Satzfischer - Das literarische Kreativprojekt des Literatur-Cafés in Zusammenarbeit mit dem S. Fischer Verlag
Hier lesen Sie die besten Beiträge der vierten Runde (März '02 - April '02), die unseren Autorinnen und Autoren zu einem Satz von J. M. Coetzee eingefallen sind. Der Satz stammt aus dem Roman »Warten auf die Barbaren«. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag. ISBN 3-10-010814-0. 19,90 EUR: Cover: Warten auf die Barbaren

Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat.

Die Brieftasche
von Wolfgang Sternbeck, 55237 Flonheim (Deutschand)

„Wo ist er hin?! Hat jemand einen kleinen, dicken Mann hier vorbeilaufen sehen?“
Die Umstehenden sehen mich verständnislos an. „Aber ich habe doch genau gesehen, dass er in diese Gasse eingebogen ist“, versuche ich es nochmals.
„Durch diese hohle Gasse muss er kommen“, höhnt ein hagerer Zeitgenosse. „Kam er aber nicht. Was ist denn eigentlich los?“
„Der Kerl hat mir meine Brieftasche gestohlen.“
Ich spähe in die Richtung, in die er verschwunden sein muss. Das Kopfsteinpflaster liegt verlassen vor mir. Nur diese fünf Männer, die mich eng umstehen und keine Anstalten machen, mich durchzulassen, sind zu sehen.
„He, Vorsicht“, warnt der Hagere drohend. „Sie wollen doch nicht im Ernst behaupten, dass einer aus unserem Viertel ein Dieb sei? Das lassen wir nicht auf uns sitzen!“
Seine Begleiter stimmen lautstark zu.
Verzweifelt versuche ich, an den Leuten vorbeizukommen, aber sie lassen mir keine Chance. Meine Barschaft, meine Ausweise, mein Flugticket – alles ist verschwunden.
„Armer Kerl“, sagt einer der Umstehenden mitfühlend.
Höre ich da einen spöttischen Unterton heraus?
„Was machen Sie denn nun?“ will ein anderer wissen. „Wenn wir Ihnen helfen können …“
„Lasst mich endlich durch“, unterbreche ich ihn gereizt.
„Aber sicher doch. Wie Sie wollen.“
Urplötzlich weicht der Hagere zur Seite, und auch die anderen treten einige Schritte zurück.

So schnell ich kann, renne ich weiter in die enge Gasse hinein, verfolgt von höhnischem Gelächter. Schon nach wenigen Metern bleibe ich wieder stehen und starre auf das große Gebäude am Ende der Gasse, das kein Weiterkommen zuläßt.
‚Eine Sackgasse!’ schießt es mir durch den Kopf. Neue Hoffnung keimt auf. ‚Dann könnte er ja…’
Langsam gehe ich weiter vor und sehe ein großes dunkles Tor. Es ist geschlossen, doch neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Vorsichtig nähere ich mich der Gestalt, und dann entringt sich mir ein Schrei der Erleichterung.
„Hab ich dich, du Halunke!“
Mit zwei, drei großen Schritten bin ich bei ihm und fasse ihn an die Schulter. Da gerät der Körper in Bewegung, fällt langsam zur Seite – und dann sehe ich die Klinge, die aus seinem Rücken ragt. Noch bevor ich mich von meinem Schrecken erholen kann, höre ich die gellende Stimme des Hageren:
„He, er hat Billy umgebracht! Lasst den Burschen nicht entkommen!“

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Einfahrt freihalten
von Andrea Heinisch-Glück, A-1020 Wien (Österreich)

