StartseiteLiterarisches LebenZwischenbilanz: Wie liest sich »Walden« von Henry David Thoreau im Wald?

Zwischenbilanz: Wie liest sich »Walden« von Henry David Thoreau im Wald?

Walden lesen im Wald: Tag 4
Wolfgang Tischer liest Walden im Wald: Tag 4

Ich habe »Walden« unterschätzt. Und seinen Autor Henry David Thoreau überschätzt. Sieben Stunden »Hölderin« am Stück. Jeden Tag »Die Pest« von Camus live vor 500 Zuhörer:innen. Welche Herausforderung kommt jetzt? Ein Buch drängte sich auf: »Walden«. Ein Mann lebt zwei Jahre einsam im Wald. Und ich werde sein Buch über diese Zeit in der Einsamkeit des Waldes lesen. In zehn Teilen. Vier liegen noch vor mir.

Früh raus mit Thoreau

Heute bin ich früh aufgebrochen. Es ist 5:30 Uhr. Die Kamera ist dabei, das Stativ, die Beleuchtung, ein MP3-Rekorder und eine Flasche Wasser. Ich werde mir einen Ort im Schwarzwald suchen, dort Kamera, Stativ und Beleuchtung aufbauen, mich davorsetzen und lesen. Über zwei Stunden werden es diesmal werden. Schließlich will ich die zehnteilige Lesung des 320-Seiten-Werkes am Freitag abschließen. Das fertige Video mit Teil 6 können Sie sich weiter unten ansehen.

Wolfgang Tischer liest Walden im Wald (und am Wasser): Der Aufbau am Tag 6
Wolfgang Tischer liest Walden im Wald (und am Wasser): Der Aufbau am Tag 6

Heute früh ist alles ein wenig anders. Ich gehe nicht zu Fuß, fahre nicht mit dem Fahrrad, wie an den fünf Lesetagen der letzten Woche, sondern nehme das Auto. Auch breche ich gut eine Stunde früher auf. Diesmal geht es weiter weg, und es geht an den See.

In der zweiten Hälfte seines Buches »Walden« beschreibt Henry David Thoreau ausführlich den Walden-See, an dessen Ufer er zwei Jahre lang spartanisch in einer kleinen, selbst gebauten Hütte lebte. Der Walden-See liegt in der Nähe der Stadt Concord, die wiederum in der Nähe von Boston in Massachusetts liegt. 1845, als Thoreau die Hütte bezieht, hat der Ort nur knapp über 2.000 Einwohner. Er ist zu einer literarischen Künstlerkolonie geworden. Ralph Waldo Emerson lebte dort, Margaret Fuller, Nathaniel Hawthorne und andere Autorinnen und Autoren der sogenannten Transzendentalisten. Sie suchten das Gute und Göttliche in den Dingen der Natur. Die selbstgebaute »Glaubensrichung« vereinigte romantische, mystisch-esoterische Vorstellungen und vermengte sie mit Elementen der christlichen und indischen Glaubenslehren. Man war gegen die seinerzeit in den USA noch existierende Sklaverei, es entstanden erste Ansätze einer Frauenbewegung und man lehnte das materialistische Denken ab. Thoreau war einer von ihnen.

Henry David Thoreau war 28 Jahre alt, als er in die selbstgebaute Hütte am Walden-See zog. Der heißt im englischen »Walden Pond«, was Wilhelm Nobbe, der 1905 als Zweiter das Werk ins Deutsche übertrug mit »Walden-Teich« übersetzte, wenngleich man das etwas größere Gewässer sicherlich als See betrachten muss.

Am See wollte Thoreau sich finden, wollte herausfinden, was man wirklich zum Leben braucht und wie man sich dort im Einklang mit der Natur befindet.

Weniger einsam als erwartet

Einige sagen, dass das mit der Hütte und der Einsamkeit gar nicht so einsam war. Auch ich hatte – als ich »Walden« nur vom Hörensagen und nicht vom Selberlesen kannte – die Vorstellung, dass er dort in völliger Einsamkeit, Abgeschiedenheit und Selbstversorgung lebte.

So war es freilich nicht. Man muss dazu keine Biografie über Thoreau lesen, man muss nur »Walden« lesen, um zu erfahren, dass die Straße nach Concord nur wenige hundert Meter entfernt war, dass am anderen Ende des Sees die Eisenbahn entlangratterte und -dampfte. Thoreau war mehrmals wöchentlich in der Stadt, die nur eine gute Meile entfernt war. Umgekehrt hatte er oft Gäste in seiner kleinen Hütte. Bis zu 30 Personen sollen dort (stehend) für Zusammenkünfte hineingepasst haben.

Die Einsamkeit war also weniger einsam als vermutet. Aber es ist nicht Thoreau, der das überhöht, sondern offenbar einige seiner Leser:innen.

