| Hier lesen Sie die besten Beiträge der vierten Runde (März '02 - April '02), die unseren Autorinnen und Autoren zu einem Satz von J. M. Coetzee eingefallen sind. Der Satz stammt aus dem Roman »Warten auf die Barbaren«. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag. ISBN 3-10-010814-0. 19,90 EUR: |  | Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Nacht in Welt Traum von Ruth Ettl, 1160 Wien (Österreich) Und auf einmal explodierte die Welt in ihrem Kopf. Brach aus ihr heraus und tief in sie ein. Sie schlug nur noch zu, wie eine Maschine. Über alle Widerstände hinweg entlud sich die Gewalt aus all den Rissen ihres Körpers. Ihr Körper war taub und schrie mit aller Kraft. Hörte nichts mehr anderes als ihr innerliches Gebrüll. Kein Geräusch von außen drang an sie heran. Nicht die zuerst von Haß erfüllten Worte, nicht das gedämpfte Winseln - später. Irgendwann ließ sie ab. Stürmte ohne Orientierung, nur fort. Sank irgendwo nieder und verlor das Bewußtsein. Kühler Wind streicht über mein Gesicht, das blendende Licht einer Straßenlaterne läßt dunkle Flecken vor meinen Augen tanzen. Mein Kopf schmerzt wie nach einem vernichtenden Rausch, der alle Sinne zu betäuben fähig ist. Langsam richte ich mich auf. An meinen Armen und Beinen ziehen sich dunkle Krusten von Blut entlang. Ich reibe mit meinen Händen fahrig darüber, doch sie geben keine Wunden frei. Mein gesamter Körper scheint zu pulsieren. Hastig setze ich einen Fuß vor den anderen, aber die Erschöpfung trägt vermeintliche Ewigkeit auf ihren Schultern und läßt mich immer wieder stolpern. Die Nacht hüllt die Straßen in Schweigen und hält die Menschen fern. Alles erscheint mir fremd hier und kalt. Doch dann richtet sich mein Blick auf ein halb verfallenes Haus, das mir auf seltsame Art und Weise vertraut erscheint. Zerbrochene Ziegelsteine liegen achtlos auf dem Gehsteig davor. Vorsichtig nähere ich mich dem von der Zeit so gezeichneten Gebäude, über dessen Tor ein verbeultes Schild schief herabhängt. Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Aus einiger Entfernung betrachte ich ihn, der Einsamkeit und den Grausamkeiten der Nacht im Freien ausgeliefert. Plötzlich durchzucken Bilder meinen Kopf, verzerrt und doch wie aus naher Vergangenheit, die sich gegen meinen Willen aus der Erinnerung emporkämpfen. Haß und Verzweiflung durchströmen mich, lösen mich aus meiner inneren Erstarrung. Ich trete näher und kann eine männliche Gestalt erkennen. Dunkle Schlieren säumen naß glänzend seinen in sich zusammen gekauerten Körper. Erschreckt weiche ich zurück, als ich bemerke, daß sich einer seiner Finger langsam aus der Verkrümmung löst. Benommen bücke ich mich nach einem Ziegelstein, umgreife ihn fest mit meiner Hand. Und dann schlage ich zu, mit aller Kraft - ein letztes Mal noch. Zurück zur Übersichtsseite des Satzfischers Ein Mann wie ein Baum von Heidi Hoppe, 21635 Jork (Deutschand) "Wo er nur bleibt?" flüstert sie vor sich hin und sieht mit zusammengekniffenen Augen auf ihre Armbanduhr. Die Brille hatte sie zu Hause gelassen. Sie war heute bei ihrer Kosmetikerin, hatte sich so richtig aufpeppen lassen mit Permanent-Make-up. Da störte die Brille nur. Auch ihr Outfit konnte sich sehen lassen. Allein für die Schuhe musste sie an die 200 € hinblättern. "Wenn bloß kein Bekannter hier vorbeikäme" dachte sie. "Ach und wenn schon. So erkennt mich sowieso keiner." Kerstin trug einen langen Rock. Ihre Schuhe waren recht unbequem. Hohe Absätze war sie nicht gewohnt. Ihr knappes Topp wurde durch eine zitronengelbe Regenjacke bedeckt. Das sah schon recht ungewöhnlich aus. Aber was tun? Es nieselte leise vor sich hin. Langsam wurde es schummerig. Kerstin tritt von einem Absatz auf den anderen. Sie freute sich auf die Hochzeit heut Abend. Beide fast dreißig. "Die Feier wird sicher der Wahnsinn! Sie werden es an nichts fehlen lassen." dachte sie sich. "Aber eine Garantie