Satzfischer - Das literarische Kreativprojekt des Literatur-Cafés in Zusammenarbeit mit dem S. Fischer Verlag
Hier lesen Sie die besten Beiträge der neunten Runde (Oktober '02 - November '02), die unseren Autorinnen und Autoren zu einem Satz von David R. MacDonald eingefallen sind. Der Satz stammt aus dem Roman »Die Straße nach Cape Breton«. Aus dem Englischen von Heidi Zerning. S. Fischer Verlag. ISBN 3-10-015329-4. 19,90 EUR: Cover: Die Straße nach Cape Breton

Ein Kuss, vor vielen Wochen, aber sein Geschmack durchfuhr ihn immer noch, wenn er nichts zu tun hatte als dazuliegen und sich zu erinnern.

Freigang
von Marlene Geselle, 72513 Hettingen (Deutschland)

Die Sonne ließ sich viel zu viel Zeit mit dem Aufgehen heute Morgen. In der Zelle war es noch dreiviertel dämmrig, alle Konturen noch mit graublau überzogen. Matzratze und Sprungfedern von Manuels Bett, die mit Ölfarbe getünchten Wände. War ihm sonst egal. Musste sich aber jetzt zur Ruhe zwingen.
An Vanessa denken, an das letzte Treffen mit ihr vor einem Monat. Vierundzwanzig volle Stunden Vanessa. Vanessa vor dem Eingangstor, Frühstück mit Vanessa, Vanessas champagnerfarbene Spitzenwäsche.
Manuels Seufzen vom oberen Etagenbett holte ihn zurück in die Realität. Die Uhr auf dem kleinen Regalbrett zeigte ihm hämisch ihre Ziffern: 5.45 Uhr. Noch geschlagene zwei Stunden.
„Du musst ganz ruhig sein!“, befahl er sich selbst. „Heute ist echt nicht der Tag, den Manuel durchzuprügeln, weil er schnarcht und stöhnt im Schlaf und tagsüber nervt wie ne Horde Blagen wenn’s Spinat gibt.“
Arme und Beine entkrampften sich. Vanessa tauchte wieder vor seinen Augen auf. Der Geschmack von Vanessas Kuss beim Abschied; auf seinen Lippen so real, als läge sie hier neben ihm.
Hajo, der Klapperdürre aus der Nachbarzelle, hatte ihm den Tipp gegeben. War draußen Psychotherapeut gewesen, bis die Steuerfahndung beim ihm Großreinemachen veranstaltet hatte. „Wenn die Zeit zu Kaugummi wird und du alles und jeden klein schlagen willst, dann denk daran, wie deine Freundin geschmeckt hat beim Abschiedskuss. Dann hast du was, worauf du dich freuen kannst. Was dir hilft, den ganzen Mist hier durchzuhalten.“
Leises Geklapper an der Türe. Der alte Leberecht öffnete leise. „Kornblum, sind Sie wach?“, sprach er ihn halblaut an, um den oben Schlafenden nicht zu wecken. Der Angesprochene nickte kurz, richtete sich auf. „Kornblum, Freigang ist heute schon um Sechse. Waschen Sie sich und ziehen Sie sich an.“ „In ner Viertelstunde schon?“ Kornblum verstand kein Wort. „Simple Sache“, erklärte der Beamte. „Die Tagschicht ist wegen Grippe unterbesetzt. Und soll ich alles, was Freigang hat heute, schon zum Schichtwechsel losschicken“, erklärte er und zwinkerte verschwörerisch. „Frühstück werden Sie daheim schon kriegen!“
Schloss die Tür und machte sich weiter auf die Runde, die anderen Freigänger wecken.
Vanessas Lippen; nur noch eine Viertelstunde.

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Kuss
von eliha, 86316 Friedberg (Deutschland)

Träge überlegte er, was geschehen wäre, hätte er ihn erwidert...
Träge und ein wenig erregt, drehte er sich um... Darüber schlief er ein...

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„Unsere Jugend sollte weite Hosen tragen“
von Michael Herrmann, 61118 Bad Vilbel (Deutschland)

Er saß zurückgelehnt an die hölzerne Wand des kleinen Hauses auf den Dielen der Veranda und schaute über die Felder hinweg in den Abendhimmel. Drüben in der Stadt wurden jetzt die letzten Einkäufe erledigt, die Geschenke verpackt, die Autos für die Feiertage gewaschen und vollgetankt. Die Kinder wurden zu den Großeltern gebracht, damit die Väter die Bäume schmücken konnten. Nie hatte er sich so recht an dieses Weihnachtsfest gewöhnen können, bei dem die Sonne am Heiligen Abend noch unbarmherziger als sonst vom Himmel brannte, der Weihnachtspunsch kaum wärmer war als die stickige Abendluft und die Horden schwarzer Kinder aus den Suburbs „Stille Nacht“ gröhlten, während die Nacht alles andere als still war. Vergangene Weihnachten waren in Johannesburg insgesamt 16 Menschen erschossen worden, in einer einzigen Heiligen Nacht.

