In sieben Stunden hat Wolfgang Tischer den kompletten Roman »Hyperion« von Friedrich Hölderlin live im Internet vorgelesen. Wie geht es seiner Stimme? Wie hat er sich auf die lange Lesung vorbereitet? Hier erzählt er es.
Nach der Lesung fühle ich mich wie nach einem Halbmarathon: glücklich, erschöpft, getragen vom begeisterten Publikum – und erleichtert, dass alles geklappt hat, stimmlich und technisch. Von 10 Uhr morgens bis um 20:30 Uhr abends habe ich vorgelesen, vier Abschnitte jeweils zwischen 90 und 120 Minuten, dazwischen immer eine Pause für die Zuhörerinnen und Zuhörer und für mich und meine Stimme. Die reine Lesezeit des »Hyperion« von Friedrich Hölderlin betrug wie vorhergesagt sieben Stunden.
Seit vielen Jahren stehe ich als Vorleser allein oder mit meiner Sprecher-Kollegin auf der Bühne und habe in Studios gelesen – aber noch nie sieben Stunden vor Publikum.
Die Lesung hat meinen Blick auf Hölderlins Roman für immer verändert.
Eine Idee wird umgesetzt: Warum Hölderlin? Warum Hyperion?
Die Verbreitung des Corona-Virus soll verlangsamt werden. Im ganzen Land werden im März 2020 die Veranstaltungen abgesagt. Es trifft nicht nur die Leipziger Buchmesse, sondern alle kulturellen Veranstaltungen. Nicht mehr rausgehen, nicht mehr Menschen treffen. Online-Aktivitäten boomen.
Eine Online-Lesung per Stream ist fürs literaturcafe.de eine naheliegende Idee. Erfahrungen gab es. Aber was soll man lesen?
Dann die Berichte, dass die vielen Feierlichkeiten zu Friedrich Hölderlins 250. Geburtstag am 20. März 2020 ausfallen. Es trifft seine Geburtsstadt Lauffen am Neckar, den Hölderlinturm in Tübingen, wo der Dichter von 1807 bis 1843 lebte, und es trifft das Literaturarchiv Marbach, wo eine Ausstellung hätte eröffnet werden sollen, zu der sich sogar der Bundespräsident angekündigt hatte. Seit Jahren wurde das »Hölderlinjahr 2020« geplant. Ein dicker Katalog listet alle Veranstaltungen auf. Unklar ist derzeit, was davon stattfinden wird. Es ist traurig.
Da ich den Roman »Hyperion« aus anderen Zusammenhängen kenne und obwohl ich meine Probleme mit diesem Text habe, ist das Projekt klar: An Hölderlins 250. Geburtstag den kompletten Roman für die Menschen via Web live vorlesen. Eine Herausforderung, textlich, stimmlich und technisch. Sieben Stunden Hölderlin – dem will ich mich stellen.
Der Text: Wie bereitet man sich auf solch ein Werk vor?
Im Jahr 1999 habe ich mich das erste Mal mit »Hyperion« beschäftigt – beschäftigen müssen. Es war eine Auftragsarbeit. Für eine Lesung mit Abendessen für ein mittelgroßes Publikum war eine gute Stunde Hölderlin gewünscht.
Ich las den Text – und verstand nichts. Worum ging es hier? Das Ganze schien nichts als ein schwülstiger, romantischer Sprachschwall, durchsetzt mit einer Griechenland-Romantisierung. Ich war verzweifelt, wie ich Textausschnitte aussuchen sollte, wenn ich zum großen Ganzen keinen Zugang hatte. Ich besuchte meinen Kollegen Malte Bremer, der ein glühender Bewunderer dieses Textes ist, und er versuchte, mir den Inhalt zu erklären, und empfahl mir die besten Textstellen. Allen voran die bekannte und berühmte Passage am Schluss des Romans »So kam ich unter die Deutschen …«. Immer noch erschloss sich mir der Text nicht, doch ich konnte zumindest die eineinhalb Stunden füllen. Die Reclam-Ausgabe, in der ich mir damals mit Bleistift die Textstellen notiert hatte, hatte ich bei meiner Livelesung in der Hand.
Kurz nach der damaligen Lesung 1999 lud mich ein Zuhörer ins Ludwigsburger Schlosstheater ein, wo Heinz und David Bennent mit dem »Hyperion« als szenische Lesung gastierten. Es brachte mich dem Text wieder nicht näher.