Er hat geblinzelt und mir einen Blick zugeworfen. Eindeutig. Direkt gefühlt habe ich es, wie seine Wimpern mich berührten. Einen Moment lang. Habe ich mir das vorgestellt. Ich warte weiter. Hinter meinen Augen, weil ich sie schon lange nicht mehr öffnen muss, um ihn da drüben sitzen zu sehen. Weil ich ihn seit Jahr und Tag da drüben sitzen sehe. Nur mit Mühe löste ich seinerzeit seine Umrisse aus der Hausmauer, aber jetzt ist er nicht mehr zu übersehen. Mir gegenüber an die Hausmauer gelehnt, neben sich ein großes Tor, auf das Tor ein Schild genagelt: "Einfahrt freihalten". Er ist keiner von den Freigeistern, die sich einen Dreck um die anderen scheren, denke ich und erlaube mir einen Anflug von Sympathie. Er ist einer mit Sinn für die Sozietät: man müsste ihn nicht erst beiseite schaffen, um das Tor passieren zu können. Allerdings will das sowieso keiner, genau genommen habe ich, seit ich hier sitze, überhaupt niemanden außer dem Fremden von gegenüber gesehen. Sind es Tage? Wochen? Jahre? Könnte es sein, dass er im Lauf der Zeit ein Stück zusammengesunken ist? Wenn Veränderungen langsam genug stattfinden, merkt sie niemand, und plötzlich ist doch alles ganz anders. Ist es Frühling geworden zum Beispiel. Oder ist es der Tod. Ob er mir weggestorben ist? So unmerklich, dass es mir gar nicht auffallen konnte? Keine Chance hatte ich und das von Anfang an? Ich möchte mich strecken. Die kauernde Haltung tut mir nicht gut, meine Nackenmuskeln schmerzen, mein Kreuz ist vollkommen verzogen, durch den Hosenboden steigt mir die Feuchtigkeit in die Glieder. Kalt. Wenn er wirklich tot ist, womöglich schon tot war, als ich hier her kam? Wenn ich all die Tage, Wochen, Jahre völlig sinnlos hier verbracht hätte? Dieser schreckliche Verdacht bringt mein Blut in Bewegung. Was heißt Bewegung! Mit Höllentempo rast es in mir herum. Ich bekomme einen Hitzkopf und einen Hitzkörper, ich springe auf. Möchte hinüberlaufen und den Kerl an den Schultern packen und durchschütteln, ihm einen Fußtritt verpassen, dass es ihn vor das Tor wirft. Direkt unter das Schild "Einfahrt freihalten" werde ich ihn treten. Werde ich ihn aber nicht treten, weil er zu Staub zerfallen wird, sowie ich ihn auch nur scharf anschaue. So wird es nämlich sein. Es gibt Dinge, die weiß ich einfach, schließlich hatte ich genug Zeit zum Nachdenken. Die ganzen Tage, Wochen, Jahre. Der Hitzeschauer lässt nach, mich fröstelt. Ich lasse mich wieder zusammensinken. Ich muss erst einmal wieder zur Ruhe kommen.

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Kreuz
von Ina Sommer, 91054 Erlangen (Deutschand)

Ihr Kleid ist eine Wucht. Sie zwinkert mir mit ihrem haselnussbraunem Auge zu, wirft neckisch ihren bleichen Hals zurück. Ein Fuß vor den anderen, schnelle Bewegungen ihrer Schuhe im Takt auf dem erbärmlich knarrenden Parkettboden. Ich
darf ihr heute zuschauen, in meinem Kalender ein dickes rotes Kreuz, ich, Michel Mürgser, hier bei ihr.

Es ist auf eine kühle Weise kalt. Die Straßenlampen sind so verschmutzt, dass nur ein leichtes Leuchten die vollkommene Dunkelheit stört. Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Er sieht mich nicht.

Das Kleid ist zuckerrot. Ich merke nicht, dass ihre zarten Füße sich nicht mehr bewegen, sehe aber den wehmütigen Blick, mit dem sie aus dem Zimmer schweift, bis er dem sehnsüchtigen Blick eines Oberschülers auf der Straße begegnet. Ihr Mund öffnet sich, sie sagt: „Tschö, Michel, ich melde mich wieder.“ Beim Rausgehen sehe ich in ihrem Mülleimer meinen letzten Brief an sie, zerknittert, erniedrigt.

Ich denke an den Abschiedsbrief im Briefkasten an der Ecke. Ich beauftragte sie, mir wenigstens Rosen am Grab niederzulegen. Nun stehe ich hier, das Geländer wackelt, ich traue mich nicht, darüberzusteigen. Das Geländer bricht, krachend schlägt die morsche Eisenstange am Boden auf.

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Späte Begegnungen
von Philipp Bouscher, 57399 Kirchhunden (Deutschand)

