| Hier lesen Sie die besten Beiträge der vierten Runde (März '02 - April '02), die unseren Autorinnen und Autoren zu einem Satz von J. M. Coetzee eingefallen sind. Der Satz stammt aus dem Roman »Warten auf die Barbaren«. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag. ISBN 3-10-010814-0. 19,90 EUR: |  | Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Tor zur weißen Welt von Leonie Sand, 86438 Kissing (Deutschand) Toms Hütte ist abgebrannt Wellblech über Lehm und Pisse
schwarze Kinder pantschen im Matsch und jagen geifernde Ratten
am Tor zur weißen Welt liegt Amado wie ein Hund im Staub
Wächter der weißen Villa mit Jeep und Bougainvillea an Stacheldraht
der Monatslohn kostet seinen Herrn soviel wie ein Blumenkübel Zurück zur Übersichtsseite des Satzfischers Der Bewacher von Markus Böning, 49610 Quakenbrück (Deutschand) Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Lange hält mein nach vorn gerichteter Blick der vom Himmel brennenden Sonne nicht stand, ich muss wieder gegen den Boden schauen, hinunter auf den Sand. Ich habe den richtigen Weg eingeschlagen, dort steht das Gehöft, einen halben Tagesmarsch von der Stadt entfernt, mitten in der Wüste. Nach wenigen Schritten schaue ich wieder nach vorne, der Mann hat seine Haltung nicht verändert, er sieht mich nicht kommen. Die Sonne steht fast senkrecht am Himmel, und die Wand gibt dem Mann kaum noch Schatten, mein Gesicht verbrennt in der Sonne, ich muss das Tor erreichen, den kühlen Hof zwischen den schützenden Mauern. Jeder Schritt fällt mir jetzt schwer, mein Ziel vor Augen frage ich mich, was mich hierher treibt, warum ich diese Qual auf mich nehme, und während der Sand unter meinen wunden Füßen brennt, verliere ich den Mut. Auch weiß ich nicht, wer der Mann am Tor ist, niemand hat mir zuvor von ihm erzählt, vielleicht nur ein vorbeiziehender Wanderer oder aber ein Bewacher. Auf den letzten Metern erwächst aus dem Sand ein ausgetretener Pfad, hier komme ich einfacher voran, ich gehe wieder schneller, stehe plötzlich vor dem Mann. Ich bleibe im Schatten unter dem Torbogen stehen. Der Mann schaut auf und sagt zu mir, ich würde erwartet, Fremder, sagt er, sie erwartet dich. Er sagt das ohne eine Betonung, seine tiefe Stimme haucht mir die arabischen Worte entgegen, er schaut dabei nicht auf, sein Gesicht kann ich nicht sehen. Langsam erhebt er sich, wendet sich von mir ab und geht den kurzen Pfad hinab, den ich gekommen bin. Ich schaue ihm nach, bald ist er nur noch der Umriss, den ich zuerst von ihm wahrgenommen hatte. Er geht in die Wüste hinaus, Sonne und Sand verschlucken ihn. Ich drehe mich um. Im Hof steht nur ein Gebäude aus Lehmziegeln und im Schatten der rechten Wand eine steinerne Bank, über die zwei Kleindungsstücke zum Trocknen hängen, zwei seidene Unterröcke mit einer Spitze, von deren Enden vereinzelt Wassertropfen auf den Boden fallen und sofort verdampfen. Keinen Laut höre ich, und ein schwarzes Tuch vor dem Eingang des Lehmgebäudes versperrt die Sicht ins Innere. Aus dem Schatten des Torbogens trete ich in den Hof, die Sonne blendet meine Augen. Vorsichtig schiebe ich das schwarze Tuch zur Seite und trete in einen kühlen Raum, Dunkelheit umschließt mich. Zurück zur Übersichtsseite des Satzfischers Die Erinnerung von Simone Schieß, 50677 Köln (Deutschand) Als mein Vater