für eine glückliche Ehe? Bei Klaus und mir war auch alles vom Feinsten und dann… nach drei Jahren war Schluss…!" Kerstin knurrte der Magen, sie stellte sich das Buffet vor. "Einmal um die ganze Welt" hieß die Kreation. Kerstin blickt in Richtung des Eingangstores und bekommt einen Schreck. Immer wieder bleibt ihr Blick an der linken Mauer hängen. "Waren da Geräusche?" Sie sieht angestrengt den Gang entlang und erkennt dunkle Umrisse. "Mein Gott, wer ist das denn? Sieht ja ziemlich erbärmlich aus. Diese Körperhaltung . Ist sicherlich ein Obdachloser. Die stehen hier doch andauernd herum, aber eigentlich nur, wenn Führungen durch die Klosterruinen stattfinden. Hoffentlich kommt Peter bald. Ich könnte diesem Typen da ja meine Regenjacke zurücklassen. Und vom kalten Buffet bleibt sicher auch einiges übrig. Da werd ich ihm was einpacken. Geld, nein Geld geb ich ihm nicht. Die nächste Kornflasche wäre seine." Kerstin blickt erneut auf ihre Uhr, als sie Peters Stimme hört. Seine Schritte kommen näher. Er müsste gleich an dem Eingangstor vorbeikommen und… Kerstin sieht, wie Peter an der vermeintlichen Person stehen bleibt, sie packt, unter den Arm klemmt und auf Kerstin zukommt. Kerstin steht wie angewurzelt da. Ihr Herz klopft, als Peter lachend vor ihr steht. "Guck mal, ein ausgetrockneter Baumstamm. Sieht aus wie ein Kleiderständer. Wäre das nicht ein schönes Hochzeitsgeschenk?" "Tja, ein Mann wie ein Baum!" lachte Tina erleichtert. Zurück zur Übersichtsseite des Satzfischers Der Gaukler von Andreas Schieck, 09481 Scheibenberg (Deutschand) Es war ein warmer, sonniger Tag. Petra und Klaus hatten sich einen Tag frei genommen, um in die nahe Stadt bummeln zu gehen. Seit ungefähr einer Stunde schlenderten sie durch die Straßen, als ihnen eine Taube von Menschen auffiel, die lautstark jemandem unter dem geschwungenen Tor auf dem Markt zu jubelte. Zu sehen war niemand.
Als sie näher kamen, sahen sie fasziniert zu, wie ein Gaukler mit allerlei Tricks zufällig vorbei kommende Passanten unterhielt. Aus seiner großen Kiste zauberte er mehrere verschiedene Instrumente hervor, denen er allesamt lustige Melodien entlockte. Die Kinder und Erwachsenen durften sich etwas wünschen. Während er für die Kinder unter einem bunten Tüchlein etwas süßes hervorzauberte, gab er den Eltern guten Rat, wie sie sich selbst ihre Träume erfüllen konnten. An Vorschlägen, wie das Rauchen aufzugeben oder den Chef um eine Gehaltserhöhung bitten, mangelte es nicht. Jeder noch so kleine Beitrag wurde vom Publikum mit viel Applaus und Gelächter bedacht. Mit großer Eleganz ließ er seinen Hut durch die Reihen gehen. Jeder warf ein paar Münzen hinein.
Petra und Klaus gingen weiter. Als sie vor dem Theater standen, entschlossen sie sich, für den Abend Karten zu kaufen. Es war lange her, seit sie das letzte Mal hier waren. Im Theatercafe reservierten sie zwei Plätze nach der Vorstellung. Sie fuhren heim, um sich frisch zu machen und umzuziehen.
Berauscht vom Klang der Melodien ließen sie sich entspannt in einer Ecke nieder. Die Aufführung beflügelte ihre Gedanken. Flüsternd und einander zugewandt unterhielten sie sich. Am Nachbartisch prosteten sich zwei Künstler zu, die vor wenigen Minuten auf der Bühne gestanden hatten.
"Das war wieder eine beschissene Vorstellung", bemerkte einer der beiden. "Für das beschissene Gehalt sollst du dir hier die Kehle aus dem Leib singen", gab der andere zurück.
Nachdem Petra und Klaus ihren Wein ausgetrunken hatten, spazierten sie eine Weile planlos durch die nächtliche Stadt. Der seichte Wind trug von irgendwoher einen süßlichen Blütenduft heran. Sie überquerten den Markt als Petra plötzlich stehen blieb und in Richtung Tor wies.
"Was ist denn das?", fragte sie leise.
"Wenn ich meine Augen anstrenge, kann ich den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat", antwortete Klaus.
"Ist das nicht der Gaukler von heute Mittag?"
