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Schreibzeug-Podcast: Die besten Texte mit 50

Die folgende Geschichte zählt ebenfalls zu den neun Gewinnertexten zur 50. Jubiläumsfolge des Schreibzeug-Podcasts. Die 51. Folge mit den zugehörigen Textanalysen kann hier angehört werden – und überall, wo es Podcasts gibt. Über die Zahlen unter den Geschichten kann zwischen den Geschichten geblättert werden.

Zählen

von Ruth Gundacker

Paps zählt auf drei, damit er nicht so schnell explodiert. Grosmami zählt auf zehn, damit ich weiß, dass »Jetz gnueg Heu dune isch« und ich mir die Zähne putzen und den Schlafanzug anziehen muss. Grosmami ist Schweizerin. Ich kann auch ein bisschen Schweizerdeutsch und wenn wir zusammen schweizerdeutsch sprechen, müssen wir ständig lachen.

Ich zähle seit vier Monaten jeden zweiten Sonntag auf fünfzig. So lange braucht Mama, bis sie ihre Augen öffnen kann. Dann umarmt sie mich.

»Ich freu‹ mich, dass du wieder bei mir bist, Timo.«

Das ist unser Spiel, seit Paps ausgezogen ist.

»Heul‹ nicht!«, hat Paps damals zu mir gesagt. »Wir lassen uns nicht scheiden. Ich brauch‹ einfach etwas Abstand.«

Paps neue Wohnung ist zwölf Minuten zu Fuß von unserer Wohnung entfernt.

»Eine Woche wohnst du bei Mama, eine Woche wohnst du bei mir.«

Mama lag auf dem Sofa, als Paps uns die neue Regel erklärte.

Mein Zimmer in Paps Wohnung ist hell und riecht nach Holz. Vom Fenster aus kann ich in den Garten gucken. Dort wachsen jetzt Bohnen und Tomaten. Rosen hat es auch.

Mama ist schon so lange krank, dass ich nicht mehr weiß, wie sie vorher war. Mama ist immer müde und kann deshalb nicht aufstehen. Grosmami kommt jeden Tag vorbei. Sie kauft ein und putzt und kocht. Dreimal die Woche bringt sie Mama in die Klinik zur Therapie.

Wenn ich nach meiner Paps-Woche zurück zu Mama gehe, habe ich manchmal ein komisches Gefühl im Bauch. So ähnlich wie Hunger. Dann muss ich die Treppe in den dritten Stock so schnell wie möglich schaffen.

Gestern war ich nicht schnell genug. Ich habe wie immer die Wohnungstür geöffnet, bin aus meinen Turnschuhen raus und in die Finken geschlüpft. »Finken« ist schweizerdeutsch, heißt Hausschuhe und ist mein Lieblingswort. Ich stelle mir immer vor, wie das Zwitschern meiner Finken durch Mamas Traum in ihre Ohren fällt, bevor ich anfange, auf fünfzig zu zählen.

Gestern waren zwei Rettungssanitäter und ein Arzt im Wohnzimmer. Der Arzt untersuchte Mama. Einer der Rettungssanitäter sprach mit Grosmami. Sie weinte. Mama lag still auf dem Sofa. Ihr Gesicht war grau. Plötzlich war Paps da. Er guckte die beiden Rettungssanitäter an, guckte den Arzt an, guckte Grosmami an, guckte mich an, guckte Mama an und explodierte. Der Arzt berührte mit seiner Hand Paps‹ Schulter. Mama wurde auf eine Liege gelegt und von den beiden Rettungssanitätern aus der Wohnung getragen. Grosmami nahm mich in den Arm. Ich begann zu zählen.

© by Ruth Gundacker. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – nicht gestattet.

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1 Kommentar

  1. NUMMER 50 – Was für eine phantastische Kurzgeschichte! Ich verstehe, dass Ihr, liebe Diana, lieber Wolfgang, sie nicht vorgelesen habt. Aber diese Geschichte verdient Veröffentlichung!
    mit ganz lieben Grüßen aus Luxemburg

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