stirbt, bin ich vier Jahre alt. Die Erinnerungen an ihn verblaßen, und schließlich besitze ich nur noch einige alte Fotos, tausend mal betrachtet und doch seltsam fremd: er wirft seinen Hut in die Luft. Ich lache. Ein Picknick im Wald. Ich, strahlend. Auf meinem Lieblingsbild sitzt er an eine Wand gelehnt und schläft. Da ist er so alt wie ich jetzt. Ich beschließe, mich auf die Suche zu machen. Auf der langen Fahrt im Auto durchlaufen Hitzewellen meinen Körper; trotzdem zittere ich. Am späten Nachmittag erreiche ich das Dorf, aus dem mein Vater stammt. Es besteht nur aus wenigen Häusern, in deren Mitte sich eine Kirche erhebt. Die Gebäude sind einfach und doch von einer Würde, die sie aus ihrem jahrhunderte langen Bestehen ziehen. Sie werden durch große Berge geschützt; alles scheint zusammen zu gehören, die Häuser, die Berge und die Wälder. Ich steige aus. Nach kurzer Zeit habe ich die wenigen Sträßchen durchwandert, gehe an einigen älteren Leute vorbei, die meisten sind noch mit dem Kehren beschäftigt und haben mich, den Unbekannten, nur zögernd zurück gegrüßt. Jetzt stehe ich vor der Dorfkirche. Ich zaudere. Dann entschließe ich mich, den Gang über den angrenzenden Friedhof zu machen. Die Inschriften mahnen, daß der Krieg hier Opfer fand: Kinder zumeist, die die ersten Jahre vor Hunger und Krankheit nicht überlebt hatten. Schließlich stehe ich vor seinem Grab. Ich betrachte den verwitternden Stein und die Bodendecker, die über den Rand hinauswuchern. Dann lege ich den großen Strauß Herbstastern auf das Grab meines Vaters. Ich atme tief ein, sauge die Häuser und Bäume und Berge ein und plötzlich erinnere ich mich. Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Durch den Geruch der Wälder, des Dorfes und des Lehmes dringt der Duft des frisch gestärkten Hemdes meines Vaters. Ich laufe auf ihn zu, werde hoch in die Luft geworfen und wieder aufgefangen. Ich höre meine eigenen begeisterten Schreie durch die Bäume dringen. Dann blicke ich direkt in das Gesicht mit den dunklen lachenden Augen, der ein wenig krummen Nase und den viel zu großen Ohren unter dem schütteren Haar. Ich spüre den Mund des Vaters, der mich küsst, während sein Bart wie immer piekst. Es macht Freude, mit den Händen hindurchzufahren und die Stelle am Hals zu entdecken, an der die Haut schön glatt wird. Er wird nie wieder sterben. Zurück zur Übersichtsseite des Satzfischers ... und sie kreisten wie die Motten um das Licht ... von ZartBitter, 1050 Wien (Österreich) Es war auch schon spät. Sehr spät. Beinahe schon wieder früh. Nur das unwirkliche Licht einer Straßenlaterne entriss die Straße dem schützenden Mantel der Dunkelheit. Der Alkohol hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Sie waren noch jung, aber nicht mehr blutjung. Vielleicht ist an dem Spruch "Früher war in jeder Flasche Spaß und Party versteckt, heute nur noch in jeder fünfundzwanigsten" etwas Wahres dran. Sie betraten das Etablissement. Die Feier war in vollem Gange. Der Mensch, welcher sich als junger Pseudopunk entlarvte, war nur das Vorzeichen einer großartigen Nacht, die ihnen zweifellos bevorstand. Punk ist tot. Und mit ihm auch die Punks. Die Volksdroge Alkohol floss auch hier in Mengen. Ein geübter Blick verriet, wer da war um zu vergessen, und wer wirklich Spaß haben wollte. Laute Musik waberte