Die folgende Geschichte zählt ebenfalls zu den neun Gewinnertexten zur 50. Jubiläumsfolge des Schreibzeug-Podcasts. Die 51. Folge mit den zugehörigen Textanalysen kann hier angehört werden – und überall, wo es Podcasts gibt. Ãœber die Zahlen unter den Geschichten kann zwischen den Geschichten geblättert werden.
Der Schal
von Sabine König
Die drückende feuchte Atmosphäre hatte ihm schon den ganzen Tag zugesetzt. Als er am späten Nachmittag bei ihr eintraf, krochen die ersten Gewitterwolken über die Dächer der Stadt. Eins. Was zum Teufel war dann geschehen? Zwei. Er hatte nichts weiter beabsichtigt, als sie um Verzeihung zu bitten. Drei. Stundenlang sann er darüber nach, wie es gelingen könne. Es waren ihm nur banale Kleinigkeiten eingefallen: Ein Candlelight-Dinner beim Italiener um die Ecke, ein Strauß Rosen … Sie würde ihn auslachen, da war er sich sicher. Zehn.
Ihre verwuschelten Haare und die nachlässig aufs Sofa geworfene Decke ließen ihn vermuten, dass er sie aus dem Mittagsschlaf gerissen hatte. „Was willst du noch?“. „Ich, ich …“, er fand die Worte nicht. Dafür sie umso mehr. Fünfzehn. Irgendeine Äußerung von ihr triggerte ihn dann. Welche vermochte er nicht zu sagen. In seinem Kopf drehte sich alles und sein Herz raste. Die zittrigen Hände verbarg er in den Hosentaschen. Dreiundzwanzig. Der Impuls vor ihr zu fliehen wurde übermächtig, und im Nachhinein bedauerte er, diesem Drang nicht nachgegeben zu haben. Aber er blieb stehen, mitten im Raum. Sie sprach weiter, beachtete ihn nicht. Er erinnerte sich nicht mehr an das Gesagte. Achtunddreissig.
Sein Blick fiel auf den Gegenstand hinter ihr und seine Gedanken fingen an, ein verwirrendes Netz zu spinnen. Der Schal mit den fantasievollen grafischen Mustern war ein Geschenk von ihm während ihrer Italienreise. Damals lachten sie unbeschwert wie Teenager miteinander. Gemeinsam ließen sie sich durch die Straßen treiben und am Abend bei einem Glas Wein philosophierten sie über künstliche Intelligenz und das Leben der Superreichen. Achtundvierzig.
Geblieben war der Schal, den er jetzt voller Wehmut auf der Sessellehne liegen sah. Er bewegte sich um sie herum – sie bemerkte es nicht einmal – griff das weiche, sanfte Tuch und führte es an seine Lippen. Ihr Jasminduft war darin verfangen, und er raubte ihm endgültig den Verstand. Neunundvierzig. Er fasste den nach italienscher Manier fest gewebten Schal an beiden Enden. Sie wandte ihm noch immer den Rücken zu, sprach weiter zu sich selbst, wie eine hängengebliebene Schallplatte. Er schritt auf sie zu, bis er dicht hinter ihr stand und legte ihr den Stoff in einer einzigen fließenden Bewegung um den Hals. FÜNFZIG.
Die Liegestütze, die er sich hier als tägliches Training auferlegt, sind ihm mittlerweile eine liebe Gewohnheit. Wenn er diese Mauern wieder verlässt, würde er durchtrainiert sein.
© by Sabine König . Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – nicht gestattet.
NUMMER 50 – Was für eine phantastische Kurzgeschichte! Ich verstehe, dass Ihr, liebe Diana, lieber Wolfgang, sie nicht vorgelesen habt. Aber diese Geschichte verdient Veröffentlichung!
mit ganz lieben Grüßen aus Luxemburg