. Und doch ist mir diese feuchte Kälte lieber als die muffige Wärme meiner armseligen Behausung, deren düstere Enge mir sämtliche Energien raubt. Dann lieber frieren in der Freiheit der verkommenen Altstadt, die feuchten Nebel einatmen wie ein Erstickender. Nun, so weit ist es noch nicht, nur der Hunger zerrt an meinen Eingeweiden.

Auf der anderen Straßenseite klebt an einer eingefallenen Wand ein spärlich beleuchtetes Plakat. Mehr erahnend als erkennend nehme ich darauf Menschen wahr, die einander zuprosten: "Glück, Glück, Glück." Ich lächle ob der Torheit dieser Welt, die Glück anpreist wie eine Ware. Das eine Ende dieser Heilsverkündung flattert lose im Durchzug eines kleinen Tores; halb aus den Angeln gerissen ist es, verrottet: verdorben wie vieles in diesem Teil der Stadt.

Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Meine Neugier ist geweckt, und aus meinem tiefsten Inneren strebt irgendwo her ein Gefühl von Mitleid an die Oberfläche. Das ist nicht normal in diesem Teil der Welt, hier, wo es nur um's nackte Überleben geht. Nein, auch nicht für mich, der ich ein altruistischer Philanthrop sein will und es doch nur, wie unzählige Andere, zum zynischen Verächter gebracht habe.

Langsam, nein, eher bedächtig überquere ich die Straße; ich habe keine Eile - ich habe es nie eilig! Hätte ich alles so viel wie Zeit: dann hätte ich vielleicht auch Glück.

Starker Uringeruch weht mir entgegen, und ich muß nicht einmal meine Nase rümpfen: wer hier lebt, kennt die intimsten Odeurs des Elends; dessen Nase hat vielleicht Probleme mit Chanel. Je näher ich diesem Lumpenhaufen komme, um so reichhaltiger entfaltet sich das extravagante Bukett der Gosse, zu dem scharfen Urindunst gesellt sich noch das süßliche Aroma von Erbrochenem; und schließlich atme ich auch die Ausdünstung von altem Schweiß ein. Wahrlich, eine vollkommene Mischung.

Ich tippe dem Mann auf die Schulter. Nichts. Beginne ihn zu rütteln. Da kommt plötzlich Leben in diese Ausgeburt des Elends. Sie hebt den Kopf, starrt mich aus glasigen Augen an, aus der dunklen Höhle des Mundes schlägt mir das Aroma von Karies und Alkohol entgegen: perfekt, die perfide Synthese absoluter Aufgabe.

Und dann gleitet ein Lächeln über seine eingefallenen Wangen, er weist mit schmierigen Fingern auf das Plakat: "Glück, Glück, Glück."

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Morgen
von Andrea van der Velde, 55411 Bingen am Rhein (Deutschand)

Ich muß schlafen, Kraft sammeln, schön sein für morgen. Morgen treffe ich ihn. Zum ersten Mal. Seine Stimme, eine kraftvolle, tiefe Stimme. Seine Worte am Telefon: "Ich freu‘ mich auf dich". Er nennt mich Pünktchen, wegen meiner Sommersprossen.

8.00 Uhr
Der Wecker klingelt. Ich habe ein wenig geschlafen. Im Traum lag er neben mir. Ich habe mich fest in meine Decke gekuschelt und dabei seine Wärme gespürt. Wie er wohl duftet?

8.30 Uhr
Lavendel, Orange, Rosmarin. Zarter rosa Schaum auf dem duftenden Badewasser. Sinnlich. Kaffee, ein Croissant. Die Augen geschlossen. Was tut er gerade? Mein Herz pocht. Ich versuche, meine Gedanken zu ordnen, gehe den Zeitplan durch. Vier Stunden Fahrt, Tankpause. Um sieben treffen wir uns. Vor der Zitadelle. Ob ich ihn sofort erkenne?

10.00 Uhr
Jeans, T-Shirt, Sneakers, danach ist mir. Die neue Bluse packe ich ein, eine elegante Hose und High-Heels. Bald steht er mir gegenüber. Seine Augen. Braun. Ein sanfter, liebevoller Blick. Mein Herzschlag. Ein kräftiges Klopfen.

11.00 Uhr
Pünktlich fahre ich los. Die Route ist sorgfältig vorbereitet, das Auto vollgetankt, Öl und Wasser kontrolliert. Vincent von Don McLean läuft im Radio. Wie ich den Song liebe. Er auch. Wir haben den gleichen Musikgeschmack. Ich freue mich auf ihn.