aus den Boxen und schien sich wie der künstliche Nebel um ihre Körper zu hüllen. Ein Mädchen löste sich von der Gruppe ab. Hinten eröffnete eine Glaswand den Blick ins Freie. Straßenlaternen weisten den Weg. Sie zündete sich eine Zigarette an. Ihr Blick wanderte die Straße entlang, den Hügel hinauf. Das "Hügel hinab" ließ Spielraum für Gedanken, Phantasien, Träume und Hoffnungen. Die Bar. "Ein Cola-Rot bitte". Ein Schluck. Noch ein Schluck. Weg mit dem Glas. Weg mit dem Gruppenzwang. Einfach WEG. Wie einfach es war die Türe zu öffnen. Die frische Luft zu atmen. Ein Schritt vor den anderen. Den Hügel hinauf. Hinauf. Und vielleicht auch wieder hinunter. Zu den Phantasien, Träumen und Hoffnungen. Noch mehr "hinunter" war ohnehin kaum möglich. Zurück zur Übersichtsseite des Satzfischers Wahnsinn von Jürgen Heimlich, 1110 Wien (Österreich) Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Ich gehe auf die Gestalt zu. Umso näher ich ihr komme, umso mehr erfasst mich Grauen. Es ist mein Freund Zlatko, der sich nicht rührt. Bei ihm angekommen nehme ich ihm seine Baskenmütze ab. Auf seiner Stirn ist ein Einschußloch zu sehen. "Haben ihn die Glatzen also doch erwischt", denke ich mir. "Ich habe ihn davor gewarnt, sich zu weit vom Asylantenheim zu entfernen. Und jetzt ist er das dritte Opfer innerhalb von vier Tagen." Ich spüre einen Schlag auf den Kopf, und als ich aufwache, lächelt mir Mike entgegen. "Du altes Arschloch", sagt er. "So sieht man sich wieder. Wolltest uns wohl verpfeifen. Aber ohne mich. Du wirst liquidiert." Ich bin an Armen und Beinen gefesselt, und durch einen Knebel am Sprechen gehindert. Erst am nächsten Tag kommt ein mir unbekannter junger Mann, und gibt mir zu essen. Es dauert mehrere Wochen, in denen ich dahinvegetiere. Wie ein Tier werde ich gehalten. Ich kann mich immerhin frei in dem fensterlosen Keller bewegen. Ich bin abgemagert. Eines Nachts höre ich einen Schrei. Polizisten stürmen mein Quartier, und befreien mich. Meine Augen müssen sich erst an das Tageslicht gewöhnen. Mike liegt tot in der Küche. Carlo´s Kopf ist explodiert. Ich kotze in eine Ecke des Wohzimmers. "Es ist alles vorbei", tröstet mich ein Polizist. Drei Monate später brennt das Asylantenheim lichterloh, und viele Menschen sterben. Die Situation eskaliert. Und ich entschließe mich, Miriam zu heiraten, die der Flammenhölle entkam. Bald sind wir eine Kleinfamilie. Unser Kind wächst zweisprachig auf. Ich lege mich eines Nachts ins Bett, und meine Frau ist ganz kalt. Sie ist tot. Vergewaltigt und erstochen. Ich brülle meinen Schmerz hinaus. "Wann wird das endlich aufhören", frage ich mich. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mit meinem Sohn das Land zu verlassen. Wir leben ein halbwegs erträgliches Leben in einem zerstörten Land. Mein Heimatland vernichtet sich selbst. Ich erzähle Branko von der Zeit vor der Vernichtung. Wir schlafen wieder besser. Und träumen davon, dass wir wieder zurückkehren können in das Land des Schreckes, das zum Frieden zurückgefunden hat, um uns selbst wieder zu finden, und aus diesem Alptraum aufzuwachen, der Wirklichkeit geworden ist. Zurück zur Übersichtsseite des Satzfischers Hinweis: Für die Rechtschreibung und Zeichensetzung sind die Autoren selbst verantwortlich. 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