Die folgende Geschichte zählt ebenfalls zu den neun Gewinnertexten zur 50. Jubiläumsfolge des Schreibzeug-Podcasts. Die 51. Folge mit den zugehörigen Textanalysen kann hier angehört werden – und überall, wo es Podcasts gibt. Über die Zahlen unter den Geschichten kann zwischen den Geschichten geblättert werden.
Hermann darf nicht sterben
von Andreas Kaschwig
»Wird er es schaffen?«
Mit besorgtem Blick mustert Gemeindevorsteher Mertens den Arzt, der die Tür zum Krankenzimmer hinter sich schließt. Der ausweichende Blick von Doktor Schröder spricht allerdings Bände.
»Du weißt, dass Hermann nicht sterben darf«, drängt Mertens.
Er legt seine Hand auf die Schulter des Mediziners ihm gegenüber, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen.
»Alles, was uns wichtig ist, steht auf dem Spiel. Ohne Hermann geht alles verloren.«
Die Augen des Arztes wandern langsam nach oben und sein müder Blick ruht auf Mertens flehendem Gesicht.
»Bernd, ich verstehe dich. Aber gegen das Alter ist nun mal kein Kraut gewachsen. Der Mann ist 97 Jahre alt. Irgendwann ist der letzte Zug abgefahren. Aus. Vorbei. So sehr es mir für unseren Ort und alle in Tönniswald leidtut.«
Bernd Mertens Hand gleitet langsam von der Schulter des Doktors.
»Es darf nicht sein«, presst er hervor. »Ohne Hermann sind die Dinge nicht mehr, wie bisher«.
Der Arzt zuckt nur erschöpft mit den Schultern.
»Ich kann da nichts machen, Bernd. Ich kann ihn nicht einfach in eine Tiefkühltruhe stecken, bis ein Wundermittel gegen den Tod durch Alter gefunden wird.«
Mertens scheint plötzlich wie elektrisiert von den letzten Worten des Doktors.
»Schröder, das könnte die Lösung sein,« drängt es aus ihm. »Ich meine, es muss doch keiner von außerhalb von Hermanns Abgang erfahren. Lebende Angehörige hat er nicht mehr und bei uns im Ort halten schon alle fest zusammen. Niemand wird plaudern.«
Der Arzt blickt seinen Gemeindevorsteher verständnislos an.
»Mensch, Doktor, Du stellst einfach keinen Totenschein aus, wenn Herrmann stirbt. Wir beerdigen ihn natürlich trotzdem in Ehren auf unserem Friedhof. Aber niemand muss erfahren, dass Tönniswald ab dann nur noch 49 Einwohner hat.«
Er macht eine dramatische Pause und fährt fort: »Jeder von uns weiß, dass die Stadt uns sofort schluckt, wenn wir unter 50 Einwohner zählen. Dann ist Schluss mit Tönniswald als eigenständige Gemeinde, wie wir sie kennen. Schluss mit unserer eigenen Bushaltestelle, eigenem Postkasten, eigenem Gemeindehaus. Dann werden wir nur noch ein weiterer eingemeindeter Vorort ohne Namen ohne richtige Gemeinschaft sein. Nur weil uns ein Einwohner fehlt für die Bürokraten vom Kreis, um uns den Status als Gemeinde lassen zu müssen.«
Der Arzt schweigt lange, bevor er schließlich leicht nickt und sich die Anspannung aus dem Gesicht seines Gemeindevorstehers löst.
Hermann würde wohl gehen, aber Tönniswald weiterhin Tönniswald bleiben.
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NUMMER 50 – Was für eine phantastische Kurzgeschichte! Ich verstehe, dass Ihr, liebe Diana, lieber Wolfgang, sie nicht vorgelesen habt. Aber diese Geschichte verdient Veröffentlichung!
mit ganz lieben Grüßen aus Luxemburg