‚Es ist spät und ich warte einsam,trotzdem ich mich keinen Illusionen hingebe,daß noch etwas passieren könnte.Neben dem Tor kann ich,wenn ich die Augen anstrenge,den dunklen Umriss eines Menschen erkennen,der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat.Jetzt scheint es,als starre mich die Gestalt aus finsteren Augen an.
Ich lächle selbstsicher zum Zeichen meiner Furchtlosigkeit.
Die Gestalt fletscht die Zähne zu einem verzerrten Grinsen.
Ich zünde mir eine Zigarette an.
Als ich aufblicke,sehe ich auch mein Gegenüber rauchen.
Ich lege zwei Finger an meine Schläfe zu einem lässigen Gruß,der mir von dem Anderen geradewegs erwidert wird.
Ich fühle alles Blut aus meinem Gesicht weichen,als ich mich,entschlossen die direkte Konfrontation zu suchen,erhebe.Mein Herz schlägt schmerzhaft,als ich,die ersten Schritte tuend,gewahr werde,daß sich auch der Fremde erhoben hat und auf mich zuk...
Nein,er kommt ja gar nicht auf mich zu,ich bin es ja selbst,der mich da,in der gläsernen Fassade einer Bank gespiegelt,mit seinem Schauspiel so sehr befremdete.
Ich Lache laut auf und zucke im selben Moment,mich wild umschauend,herum...Wer hat da noch gelacht?Dann versuche ich mich zu beruhigen und kauere mich wieder an die Wand neben dem Tor.‘
"Gut,da sind wir schon,wir können ganz beruhigt sein."
"Neben dem Tor kann ich,wenn ich die Augen anstrenge,den dunklen Umriß eines Menschen erkennen,der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat."
"Tust du das denn auch?"
"Was?"
"Die Augen anstrengen."
"Ja, ja."
"Dann laß es und schau nur hin,dort liegt jemand neben unserem Tor an der Wand."
"Ja,aber das sage ich doch.Ist es denn unser Tor?"
"Ja,freilich."
"Ob es unser alter Bekannter ist?"
"Nein,der liegt immer hinter dem Tor."
"Vielleicht heute nicht."
"Er ist es nicht."
"Gut,geh leise,wir werden ihm schon beikommen,wer auch immer es sein mag."
Sie schleichen sich gebückt an die reglose Gestalt an und postieren sich links und rechts von ihr.Sie gehen beide in die Hocke und beginnen auf ein Zeichen aus voller Lunge an zu brüllen.Die Gestalt schreckt hoch,beginnt ihrerseits zu schreien und macht sich dann aus dem Staub.Die beiden verschwinden zufrieden oder schadenfroh lächelnd durch das Tor.
"Siehst du,da liegt der alte Bekannte."
"Ja,jetzt hat er ihn aufgeweckt mit seinem Geschrei."
"Na,das wird schon wieder...dieser dreiste Kerl,beim nächsten Mal wir er nicht so einfach davon kommen."

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Treff mit Paule
von Rosemarie C. Barth, 39120 Magdeburg (Deutschand)

Der goldene Sonnenball vor Misdroy tauchte ins Meer hinab. Oben auf der Steilküste konnte ich ihn sehen. Stundenlang waren wir durch den Nationalpark Wolin gewandert. Es dämmerte schon. Wir mußten zurück. Wie froh war ich, als mein Heinz aus dem Gebüsch auftauchte. Er wußte, wie wir zügig zum Ostsee-Hotel zurück kämen. Die Steilküste hinunter – das klappte jedenfalls nicht.
Nun war es stockfinster. Der Park war nur spärlich beleuchtet. Plötzlich entdeckte ich etwas Dunkles, es sah aus wie ein zusammengerollter Mensch, oder - als ob da einer sitzt. Angelehnt an ein Tor vielleicht? Ich strengte meine Augen an und dachte, klar - es muß ein Mensch sein. Hat sich hier jemand verlaufen, oder ist ihm übel geworden, warum hockte er sonst da? Vorsichtig schmiegte ich mich an meinen Mann und wir schlichen näher. Er knipste seine Taschenlampe an und ... Oh Gott, es war kein Mensch! Ich hätte schwören können, ein Mann von starker Statur hat sich verirrt und war eingeschlafen. Im Lichtkegel sahen wir ein Tier, das – innen am Maschendrahtzaun und teils an den Pfosten geleht – reglos da hockte. Was mochte das sein? Heinz leuchtete die Gegend ab. Dann entdeckte er eine Tafel, auf der stand: "Wisentreservat". Huch, ein Wisent, ein Paule!" schrie ich. Selbst fremden Tieren Namen zu geben, die Angewohnheit habe ich schon immer. "He, Paule, was machst du?" johlte ich verzückt.
"Mach nicht solchen Krach. Wer weiß, was sonst passiert!" Heinz zog mich sanft zurück, denn wir mußten endlich den Ausgang finden.
"Laß uns den Weg rechts runter laufen, morgen schaun wir im Hellen nach deinem Paule, okay?" Schon klar, mein Heinz hatte recht.
"Tschüß Paule, bis morgen, da aber guck‘ ich dich genauer an!" rief ich dem unbeweglichen Wisent zu. Dann machten wir uns flink auf den Weg zum Strandhotel.
Gleich nach dem Frühstück hakte ich Heinz unter und auf gings zum "Wisentreservat". Die Strecke war als ein neun Kilometer Wanderweg ausgezeichnet. Wir liefen straff durch. Schließlich hatte ich es Paule versprochen. Ja, und da staunten wir nicht schlecht. Vor uns hatten sich fünf Wisente aufgereiht, zwei kleine und drei sehr korpulente. "Paule, hallo Paule..." kreischte ich, übertrieben wie immer. Doch nicht eines der Wisente nahm Notiz von mir. So sehr ich sie auch lockte - ich habe nie erfahren, wer von den fünf Exoten des Woliner Nationalparks mein Paule war. Derweil hatte ich Paule am Abend zuvor sogar für einen zusammengerollten Menschen gehalten...

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