Satzfischer - Das literarische Kreativprojekt des Literatur-Cafés in Zusammenarbeit mit dem S. Fischer Verlag
Hier lesen Sie die besten Beiträge der zweiten Runde (Jan '02 - Feb '02), die unseren Autorinnen und Autoren zu einem Satz von Stefan Zweig eingefallen sind. Der Satz stammt aus der Erzählung »Brennendes Geheimnis«. Fischer Taschenbuch 9311. ISBN 3-596-29311-1. 6,90 EUR: Cover: Brennendes Geheimnis

Schon war alles in furchtbarster Aufregung und voll gefährlicher Vermutungen, als ein Herr die Nachricht brachte, er habe das Kind gegen drei Uhr am Bahnschalter gesehen.

Kommunikation
von angie, 70180 Stuttgart (Deutschand)

Aus dem Arbeitszimmer rief er: "Hast Du schon gehört - hier kannst Du eine Geschichte schreiben!" "Wie? Was? Eine Geschichte? Ich spüle gerade Geschirr!" "Ja, eine Geschichte zu einem vorgegebenen Satz." Sie schüttelt den Kopf - Flausen hat er im Kopf - und sie macht den Haushalt. "Wieso schreibst Du nicht selbst eine Geschichte. Überhaupt, was soll das denn für ein Satz sein?" "Ach, irgendwas mit furchtbarster Aufregung und gefährlicher Vermutung und einem Kind, das am Bahnschalter gesehen wurde, um drei Uhr!" "Ein Kind, das in furchtbarster Aufregung am Bahnschalter gefährliche Vermutungen anstellt? So ein Schwachsinn!" "Nein, nein, Du hörst mir nicht richtig zu!" "Wieso höre ich schon wieder nicht richtig zu? Das hast Du doch eben gesagt! Als gestern meine Mutter da war, hast Du Dich auch schrecklich daneben benommen. Und jetzt soll ich krause Geschichten schreiben!" "Wieso ist Deine Mutter auch andauernd bei uns, das kann einem schon die Laune verderben." "Mist, jetzt habe ich ich mich an dem Glas geschnitten, holst Du mir mal ein Pflaster?" "Aber ich sagte Dir doch, daß es um eine Geschichte geht und nicht um einen Laster! Einfälle hast Du!" "Blödmann, ich brauch' ein Pflaster! Wer hört hier wem nie zu?" Er steht auf, holt den Verbandskasten und verbindet ihren Finger. "Ich dachte ja nur, weil Du so gerne Geschichten erfindest, es würde Dir Spaß machen." "Ich? Erfinde Geschichten? Dazu habe ich keine Zeit. Einer muß ja schließlich die niedrigen Arbeiten verrichten und nicht mit dem Kopf in den Wolken leben." "Dann laß es eben bleiben, war ja nur so eine Idee!"

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verlorener sohn
von Sven Klöpping, 60386 Frankfurt (Deutschand)

zwanzig jahre später,
auf einem bahnhof in turin.

ein vergilbtes, vergessenes blatt
hängt irgendwo zwischen gazetti und gelati.

"hat jemand dieses kind gesehen?"
steht darauf.

und darunter:
"si, madre."

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Das Heil eines Einzelnen
von Günther Mulder, 65197 Wiesbaden (Deutschand)

