Die folgende Geschichte zählt ebenfalls zu den neun Gewinnertexten zur 50. Jubiläumsfolge des Schreibzeug-Podcasts. Die 51. Folge mit den zugehörigen Textanalysen kann hier angehört werden – und überall, wo es Podcasts gibt. Über die Zahlen unter den Geschichten kann zwischen den Geschichten geblättert werden.
Hallo Rudi
von Paul Wlaschek
14. April
Termin bei Sinowa: 42,8. Gardinenpredigt, weil ich seit einer Woche abnehme, trotz Aufsicht im Speisesaal und eine Stunde danach. Bin erstmal auf die Strecke gegangen, am Wald entlang über die Fuchshöhe, runter zum Fluss und am Bootshaus vorbei zurück ins Heim. Wenn ich laufe, geht’s mir gut.
16. April
Sinowa fragt immer, ob ich meine Tage habe. Find es so aber eigentlich ganz praktisch.
17. April
Wir haben eine Neue, Louisa. Die ist noch etwas größer als ich, gut über 1,70. Spielt sicher Volleyball.
19. April
Mir wurde bei der Psychotante schwindelig. Bin mit dem Kopf in ihren Gummibaum gesegelt. Sinowa hat mich verarztet. Die ganze Zeit: 50 Kilo ist die unterste Grenze, sonst spielt der Körper irgendwann nicht mehr mit. Heute gab es Huhn in Sahne, so widerlich. Aber die Casperi passt auf wie ein Schießhund und man muss sich das Ekelzeug reindrücken, ohne zu kotzen.
21. April
Leonie hat geschrieben, weil mich Sinowa bei Mama verpetzt hat wegen des Unfalls. Leo meint, Mama macht sich große Sorgen. Vermutlich, was die Nachbarn denken. Foto von Papa, er neben Graffiti auf der Berlin Wall: »Gott kann grad nicht.« Nee, klar, der ist sicher beim Kotzen.
22. April
Heute Session vorm Spiegel: zieh mal die Strickjacke aus, den Schlabberpulli auch. Und die Jogging. Was siehst du? Ich stehe da und friere und denke: fett. Du bist einfach fett. Ende der Durchsage.
23. April
Mist, Mist, Mist. Sie haben das Glaubersalz in meinem gefakten Duschgel bei Louisa gefunden. Sinowa hat getobt, weil Bruch unseres Vertrags und so. Wenn ich noch weiter abnehme, kriege ich einen Betreuer und Zwangsernährung. Und Sportbeschränkung. Gehe erstmal laufen.
Nochmal 23. April
Bin heute an den Bauernhöfen vorbei, da war ein Typ mit einer Hündin, die hatte vier Welpen. Ich durfte mit ihnen spielen. Die waren so süß, dass ich heulen musste.
Nochmal 23. April
Ich habe die Aufbaunahrung zum Abendessen artig geschluckt und für die Casperi ein Engelsgesicht aufgesetzt. Dann bin ich mit Stirnlampe nochmal zum Bauernhof. War aber keiner da.
24. April
Nach dem Kurs bin ich gleich zum Hundehof und habe geklingelt. Eine total nette Frau ist mit mir in die Waschküche, wo die Welpen ihr Nest haben. Sie hat mich gefragt, ob ich einen haben möchte. Einer hatte weisse Stiefel an. Der heisst Rudi.
25. April
Sinowa musterte mich beim Wiegen über seine Brille: 43,9.
Rudi hat heute auf meinen Sweater gepinkelt.
27. April
45,3.
28. April
Louisa liegt auf Intensiv. Zeige ihr Fotos von Rudi.
12. Mai
49,8. Louisa ist tot.
© by Paul Wlaschek. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – nicht gestattet.
NUMMER 50 – Was für eine phantastische Kurzgeschichte! Ich verstehe, dass Ihr, liebe Diana, lieber Wolfgang, sie nicht vorgelesen habt. Aber diese Geschichte verdient Veröffentlichung!
mit ganz lieben Grüßen aus Luxemburg