16.00 Uhr
Pause. Nach dem Tanken ein Capuccino. Ich werde unruhig. Ein seltsam fremdes Gefühl kriecht in mir hoch. Mein Herz schlägt unregelmäßig. Irgendetwas drängt mich, sofort weiter zu fahren.

18.30 Uhr
Vollsperrung. Wirre Gedanken. Warum heute? Warum hier? Seit einer Stunde Funkloch. Gefangen.

19.30 Uhr
Kein Weiterkommen. Leere in meinem Kopf. Hilflosigkeit. Tränen. Ob er noch wartet? Treffpunkt vorm Tor. Es ist fast dunkel. Sicher versucht er, mich zu erreichen. Kein Empfang.

20.30 Uhr
Es rollt wieder. Mein Herzschlag. Ich spüre ihn nicht mehr. Der Magen zugeschnürt. Im Hals ein dicker Kloß. Tief durchatmen. Konzentrieren.

21.00 Uhr
Endlich ein Hinweisschild. Nächste Straße rechts. Die Zitadelle auf einem Hügel. Prachtvoll beleuchtet. Ich parke den Wagen, steige aus. Ruhig. Mein Herz schlägt leise und gleichmäßig. Hinter einer hohen Hecke der Grande Place. Menschenleer. Langsam gehe ich über den Platz zur Zitadelle. Ein paar kräftige Herzschläge, Holpern, Klopfen, dann lautes Pochen.
Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat.

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Der Fremde
von Heinrich Leschber, 25336 Elmshorn (Deutschand)

Ich bin vorher noch nie an diesem Ort gewesen und habe bis heute auch nicht viel von ihm gehört. Allerdings war mir die Umgebung, inder ich mich nun gerade befand, stets vertraut vorgekommen, so daß ich mich nicht fürchtete die Orientierung zu verlieren, denn es gab hier weder Buslinien noch eine Telefonzelle, mit der ich der ich ein Taxi hätte rufen können. Der nächste Bahnhof, war 20 km entfernt und da heute Feiertag ist, fiel der reguläre Fahrplan mit Sicherheit auch aus. Etwas entfernt vor mir war dieses Tor, welches aus eisernen Stäben geschmiedet worden war und scharfe Spitzen an den Enden hatte. Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Mein erster Gedanke war auf ihn oder sie zuzugehen, und mich zu erkundigen, ob es noch weit bis in den nächsten Nachbarort wäre. Schließlich hatte ich meiner Frau versprochen, sie rechtzeitig vom Tennistrainig abzuholen und zurzeit sah es leider nicht danach aus, als ob ich mein Versprechen halten könnte. Es blieb mir also keine andere Wahl, auf den schemenhaften Umriss zuzugehen und mich nach dem Weg zu erkundigen. Etwas unheimlich war die Situation schon, denn Orientierungslosigkeit und auf die Hilfe anderer angewiesen sein, verschafft mir immer wieder ein ungutes Gefühl. Allerdings lies mir die gegenwärtige Situation keine andere Möglichkeit und so ging ich die ca. 100 Meter auf die Person zu um mich nach dem rechten Weg zu erkundigen. Ich musste dazu die kleine, einspurige Landstrasse überqueren und durch das dahinterliegende feuchte Gras laufen. Gestern hat es hier aus Eimern gegossen und dies ist den Menschen hier in der Gegend sicherlich nicht gut bekommen, denn letztes Jahr waren immer wieder Meldungen von übergelaufenen Kellern aufgekommen. Nachdem ich nun durch die nassen Gräser gelaufen war, wurden die Umrisse, welche ich vorher einem Menschen zugeordnet hatte klarer. Es war eine Frau, die sich vor das eiserne Tor gesetzt hatte und teilnahmslos in die Gegend blickte. Sie sah nicht zu mir herüber und starrte nur geradeaus in die Landschaft. Leider bin ich nicht mehr dazugekommen, sie zu fragen, auf welchem Weg ich in die nächste Stadt kommen kann, denn kurz nachdem ich die Strasse überquert und durch die Wiese gelaufen bin, ist hinter mir ein LKW längs gefahren und hat mich mitgenommen. Normalerweise mache ich sowas nicht aber in dieser Lage, konnte ich nicht wählerisch sein.