„Unsere Jugend sollte weite Hose tragen“ hatte sie gesagt, der letzte Satz, den er von ihr gehört hatte. Gleich darauf war sie mit ihrem Mann losgefahren, nach Hause, wie er, der andere es nannte, den sie vor unzähligen Jahren geheiratet hatte und mit dem sie nun nichts verband als gemeinsamer Besitz, die Kinder, das Bett, in dem sie nun jeden Abend einschlafen würde neben diesem Deutschen, der ihr fremd war und der dieses Haus, in dem sie nebeneinander lebten, ein Zuhause nannte, sein Zuhause, das auch ihr Zuhause war, obwohl sie sich nirgends fremder, nirgends weniger zugehörig, nirgends verlorener fühlen musste. Nichts von ihr war geblieben, nichts erinnerte ihn an sie, nur ein Kuss, vor vielen Wochen, aber sein Geschmack durchfuhr ihn immer noch, wenn er nichts zu tun hatte als dazuliegen und sich zu erinnern.

Seine nackten Füße tasteten über das sorgsam lackierte Holz der Verandaplanken. Es war ein vornehmes, geradezu aristokratisches Blau, das sich von der Farbe der anderen Häuser in der Gegend deutlich abhob und eher zu den Villen am Stadtrand gepaßt hätte, wo jetzt die schwarzen Boys Cocktails servierten, so wie sie es vor zwanzig, vor fünfzig und vor hundert Jahren auch getan hatten, nur das die Jugendlichen, die das Niggerpersonal herumkommandierten, heute besonders modische, enge Hosen trugen.

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Salz des Lebens
von Hans E. Aeschlimann, CH-8046 Zürich (Schweiz)

Immer wieder suchte Sascha die Lichtung mitten im Stadtwald auf. Der Mondsschein warf die Schatten der alten Bäume bis in die Mitte der kreisförmigen Wiese. "Warte auf mich. Ich komme wieder", hatte Johanna zu ihm gesagt und ihn neckisch in die Nase gekniffen.

Sascha fror. Seit Stunden sass er an die alte Buche angelehnt und dachte an sie. Seine Lippen brannten. Ein exotischer Duft betörte immer noch seine Gefühle. Gestern, aber gestern war Wochen her, hatte Johanna ihn geküsst. Er hatte gestammelt, ihr seine Liebe gestanden, und sie übermütig in seine Arme gerissen. Zuerst hatte er sie bedrängt, doch sie war geschickt und hatte ihn sanft eingehüllt. Die ganze Nacht lagen sie auf der Wiese nur ihren Gefühlen lauschend. "Morgen reise ich ab. Ein Jahr nach England", sagte sie plötzlich zu ihm.

In der Disco hatte sie alleine getanzt und ihn kaum beachtet. Kurz vor Schluss jedoch, hatten sie sich zu den langsamen Rhythmen aneinander geschmiegt. Plötzlich hatte sie sich losgerissen und war davon gerannt. Überrascht stand Sascha da, dann rannte auch er und fing sie ein. Hans in Hand liefen sie durch die Stadt in den Wald bis zur Lichtung

Keinen einzigen Brief und keine Karte hatte er von ihr erhalten. Er schwänzte die Schule und zog sich immer wieder an den einsamen Platz im Wald zurück, schrieb Briefe und zeriss sie wieder. Er kannte keine Adresse von Johanna.
Der Rektor hatte ihn aufgeboten, doch er erschien erst bei der zweiten Vorladung. Sein Vater zeigte wenig Verständnis für die Äusserung: Es sei ihm eigentlich alles egal. Der Vater sprach von Zukunft und meinte Studium und Geldverdienen, aber Sascha dachte an das Mädchen, das er liebte, das verschwunden war und vielleicht Hilfe brauchte. Er hatte nicht gedacht, dass dieser Abend für Johanna nur ein Spiel war. Seine Gefühle waren ehrlich, wenn auch noch etwas unbeholfen.
Der Vater drohte mit Internat und am nächsten Tag war Sascha weg. Nach England wollte er auch nicht, nur weg. Weg von dieser Welt der Erwachsenen, die nur Leistung zählten und Geld in den Vordergrund stellten.
Stundenlang schlenderte er am Meer entlang, und langsam setzte sich Salz auf seinen Lippen und seiner Haut fest. Er hatte Hunger. Je länger er allein war und je länger er fort von zu Hause war, desto mehr verblasste die schöne Johanna. Die Ruhe tat ihm gut und der Wind trug langsam seine trüben Gedanken weg, hinaus ins offene Meer.

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Schwarzer Humor
von Wolfgang Klesius, 66123 Saarbrücken (Deutschland)

Da, ein Neger.Er
ist schwarz und von der
Welt verlassen

Da, ein Kuss.Wie beiläufig die
sanfte Berührung der Lippen,
die glücklich macht

O Negerkuss, du Trost
einsamer Liebhaber
schwarzen Humors

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