Schon war alles in furchtbarster Aufregung und voll gefährlicher Vermutung, als ein Herr die Nachricht brachte, er habe das Kind gegen drei Uhr am Bahnschalter gesehen. Warum er das jetzt erst sage, wurde er von den Umstehenden bestürmt. Die Mutter aber schaute ihn nur stumm an, als dieser achselzuckend sich ebenso unvermittelt davon machte, wie er aufgetaucht war. Flüsternd ließ sie ihre Nachbarin, die ihr den ganzen schrecklichen Nachmittag schon zur Seite gestanden hatte, wissen, dass man einem Juden kaum trauen könne in solchen Dingen, man dem aber der Juden Verschlagenheit halber nachgehen müsse - und jüdisch habe er ausgesehen, oder etwa nicht? Beipflichtend wandte sich die Nachbarin sogleich an die Umstehenden und setzte damit den Tross in Richtung des Bahnhofs in Bewegung. Die Mutter ließ sich in der kleinen Menge mittreiben und überhörte dabei die keckernden Bemerkungen über ihren Sohn, den es wohl in die große, weite Welt ziehe, und der sich überhaupt zu höherem berufen fühle. Künstler wolle er ja werden, Kunstmaler! Der Bahnhof geriet bereits in Sicht, als die ersten Hinweise laut wurden, der Zug werde den Bahnhof in wenigen Minuten in Richtung Wien verlassen. Tatsächlich war der Zug bereits zu sehen und der Dampf der noch ruhenden Lokomotive kündete von der nahen Abfahrt. Der Tross verfiel daraufhin in Eile, was ihn nicht schneller voran brachte. Als sich alle mühten, zugleich durch die Schwingtüren die Schalterhalle zu betreten, klappten am Bahnsteig bereits die letzten Abteiltüren zu. In der leeren Schalterhalle war der Bub nirgends zu sehen. So eilte alles hinaus auf den Bahnsteig, was der Schaffner, der eben das Signal zur Abfahrt geben wollte, mit erstauntem Blick quittierte. Den Namen des Jungen rufend liefen alle den Zug entlang, immerzu hüpfend, um einen Blick in die Abteile zu erhaschen, als der Schrei "Frau Hitler, da is' er!" über den Bahnsteig gellte. Alle Augen richteten sich nach vorne, wo ein wohlgekleideter Mann den Jungen aus dem Wagen zerrte. Flugs war er umringt und das Kind seinem Griff entrungen, aber nicht bevor dieses einen gellenden Schrei losgelassen hatte. In der Hand des Mannes blitzte ein Messer, von dem Blut tropfe – Blut, das dem Arm des Jungen entnommen war. Die Mutter schrie gleichfalls auf – "Adolf!" rief sie, immer wieder, während der Verbrecher schon in Fesseln gelegt abgeführt wurde und ihr dabei einen Blick aus tiefster Verzweifelung zuwarf.

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Good riddance
von Nicole Kroppen, 67227 Frankenthal (Deutschand)

Schon war alles in furchtbarster Aufregung und voll gefährlicher Vermutungen, als ein Herr die Nachricht brachte, er habe das Kind gegen drei Uhr am Bahnschalter gesehen.
"Kann nicht sein", knurrte der Hund. "Wenn das Kind erst gegen halb drei aus der Klinik verschwunden ist, dann kann es unmöglich schon um drei am Bahnhof gewesen sein. Es sei denn, es hätte plötzlich fliegen gelernt."
"Naja, mit den kaputten Beinen... stimmt schon... aber vielleicht hat jemand es im Auto mitgenommen oder es ist mit der Straßenbahn gefahren", sagte die Frau.
Der Hund grunzte.
"Wie auch immer es verschwunden ist - good riddance, sag ich nur." (Der Hund flocht gern amerikanische Redensarten in seine Gespräche ein.)
"Wir können froh sein, dass wir das widerliche verzogene Balg los sind."
"Damit rennst du bei mir offene Türen ein, aber die Polizei sieht das leider anders", sagte die Frau. "Und diese Typen in den dunklen Anzügen offenbar auch."
"Was für Typen in dunklen Anzügen?" fragte der Hund verdutzt.
"Hast du die nicht gesehen? Drei Stück. Waren überall da, wo die Polizei war, und sind nachher noch allein rumgestrolcht. Sehen aus wie Drillinge, alle etwas doof und in billigen Anzügen."
"FBI vielleicht?" Der Hund spitzte angeregt sein rechtes Ohr. (Das linke wollte sich zu seinem größten Ärger nicht spitzen lassen. Das war ziemlich uncool, fand der Hund, vor allem, wenn Frauen und Kinder auf der Straße ihn wegen seiner Ohren "süß" fanden.)
Die Frau warf ihm einen genervten Blick zu. "Du hast schon wieder "Akte X" geguckt, stimmts?"
"Hey", sagte der Hund beleidigt, "Agent Scully ist heiß. Ich mag Rothaarige. Aber was das Balg betrifft... wenn es wirklich in einen Zug gestiegen ist, wird es nicht einfach sein, seine Spur zu verfolgen. Der Bahnhof hier ist riesig, wer achtet da auf ein Kind?"
"Ein Kind, das sich nur auf Krücken fortbewegen kann, fällt schon auf", überlegte die Frau. "Andererseits... es werden Leute in der Öffentlichkeit erstochen und keiner merkt’s. Vielleicht haben wir Glück und es taucht unter. Zumindest für die nächsten paar Wochen."
Der Hund überlegte. "Drei Wochen müssten genügen", sagte er schließlich. "Wie lange brauchst du zum Packen?"

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Die Meise
von Tino Richter, 93138 Lappersdorf (Deutschand)

Wind, oh Wind
flüster mir doch leise
wo ist das Kind
der allzufrechen Meise

hat es die ratternde Schiene
weit hinfort getragen
oder hat es mit steifer Miene
ihre Natur ertragen

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