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Schreibzeug-Podcast: Die besten Texte mit 50

Die folgende Geschichte zählt ebenfalls zu den neun Gewinnertexten zur 50. Jubiläumsfolge des Schreibzeug-Podcasts. Die 51. Folge mit den zugehörigen Textanalysen kann hier angehört werden – und überall, wo es Podcasts gibt. Über die Zahlen unter den Geschichten kann zwischen den Geschichten geblättert werden.

Hinweis: Diese Geschichte ist heftig. Sie wurde im Podcast besprochen, dort aber nicht vorgelesen. Man kann es hier selbst tun.

Nummer 50

von Steffen Böye

Eine herrliche Nacht! Ich sauge die kühle Luft tief in mich ein. Es wird Herbst.

Die Luft hier hab ich schon immer gemocht. Und die Stille. Am Anfang sogar diese kitschige Hollywood-Schaukel, auf der wir sitzen. Später nicht mehr. Man könnte sagen, hier bin ich erwachsen geworden. Hier hab ich Annie gefragt, ob sie mit mir gehen will. Hier hab ich meinen ersten Kuss bekommen. Und dann natürlich noch die anderen Sachen. Die mit Dir.

Die Schaukel war Dein Lieblingsort. Nach hinten raus, nicht wie bei den anderen. Die wollten was sehen, gesehen werden. Du nicht. Nicht wenn Du mit mir… warst. Das waren fast zehn Jahre. Bis ich abgehauen bin. Ich habe mich oft gefragt, warum Du nur mich…?

Nicht André, nicht Melli, nicht Mama, nur ich? Irgendwann war das egal. Es war einfach so, alle wussten das. Ich kann ihre mitleidigen Blicke noch spüren. Tante Linda, Onkel Walter, Onkel Michael. Mama in der Küche, die ihre Opernmusik lauter stellt, Melli, die sich mit einem Freund nach dem anderen verabredet. Und André, der mich irgendwann nicht mal mehr ansehen kann. Der mich ein paarmal verprügelt hat deswegen. Mich!

Schuldig hat er sich gefühlt. Hat er mir gesagt, als ich ihn geholt habe. André, Dein starker Sohn. Der Erstgeborene. Hat geheult wie ein kleines Kind. Mich angefleht, ihn zu verschonen, er habe Familie. Als ob mir das was sagen würde.

Weißt Du, wie das Ganze bei mir angefangen hat? Hannah. Ja. Hannah Albers. Kein Unfall, das war ich. Du hast Hannah immer gemocht, das weiß ich. Sie wusste das mit Dir und hat mich wieder und wieder »das Opfer« genannt. Dieses eine Mal ist was in mir zerrissen und dann ist es passiert. Millies Überraschung, das Geräusch, als der Zug sie erwischt: vollkommene Macht, einfach überwältigend. Wahrscheinlich das, was Du immer bei mir gefühlt hast. 

Hast Du Dich nie gewundert, als ich Mama geholt habe? Natürlich war ich das, Onkel Walter, Tante Linda, Onkel Michael und natürlich auch seine Rosa. Ich habe alle geholt, die davon wussten. So viele Leute. Jeder hätte was machen können.

Du bist der Letzte, Papa, der Anfang und das Ende. Nummer 50. Und weißt Du was? Heute vor genau fünfzig Jahren hast Du mir zum ersten Mal »was gezeigt« auf der Hollywood-Schaukel, unser erstes »Geheimnis«. Steht in meinem Tagebuch von damals. Sechs Jahre war ich alt. Ich hatte keine Ahnung, was da noch kommen würde.

Heute Nacht schließt sich der Kreis, Papa. Komm, ich zeig Dir was. Vertrau mir, das wird unser kleines Geheimnis.

© by Steffen Böye. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – nicht gestattet.

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1 Kommentar

  1. NUMMER 50 – Was für eine phantastische Kurzgeschichte! Ich verstehe, dass Ihr, liebe Diana, lieber Wolfgang, sie nicht vorgelesen habt. Aber diese Geschichte verdient Veröffentlichung!
    mit ganz lieben Grüßen aus Luxemburg

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