Schweigend gingen sie am Tor vorbei. Zurück zur Übersichtsseite des Satzfischers Begegnung von Volker Ruwwe, 40822 Mettmann (Deutschand) Karl wird siebzig, so stand es von Menschenhand geschrieben, brüchig, halb in einer Schrift, die so alt ist wie der Hintergrund, halb in einer Schrift die einen Willen zum Überleben Ausdruck verleiht. Ein Fahrrad, dessen Rahmennummer besser im dunkel der Laubbäume die gelb geworden, bleibt, wo es jetzt auch noch steht, beherbergt Besitztümer am Lenker zu beiden Seiten. Tüten der Gebrüder Aldi, die Ihren Groschen damit machten. Auf dem Gepäckträger die seltener gewordene Apfelsinenkiste, die hier nicht Understatement ist, sondern Safe. Keine Pfandware. Wie Karl der siebzig geworden, wenn der Wanderer der Schrift glauben darf, die an einem Unterstand in diesem unserem Lande geschrieben stand, aussieht ist schnell gesagt : Wie der uneheliche Sohn von Hans von der Lindens Schwester, die wiederum , die Schwägerin von Frees der Staapen ist, der widerwillig, jedoch gut gelaunt, mit Hans von der Hüsch verwand, jedoch nicht befreundet ist. Der ehemals in den fünfziger Jahren an einer Ziegelei beteiligte Kommanditist, dessen Ziel und Traum die Erreichung der nachbarschaftlichen Akzeptanz, sich durch die Geilheit seines, aus Freundschaft ernannten Prokuristen in Luft auflöste, wird siebzig. Ein Fahrrad mit besagten Tüten nennt er nun seines, und einen Titel beim Amtsgericht, ich möchte ihm gratulieren, doch er rührt sich nicht. Im Vollbesitz seiner Promille hütete Karl sein Fahrrad, über dessen Rahmennummer, die langsam welk werdenden Blätter der Buchen ihr diskretes Schweigen hüllen, Der freundliche Wanderer legt ihm seine Stulle zu Füßen und bedenkt an wieviel Scheunen und Torbögen Karl gelegen haben mag um so stolz zu sein, sich nicht zu rühren, nicht zu danken, sondern still und regungslos zu verweilen, angelehnt an den Unterstand . Ein Fahrrad ist jetzt einsam, verweigert die Aussage. Karl ist siebzig, so stand es mit kreide geschrieben. Ein Regen fällt, Kreide widersetzt sich nicht. Karl wurde siebzig. Amen- so sei Es. Zurück zur Übersichtsseite des Satzfischers Die Öffnung von Fortyfoot, A-4820 Bad Ischl (Österreich) Ist dies der Letztübriggebliebene, sind all die anderen, die hier Einlass gewährt haben wollten - entnervt, des Wartens überdrüssig - wieder abgezogen, zurückgeschreckt ob der unerfüllbaren Leere, die die lange Wartezeit verursachen würde, oder ist dies vielmehr der einzige, dem das Tor verschlossen, unüberwindbar, undurchdringbar blieb? Ob er gehört und abgelehnt oder ungehört und wartend dort kauert? Soll mich dieses Bild der ...Verzweiflung... abschrecken? Oder ist es nur ein Besoffener, der sich zufällig hier einfand, und der mit dem, was dieses Tor hinter seinem schweren Stahl verbirgt, gar nichts zu tun hat? Jeder Schritt, dem ich mich dem Tor nähere, lässt mich zweifeln. Soll ich - ich denke an die hinter mich gebrachten Strapazen, soll ich...? Der geistige Ruck, den ich mir gebe, wird von meinen Füssen empfangen, die mich grob über das Pflaster stolpern aber dennoch bestimmt und zielgerecht gegen das Tor hetzen, dass mir ob des eigenen Mutes das Atmen vergeht. Keuchend stemme ich mich gegen die Eiseskälte des Metalls, die Hände kleben kältebedingt am Eisen, meine ohnehin schwachen Augen versuchen das Schild, das weit über dem Tor im Halbschein einer entfernten Gassenlaterne geradeso mal erkennbar ist, zu entziffern, während ich meine Neugierde für die Person da rechts zu meinen Füssen zu unterdrücken versuche, aber doch stetig - und wie ich glaube, auch für sie merkbar - mich ihr hingebe und sie augenwinkelverdreht mehr anstarre, als mir lieb ist. Endlich kann ich aus den Buchstaben über mir Zusammenhang und Sinn zusammenknobeln und aus dem Dahingekauerten neben mir Geschlecht und Alter erahnen. Sie sieht mich an, der Schimmer ihrer Augen bahnt sich zwischen den hochgezogenen Aufschlägen ihres Mantels und der uns umgebenden Dunkelheit einen Weg direkt in mein Gehirn, von dort in die Hose; geträumte Hochzeitsglocken, lebenslanges Glück - ein sexuelles Erwachen und Verlangen sowie ein "bis dass der Tod uns scheidet" in Sekundenbruchteilen... Ich bin zu schwach, mein Vorhaben, Ziel, all das Hintermichgebrachte obsiegen zu lassen, schon als ich nur die Hand vom Eisen losriss - da fast angefroren - und zu ihr hinstreckte war die Verheissung, die Schild und Tor und das Dahinter versprachen, unwichtig und vergessen. Wortlos nahm sie meine Hand, ihr lebloser Frost liess mich erschauern, und die steile Gasse gemeinsam hinabwandernd lockte mich das Ungewisse, Weibliche, Unausweichliche. Unser Zusammensein wird endlich sein, aber das Tor bleibt. Geschlossen. Zurück zur Übersichtsseite des Satzfischers Hinweis: Für die Rechtschreibung und Zeichensetzung sind die Autoren selbst verantwortlich. Die Urheberrechte liegen beim jeweiligen Autor. |