| Hier lesen Sie die besten Beiträge der vierten Runde (März '02 - April '02), die unseren Autorinnen und Autoren zu einem Satz von J. M. Coetzee eingefallen sind. Der Satz stammt aus dem Roman »Warten auf die Barbaren«. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag. ISBN 3-10-010814-0. 19,90 EUR: |  | Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Sitzenbleiber von Malte Bremer, 78056 VS.Schwenningen (Deutschand) Selbstverständlich kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, neben dem Tor den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Aber warum sollte ich das? Ich meine: Augen anstrengen? Natürlich sitzt da ein Mensch, was denn sonst? Gegenüber sitzt einer, daneben wieder andere, zwei Straßen weiter sitzen einige ganz genau so, an die Wand gelehnt, da brauche ich meine Augen nicht einmal anstrengen, die könnte ich eh nicht sehen! Jede Straße, die ganze Stadt ist voll von Menschen, die an eine Wand gelehnt sitzen. Der dort drüben könnte genau so gut seine Augen anstrengen: dann würde er mich hier sitzen sehen, an die Wand gelehnt. Und garantiert würde er nicht zu mir kommen, der ist doch nicht blöde! Wozu denn auch? Mir geht es prächtig! Ich habe einen Platz zum Sitzen, eine Wand zum Anlehnen, und wenn es dunkel wird, kann ich mich zum Schlafen zusammenrollen. Was will der Mensch mehr? Wie? Was sagen Sie? Essen? Ach hören Sie doch auf mit diesem Blödsinn, Sie wissen doch selbst am besten, dass es schon seit Monaten nichts mehr zum Essen gibt! Oder haben Sie in letzter Zeit etwa so etwas wie Nahrung - Na also! Was soll der Scheiß? Wollen Sie mich vielleicht ärgern? Das schaffen Sie nicht, das habe ich auch hinter mir! Vermutlich sind bloß neidisch, weil Sie noch keinen Sitzplatz haben, und versuchen es mit der Mitleidstour. Aber ich werde nicht aufstehen, ich - ach - Sie haben einen? Sie: jetzt ist der aber bestimmt weg, wenn Sie schon so dumm gewesen sind aufzustehen, da können Sie dann sehen, wo sie heute Nacht bleiben, wo sie einen Schlafplatz - was? Schon seit Wochen nicht? Ist das Ihr Ernst? Wirklich? Ist ja irre! Ne, also daran könnte ich mich nie gewöhnen: manchmal träume ich nämlich, echt, von weichen Straßen und weichen Wänden - da sitzt und lehnt es sich gleich viel bequemer! Trotzdem, nichts für ungut: aber ich, ich werde nicht aufstehen. Zurück zur Übersichtsseite des Satzfischers Der Mann in meinem Bauch von Tiger im Park, 47506 Neukirchen-Vluyn (Deutschand) Ich kenne ihn schon lange. Er lebt in meinem Bauch. Morgens klopft er an meine Magenwand. Und abends zieht er die Luft ein, dass es mir das Herz wegreißt. Das ist die schlimmste Zeit. Denn ohne Herz zu sein, ist gar nicht so einfach wie man vielleicht glaubt. Man hält sich die Hand auf das Loch, läuft im Kreis und könnte schier verrückt werden davon. Ich geh dann oft hinaus, laufe über die dunklen Gassen und Straßen, steh auf den Plätzen, und finde doch keine Ruhe. Dann sehe ich ihn oft sitzen, an die Mauer gelehnt, das Innere hat sich nach außen gekehrt. Ich würde dann gern zu ihm gehen, ihn berühren, ihn fragen, ob es denn keine Möglichkeit gibt. Aber ich finde seine Sprache nicht. Er ist immer stumm. Ich habe es schon mit Zeichensprache versucht, mit Bildchen, ihm auch Wörter in den Staub gemalt. Mit einem Stöckchen, mit einem Pinsel, und auch mit dem Finger. Doch sein Blick verrät nichts. Wie ein grauer Schatten sitzt er an der Wand, den Kopf ein wenig geneigt. Regungslos. Nicht sprachlos, nicht starr, aber eben doch ohne etwas zu sagen, ohne zu antworten. Zurück zur Übersichtsseite des Satzfischers Gestaltungsvoller Umriss (ein Abriss) von Thomas Reichmuth, 3186 Düdingen (Schweiz) Pulsierendes Rot durchzuckend als Äderchen gebannt die im schattigen Dort suchend schemiges ertasten, finden -Zeit entspannt- den Durchgang als Eingang in die andere Welt, daneben einen dunklen Umriss, gestaltungsvoll. Zurück zur Übersichtsseite des Satzfischers Nabucco von Rosmarie Schumacher, 53518 Wimbach (Deutschand) Im Amphitheater Veronas, "Arena" genannt hatten wir einen guten Platz ergattert. Ich war so begierig auf die Oper Nabucco von Giuseppe Verdi, dass ich sogar versucht hätte, auf dem Schwarzmarkt Tickets zu erhalten, wenn Mark nicht welche besorgt hätte. Die Atmosphäre war einfach überwältigend. In der ellipsenförmigen Arena, das