Wer die letzte Woche zugehört oder das Buch gelesen hat, muss feststellen, wie viele aktuelle Ratgeber und Bestseller, wie viele Selbstoptimierungs- und Natur-Trends Thoreau in seinem »Walden« bereits vereint. Vom Nature-Writing-Trend über Simplify your life, vom Minimalismus bis zu »Aufräumen mit Marie Kondo«, von Landlust bis zur Nachrichtenenthaltsamkeit, wie sie Rolf Dobelli predigt. Alles findet sich bei Thoreau, findet sich in »Walden«.

Manchmal nervt Thoreau

Allerdings findet sich auch Unangenehmes darin. Und das ist Thoreau selbst. So treffend und zeitlos Thoreaus Betrachtungen von Natur und Gesellschaft sind, zu oft sind sie von seiner Überheblichkeit durchdrungen. Immer wieder werden die schönsten Beobachtungen von seinem Ego durchdrungen, von einem ich, das sich für etwas Besseres hält. Und liest man Biografien oder die Beschreibungen seiner Zeitgenossen, so war Henry David Thoreau wohl alles andere als ein einfacher Mitmensch. Er ist vielen ziemlich auf den Geist gegangen.

Wolfgang Tischer liest Walden im Wald (und an einer Hütte): Der Aufbau am Tag 1
Wolfgang Tischer liest Walden im Wald (und an einer Hütte): Der Aufbau am Tag 1

Als Lektor hätte ich vieles rausgestrichen, vor allem sein überhebliches Predigen. Auch seine Wiederholungen und die überflüssigen Ausschweifungen.

»Walden« erschien erst neun Jahre, nachdem Thoreau die Hütte verlassen hatte, um wieder – wie er selbst gleich am Anfang schreibt – am »zivilisierten Leben« teilzunehmen. Und dennoch erstaunt es, dass ihm keiner gesagt hat, dass einige Stellen peinlich sind, dass er mit vielen überflüssigen dozierenden Passagen das einreißt, was er davor wunderbar fein beschrieben und aufgebaut hat. So bezeichnet er in einem seiner überheblichen Rants die Menschen, die den Pharaonen beim Bau der Pyramiden geholfen haben, als »verkommen«, weil sie dafür ihr »Leben hingegeben haben«, so als hätten sie sich freiwillig zur Hilfe entschlossen. Wo war da der Lektor?

In dieser Hinsicht habe ich ihn überschätzt, hätte ich mehr erwartet.

Herumirren im Wald

Unterschätzt habe ich den Aufwand, Walden im Wald zu lesen. Camus live war da einfacher. Eine Stunde Lesen, das war‘s. Für Walden muss ich in den Wald. An den beiden ersten Tagen experimentiere ich noch mit Kamera und Bildeinstellung. Erst am dritten Tag weiß ich, wie die Bildkomposition am besten ist. Davor irrte ich im Wald herum, auf der Suche nach einem guten Leseplatz.

Danach dann das Bearbeiten des Videos und »herausrechnen«. Eine Stunde Film lässt selbst einen schnellen Rechner nochmals eine Stunde rechnen. Dass die Filme meist länger als eine Stunde sind, lässt die Dateigrößen auf 8 bis 12 Gigabyte anwachsen. Bei einer mittelschnellen DSL-Verbindung dauert das Hochladen zwischen 4 und 8 Stunden. Wenn dann noch YouTube hakt – denn dort muss der Film nochmals umkodiert werden –, dann wird es mit der Online-Stellung um 18:45 Uhr knapp, selbst wenn ich bereits morgens um 7 Uhr im Wald sitze.

Wolfgang Tischer liest Walden im Wald: Der Aufbau am Tag 3
Wolfgang Tischer liest Walden im Wald: Der Aufbau am Tag 3

Draußen lesen ist weniger berechenbar als drinnen – selbst in der Einsamkeit des Waldes. Wie wird die Sonne in dieser Stunde wandern und wird sich das Licht negativ auswirken? Ist der Ort weit genug weg von der Zivilisation, von jedweder Straße? Und selbst dann kann über einem plötzlich ein Motorsegler brummen.

An diesem sechsten Tag geht es fast schon in die Öffentlichkeit, daher muss ich früh raus. Die See-Beschreibung will ich an einem See im Wald lesen. So viele Möglichkeiten gibt es da im Nordschwarzwald nicht. Ich fahre zur Nagoldtalsperre, doch ich muss früh da sein, sodass sich die Autos auf der nahen Straße in Grenzen halten und die Hundebesitzer sich vielleicht nochmals im Bett umdrehen, bevor das Tier raus will und um den See geführt wird.

Es ist kalt, als ich lese, Wetter und Sonne aber ok. Irgendwann kommen zwei Schwimmer vorbei und ziehen im eiskalten Stausee ihre Runden. Kann sie jemand auf dem Video entdecken?

Nach zwei Stunden zurück, erst mal frühstücken, dann das Video bearbeiten.

Dennoch ist es ein herausforderndes Projekt – das aber auch Spaß macht.

