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Schreibzeug-Podcast: Die besten Texte mit 50

Die folgende Geschichte zählt ebenfalls zu den neun Gewinnertexten zur 50. Jubiläumsfolge des Schreibzeug-Podcasts. Die 51. Folge mit den zugehörigen Textanalysen kann hier angehört werden – und überall, wo es Podcasts gibt. Über die Zahlen unter den Geschichten kann zwischen den Geschichten geblättert werden.

50 Minuten

von Antje

Rosa versinkt mit ihrem Blick in seinen grauen Locken. Morgen ist ihr 25. Hochzeitstag. Sie nimmt sich ein Kissen und kniet sich an seinem Hinterkopf nieder. Er atmet schwer. »Weißt Du noch, wie ich zum ersten Mal mit Victoria schwanger war?« erinnert sie ihn und hebt kurz die Hand, will sie auf seine Schulter legen, zieht sie dann aber wieder zurück. »Weißt Du noch, wie sie Deine Prinzessin war?« spricht sie erneut zu ihm. »Jede Woche hast Du ein neues Spielzeug für sie mit nach Hause gebracht. Aber wehe, sie hat Deine Geschenke nicht richtig gewürdigt. Weißt Du noch, wie Du der neuen Barbie den Kopf abgerissen hast?« Rosa nimmt einen Schluck aus ihrem Martini-Glas, das neben ihr auf dem Boden steht. »Und irgendwann war ich dann Deine Barbie. Weißt Du noch, wie es losging? Ich hatte den Elternabend von Victorias Kindergarten vergessen. Da hast Du direkt auf meine Lippe geschlagen. Ich bin gegen den Flügel gefallen und lag mit dem Kopf an den Pedalen. Du hast mit dem Finger auf mich gezeigt und Victoria angezischt: Sieht so eine gute Mutter aus? Sieht so eine gute Mutter aus? Immer wieder hast Du den Satz wiederholt, bis Victoria schließlich nickte. Am nächsten Morgen hast Du uns dann mit Klaviermusik geweckt. Brötchen, Croissants und frisches Obst standen auf dem Tisch. Du hast Victoria auf den Schoß genommen, die mit ihren sechs Jahren meinte: Papa, ich habe gestern Angst vor Dir gehabt. Da hast Du gelacht und sie gedrückt. Du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben, hast Du gesagt und ihr eine Erdbeere in den Mund gesteckt.« Rosa steht auf, schüttelt langsam den Kopf, geht zur Leiter im Raum, über der ein prächtiger Kronleuchter baumelt. »Ja, Dein schöner Kronleuchter« spricht sie noch einmal zu ihm. »An einer Silberhochzeit, da sollte der schon funktionieren.« Ja, und als Rosa ihm dann den Schraubenzieher gereicht hatte, da hatte er auf der Leiter herumgeschrien, dass sie völlig bescheuert sei, zu dumm für diese Welt, ihm einmal den richtigen Schraubenzieher zu geben. Rosa stand an der Leiter. Tränen liefen ihre Wangen hinunter. Und dann – dann ist alles sehr schnell gegangen. Rosa schaut zu ihm herab. Da liegt er immer noch neben der spitzen Kante des Couchtisches. Sein Blick ist starr, sein Körper regungslos. Kein Keuchen mehr. Um seinen Kopf eine kleine rote Pfütze. 50 Minuten sind vergangen seit dem Sturz. Sie greift zum Handy, wählt den Notruf und meldet mit tonloser Stimme: Kommen Sie schnell, mein Mann ist von der Leiter gefallen.

© by Antje. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – nicht gestattet.

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1 Kommentar

  1. NUMMER 50 – Was für eine phantastische Kurzgeschichte! Ich verstehe, dass Ihr, liebe Diana, lieber Wolfgang, sie nicht vorgelesen habt. Aber diese Geschichte verdient Veröffentlichung!
    mit ganz lieben Grüßen aus Luxemburg

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