heißt, das innere, ausgehobene Oval im Zentrum des Rundbaus, wo einst der Kampfplatz der Gladiatoren lag, befinden sich die teuersten Plätze. Davor angeordnet erhebt sich die überdemenzzonale Bühne. Während der Aufführung verstummt die Menge, nur die kräftigen Stimmen der Sänger dringen durch die Arena. Es ist stockdunkel, nur die Bühne ist mit schummrigen Leuchten erhellt Im Tempel des Salomon beweinen Hebräer und Leviten das Schicksal des Volkes Israel. Gleich ganz links sehe ich, wie weitere Akteure durch ein Tor die bedrohlich wirkende Kulisse betreten. Unwirklich bewegen sich angekettete zerlumpte, ausgemergelte Gestalten in der Kulisse. Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Als er dann den bewegende Gesang der gefangenen Hebräer, die zur Arbeit gezwungen werden beginnt und der Chor die "schöne und verlorene Heimat" beweint und Gottes Hilfe erbittet geht mir ein Schauer nach dem anderen über meinen Körper. Die Pausen verbringen wir damit, unter den zahlreichen Besuchern umherzuwandern und immer wieder ein Schluck aus dem Sektglas zu nehmen. Als am Schluss Nabucco erschütternd und lautstark, zusammen mit dem Volk Israels die wieder gewonnene Freiheit preist, kann man eine Stecknadel fallen hören. Während der brausende Beifall und Rufe nach dem Gefangenenchor die Arena erzittert, trockne ich mir verschämt mit dem Taschentuch die Tränen aus den Augen. Ich versuche so zu tun, als wäre ich nicht schmerzlich berührt. Und doch haben Mark und ich kein einziges Wort bis in Hotel gesprochen. Zurück zur Übersichtsseite des Satzfischers Nicaragua von Martin Timm, 20257 Hamburg (Deutschand) In der Hütte war es kühl und dunkel. Nur durch die Tür drang Sonnenlicht ein. Der Kontrast war unverschämt, bösartig und schneidend. Drausen das gleißende Sonnenlicht - wie flüssiges Gold, das einem unter den Schmerzen des Todes in den Rachen gegossen wird. Ich versuchte mich an den Namen des Herrschers zu erinnern, dem die Römer seinen Reichtum die Kehle herunter rinnen ließen. Es gelang mir trotz einiger Anstrengung nicht. Etwas 300 Meter von der Hütte entfernt begann der Urwald, dazwischen lag das Feld, das wir zu bestellen hatten. Es war windstill an diesem Tag und die stehende Luft lastete wie ein Alpdruck auf uns. Die Schüsse fielen ohne Warnung wie ein Schwarm Hornissen auf die Jungen und Mädchen im Feld. Tack-Tack-Tack. "Hinlegen! Legt Euch in die Furchen!" rief ich von der Hütte. Aber statt sich in Sicherheit zu bringen, drehten sie sich zu mir um. Tack-Tack-Tack. Wie in Slow-Motion fielen sie um. Einige schrieen. Dann war es still. Ich griff die Maschinenpistole, eine alte Kalischnikow und legte den Hebel um. Dann schoß ich in den Urwald. Das AK47 erzeugte ein Geräusch, daß den Öffnen von Flaschen glich. Viel lauter natürlich. Ich schoß das Magazin leer und das andere, das mit Klebestreifen neben dem eingeklinkten befestigt war ebenfalls. Dann wartete ich einige Zeit ängstlich, ob sich noch etwas rühren würde. Ich erwartete, daß die Contras aus dem Urwald hinaustreten und zur Hütte kommen würden. Aber niemand kam.
Ich trat durch die Schattenscheide der Tür hinaus und gab mir keine Mühe nach Deckung zu suchen. "Wenn sie noch da sind", sagte ich mir, "werden sie dich in jedem Falle erwischen". Als ersten fand ich den Schweizer. Eine Kugel war von hinten in seinen Kopf eingedrungen und infolgedessen war dort, wo vorher sein Gesicht gewesen war ein blutiges Nichts durch das man das Innere seines Schädels erkennen konnte. Auch die schöne Natalie war tot. Wir hatten sie immer so genannt, weil alle der Meinung waren, sie sähe in der Arbeitskleidung so aus, wie Revolutionärinnen in alten Filmen aus der Sovietunion. Sie war auch im Tode noch schön. Ihre Augen waren geschlossen und das blonde Haar hatte sich in leichten Wellen über ihre Schultern gelegt. Jetzt war mir ihre Schönheit widerlich. Ich ging über's Feld und betrachtete die Ernte der Mörder. Niemand außer mir war auf der Seite der Lebenden verblieben. So ging ich zurück zur Hütte, trat erneut in den Schatten, rief das örtliche Sandinista-Commando. In der Tür der Hütte wartete ich auf sie. Zurück zur Übersichtsseite des Satzfischers Hinweis: Für die Rechtschreibung und Zeichensetzung sind die Autoren selbst verantwortlich. Die Urheberrechte liegen beim jeweiligen Autor. |