Neben mir sitzt Henry David

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Eine zehnteilige Lesung, deren Einzelfolgen bis zu zwei Stunden dauern. Wer soll sich das ansehen oder anhören? Es ist kein Projekt für die Masse, aber das soll es auch nicht sein. Die Filme – das ist mir wichtig – werden bei YouTube bleiben können, da die Übersetzung rechtefrei ist. Da kann sich einiges entwickeln.

Doch es gibt sie, die treuen Zuhörerinnen und Zuhörer. Nicht immer kommentieren sie auf YouTube oder im literaturcafe.de. Doch täglich erreicht mich mindestens eine begeisterte Mail einer Zuhörerin oder eines Zuhörers. So weiß ich, dass ich da nicht allein im Wald sitze und lese.

Und dann sitzt da neben mir immer irgendwie auch Thoreau, dem ich eine Stimme gebe. Viermal noch.

Morgen früh wieder im Wald.

Wolfgang Tischer

Gelesen am See:
Das Video mit dem sechsten Teil der Lesung

Hier finden Sie alle bislang gelesenen Teile von »Walden« von Henry David Thoreau »

8 Kommentare

  1. Nein, Herr Tischer, Sie sitzen nicht allein im Wald und lesen – auch ich bin dabei und bin froh, dass Sie sich dieses Projekt haben einfallen lassen und es nun durchziehen und wie Sie das tun, gefällt mir besonders.
    Noch mehr gefällt mir allerdings diese Einordnung und Bewertung des Textes und Thoreaus in seine Zeit und seine Umgebung und die Schilderung der Arbeitsabläufe.
    “Walden” zu hören verlangt mir einiges ab und wenn ich bedenke, dass ich dieses Buch mal – als Wald-Freundin par excellence – meinem Mann geschenkt habe (ohne es zu lesen, nur ansatzweise), kann ich nun verstehen, dass er es irgendwann nicht mehr weiterlesen wollte. Aber ich werde es – dank youtube – nach und nach ganz hören, in homöopathischen Dosen, denn gerade Ihre Hintergrund-Informationen in den jeweiligen Einleitungen und besonders jetzt diese Zwischenbilanz legen mir nahe, in Walden nicht nur ein wenig ein Zeitdokument, sondern vor allem ein interessantes Psychogramm zu sehen, viele Aspekte zu spüren und zu bedenken.
    Erneut “DANKE” – ganz besonders, weil ich nun auch weiß, wie viel mehr “Einsatz” dieses Projekt Ihnen abverlangt gegenüber dem Lesen von “Die Pest”.
    Ich wünsche Ihnen geeignetes, am besten gutes Wetter, Wohlgefühl und Wohlergehen in den Wäldern.

  2. Walden:
    Es ist faszinierend wie Thoreau sich an dem Wissen und den Errungenschaften seiner Zeit abarbeitete. Begriffe, Worte dreht, wendet und beleuchtet sowie neu bewertet, um stets den Ursprung des einfachen und somit bereichernden Lebensinhaltes zu suchen. Den Überfluss zu tadeln und den Minimalismus zu loben. Bei all seinen nachdenklichen Worten entwickelte er grandios schöne und bemerkenswert anregende Gedanken-Splitter! Manche Folgen sind inhaltlich langatmig, sodass ich dieses Buch nie mit großem Genuss selbst gelesen hätte! Jedoch vorgelesen gefällt es mir sehr gut!

  3. Ja, das glaube ich, lieber Herr Tischer, das diese Lesung sehr aufwendig ist. Danke für das Hintergrundwissen und auch die wechselnde, fantastische Kulisse im wunderschönen Schwarzwald, den ich auch schon durchwandert habe. Ich werde weiter lauschen.

  4. Hallo Wolfgang.
    Für mein neues Buch schreibe ich gerade ein Kapitel über meinen Besuch bei Walden Pond in Concord, MA, und kann deine Faszination und Kritik von Thoreau sehr gut nachvollziehen.
    Zum Autor möchte ich eine sehr interessante Biografie von Frank Schäfer empfehlen: “Henry David Thoreau. Waldgänger und Rebell” (Suhrkamp), die viele unbekannte Seiten des Autors beschreibt und absolut lesenswert ist.

    • Liebe Elli,
      danke für deinen Kommentar. Tatsächlich habe ich zur Vorbereitung auch die ausgezeichnete Thoreau-Biografie von Frank Schäfer gelesen. Ich werde sie in einem eigenen Video nach der Lesung besprechen und empfehlen.
      Wolfgang

  5. Gute Nachricht am Morgen:
    Ich habe mich schon gefragt, ob ich hier mal nachfrage, wer vielleicht welche Biografie empfehlen kann – und schon ist eine Empfehlung da – sogar “bestätigt”.
    Danke!

  6. Guten Morgen aus dem Sauerland in aller Frühe. Bei den intensiven Tierbeobachtung von Thoreau in Teil 8 kommt er mir sehr nah und wird mir immer sympathischer. Danke für den wunderbaren Hörgenuss dank ihrer Lesung lieber Herr Tischer

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