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entGLEISung
von Narcissa, 3100 St. Pölten (Österreich)

Mir fröstelte. Ich weiß nicht, ob es die innere Kälte war, die mich schon seit Tagen schwächte. Oder ob es an der Jahreszeit lag. Es war noch dunkel. Ich schritt an der Gestalt, die am Boden lag, vorbei. Ein Obdachloser "Haben Sie vielleicht ein paar Cents?" Ja, hab ich. Die Bahnhofshalle war schon hell erleuchtet. Das Licht schien unwirklich. Die wenigen Menschen schienen unwirklich. Die Situation schien unwirklich. Meine Situation. "Eine Fahrkarte bitte". "Wohin wollen Sie denn?" "Weg." Schon lustig. "Weg" und "weg". Das "Weg" war klar. Der Weg das Ziel. "Was ist nun?" "Ähm, kein Geld." Raus. Raus. Raus. Was mache ich da eigentlich? Alles egal. Dieses schöne Gefühl wenn es von dem absoluten Chaos, der unüberwindbaren Angst und der Ratlosigkeit in diese aufputschende Gleichgültigkeit mündet. Doch die hatte ich um 4 in der Früh. Jetzt wo der Tag dämmerte erinnerte ich mich an meine Verpflichtungen. An die Unmöglichkeit alles hinter mir zu lassen. Da war sie wieder. Diese Angst im Nacken. Dieser fühlbare Schmerz. Ich fühlte mich gedemüdigt und geprügelt. Von mir selbst. Mechanisch stieg ich in den Bus, der in meine Wohnung zurückfährt. Mir ist kälter. Noch kälter als zuvor. 6:13. Um 8 muss ich in der Arbeit sein. Duschen. Frühstücken. Sich auf der Straße von Leuten anrempeln lassen. Alles Scheintote. Und morgen wieder Bahnhof? Vielleicht.

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Vampire, gibt's die?
von S.F.Vaclav, A-1030 Wien (Österreich)

Spielt mir die Dunkelheit Streiche? Wer ist der Mensch dort neben dem Tor? Ich sehe Augen aufglühen und ein eigentümlicher Geruch steigt in meine Nase, verstärkt sich. Nach verfaultem Fleisch stinkt es hier. Nicht, dass ich den Geruch von verfaulendem Fleisch kennen würde - aber so muss es sein, denke ich.
Ich beginne zu zittern; ich kann nichts dagegen tun. Ein Gemisch aller Gruselfilme, die ich je gesehen habe, zischt durch mein Hirn. Nein, Vampire gibt es nicht. Aber Menschen mit Augen, die in der Nacht glühen, auch nicht.
Was ich sehe, kann es nicht geben.
Was sehe ich? Wo ist das Geschöpf hin verschwunden? Die Stelle, an der es gekauert war, ist leer. Ich schüttle den Kopf, meine Schultern, versuche mich zu bewegen, aber ich wage es nicht, mich umzudrehen. Die Beklemmung lässt nur langsam nach. Ich mache einen tiefen Atemzug, bewege meine Arme, strecke mich und stoße an etwas Weiches.
Jäh schießt die Angst wieder hoch in mir. Beim Umdrehen fahre ich mit meinem rechten Arm in eine ausgestreckte Hand und Metallisches fällt laut klimpernd auf den Boden. Ein Bettler? Mir gleich. Ich renne. Nie wieder werde ich diese Abkürzung nehmen!
Wo bin ich hier? Ach ja, dort ist die Straße. Ich kann jetzt langsamer werden, glaube ich. Ich drehe mich um. Aber dort hinten ist der Kerl ja - und jetzt wird er langsamer, so wie ich. Mein Puls fängt an zu rasen. Was soll ich tun? Nein, Vampir ist er keiner, der wäre schon neben mir. Blödsinn, Vampir. Wie komme ich auf diese Idee? Wegen seiner roten Augen? Das war sicher ein Lichtreflex. Und wenn nicht, ist es jetzt auch egal. Was mache ich bloß?
Weiterlaufen, umdrehen. Er läuft auch. Hält genau den Abstand ein. Zorn mischt sich jetzt in meine Angst. Ich habe doch vor Jahren einen Selbstverteidigungs-Kurs gemacht. Ja, genau: Da ist die Straße, hier sind Leute, hier werde ich stehen bleiben. Mich breitbeinig hinstellen. Gegen e i n e n Kerl werde ich es doch schaffen?
Er steht auch. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass er näher kommt, aber er steht, so wie ich.
Er wird immer größer.
Ein kalter Lufthauch weht mir ins Gesicht. Die Zunge klebt an meinem Gaumen. Nein, Vampire gibt es nicht.
Wie macht der das?
Wieso habe ich kein Kreuz?
Seine Augen sind rot, sind tatsächlich rot.
Und da ist wieder dieser eigenartige Geruch.
Jetzt ist er schon fast bei mir, obwohl er steht. Steht er? Er hat diesen weiten Mantel -

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