Die folgende Geschichte zählt ebenfalls zu den neun Gewinnertexten zur 50. Jubiläumsfolge des Schreibzeug-Podcasts. Die 51. Folge mit den zugehörigen Textanalysen kann hier angehört werden – und überall, wo es Podcasts gibt. Über die Zahlen unter den Geschichten kann zwischen den Geschichten geblättert werden.
Omas Nemesis
von Kai Anne Schuhmacher
Der akkubetriebene Winkelschleifer sauste so nah an meinem Kopf vorbei, dass ich schwören könnte, er hätte noch meine Ohrmuschel gestriffen, bevor er auf den Asphalt polterte.
»Mensch, Oma! Pass doch auf!« zischte ich.
»Jetzt mach nich so en Jewese. Gleich hab Icks!«
Omas rechtes Knie drückte fast meine Halsschlagader ab und ihr knochiges Schienbein zitterte auf meiner Schulter. Der Schmerz machte es mir fast unmöglich mit beiden Händen ihren linken Fuß und gleichzeitig das Gleichgewicht zu halten. Wir sahen aus wie zwei Hobbyclowns, die ihre Nummer nicht geübt hatten.
Zum Glück war es dunkel – was allerdings nicht viel nützte, wenn Oma so einen Lärm veranstaltete. Als wären meine Gedanken die Stichwortgeber dieser Geschichte, schepperte das große Tempo 50 Schild mit viel Tamtam neben den Winkelschleifer. Erschrocken und erleichtert zugleich sank ich in meiner ohnehin schon gebeugten Haltung zusammen.
Oma triumphierte: »Die Brubbelköppe werden sick noch wundern! Komm Julius, für heute langt’s!«.
Sie drückte mir das Blechschild in die Hand und ich stellte es möglichst geräuschlos zu den drei anderen in unseren Bollerwagen. Unsere Ausbeute war nicht schlecht. Gestern hatten wir nur ein einziges, das an der Ecke Hubertusstraße »eliminieren« können, wie Oma es nannte. Dann hatte ein Nachbar das Fenster geöffnet und sich das Handy ans Ohr gehalten.
Wir wurden im Ort gesucht, das wusste ich; beziehungsweise die ominösen Tempo-50-Diebe wurden gesucht. Mir bescherte das unruhige Nächte, aber Oma ließ sich von ihrem Kreuzzug nicht abbringen.
Die 50 war Omas Nemesis. Seit die Alleestraße nicht mehr zur verkehrsberuhigten Zone gehörte, wurden drei ihrer wertvollen Rotwangenschildkröten überfahren. Komischerweise war bei Tempo 30 in all den Jahren noch nie eines der Tiere zu Tode gekommen.
Oma behauptete, die Schildkröten seien hochintelligent und so sensibel, dass sie die Erschütterung eines herannahenden Fahrzeuges über Kilometer erspüren könnten. Bei Tempo 50 hätten die Schildkröten dann aber eben zu wenig Zeit sich vom Acker zu machen.
»Diese janzen falschen Fuffzijer müssen wech«, sagte Oma deshalb immer. Ihre Beschwerdebriefe beim Bürgermeister hatten bisher zu wenig Resonanz geführt.
»Diese janzen falschen Fuffziger müssen wech!«, schnaufte Oma auch jetzt, während wir die Tür des Schuppens aufstemmten. »Auf die Rejierung is enfach keen Verlass mehr. Nur noch neun Schilder Julius. Bald hamm wa’s jeschafft. Morjen jehts weiter!«
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NUMMER 50 – Was für eine phantastische Kurzgeschichte! Ich verstehe, dass Ihr, liebe Diana, lieber Wolfgang, sie nicht vorgelesen habt. Aber diese Geschichte verdient Veröffentlichung!
mit ganz lieben Grüßen aus Luxemburg