Die nächste Begegnung fand 2011 statt. Kein geringerer als Christian Brückner las an zwei Tagen den kompletten »Hyperion« in Tübingen, die beiden ersten Teile sogar im Hölderlinturm. Ich war dort, las den Text im Publikum mit und führte anschließend fürs literaturcafe.de ein Interview mit Brückner. Und immer noch hatte ich keinen Plan, worum es hinter diesen gewaltig klingenden Worten und den ewig langen Sätzen ging.
Es war gewagt, den Text 2020 komplett und live vor dem Netz-Publikum zu lesen. Aber dem wollte ich mich stellen! Ich las zur Probe die ersten 10 Seiten und baute auf meine jahrelange Erfahrung im Prima-vista-Lesen von Texten. Und ich las die Inhaltszusammenfassung in der Wikipedia. Das war meine Vorbereitung. Ich hatte nicht den kompletten Text gelesen, schon gar nicht laut.
Jedoch hatte ich gemerkt, dass ich die Kommas im Text beim Lesen in Gedanken selbst setzen musste, da die hölderlinsche Setzung nicht der heutigen entspricht. Dialogpassagen sind nicht mit Anführungszeichen gekennzeichnet. Ausrufe- und Fragezeichen tauchen mitten in den Sätzen auf. Ich musste mich auf die Punkte am Ende der oft sehr, sehr langen Sätze verlassen, auf mein Sprachgefühl und die jahrelange Erfahrung als Sprecher. Von der Idee bis zur Umsetzung waren es ohnehin nur fünf Tage. Anmerkungen oder Notizen im Text machte ich mir keine.
Um meine Stimme machte ich mir keine Sorgen. Bei den Seminaren, die ich gebe, spreche ich viele Stunden am Stück. Meine Stimme muss für sieben Stunden keinen Theaterraum füllen, sondern intensiv am Mikro sein.
Am 20. März 2020 pünktlich um 10 Uhr beginne ich mit der Lesung.
Und er ist da! Das Vertrauen in den Text wirft ihn mir plötzlich mit einer Klarheit entgegen. Handlung, Inhalt, Sprecher, Stimmen – alles ist auf einmal da! Nie habe ich einen Text so erlebt. Es ist, als habe er darauf gewartet, dass er mich hier und heute erreicht. Ich bin Hyperion. Ich bin Alabanda. Ich bin Diotima. Es öffnet sich mir der Aether, kann ich mit Hölderlin sagen, nein: rufen. Im Roman »rufen« die Menschen immer, niemand »sagt« nur etwas. Das Lesen des Textes ist wie ein Rausch.
Um 20:30 Uhr bin ich glücklich und erschöpft – aber auch ein wenig traurig, dass ich aus diesem Text wieder auftauchen musste. Meine Stimme ist noch da.
Die Technik: Streaming aus der Lounge der Lodge
Ein Smartphone hätte gereicht. Man klickt auf der YouTube-App auf den Live-Button, gibt Überschrift und Beschreibung ein, und man ist live. So hatte ich es mehr oder weniger gemacht, als ich vor fast zwei Jahren in der Black Forest Lodge in Igelsberg vor »echtem« Publikum die Lesung von Theodor Storms »Schimmelreiter« ins Netz übertrug.
Doch der Ton musste besser sein, als ihn das Smartphone aufnimmt. Über einen sogenannten iRig-Adapter kann man ein professionelles Mikro mit dem iPhone verbinden. Schöner noch wäre es, wenn man während der Lesung Infos und meinen Namen einblenden könnte oder gar Zwischenbilder in den Pausen.
Eine kurze Recherche und YouTube-Tutorials führen mich zu OBS, der »Open Broadcaster Software«. OBS ist eine kostenfreie Software, mit der sich mühelos Bilder, Videos und andere Elemente in den Stream einbinden lassen. Die Verbindung zu YouTube klappt auf Anhieb.
Viele streamen Live-Videos via Instagram bzw. Facebook. Doch dort verschwinden die Filme zu schnell in der Timeline, daher war die Entscheidung für YouTube klar, wo der Stream hinterher archiviert wird und somit besser abrufbar ist. Demnächst werden wir noch den Ton als MP3-Dateien zum Download bereitstellen.
Zur Ausleuchtung hätte ich Studioleuchten aus dem Büro des literaturcafe.de aufstellen können, doch für die Lounge in der Black Forest Lodge sollte eine kleine, kurzfristig beschaffte Ringleuchte reichen. Auch die hochauflösende Webcam stand nicht zur Verfügung, das Bild wird daher mit dem iPhone aufgenommen und drahtlos per EpocCam-App aufs Notebook übertragen, an das auch das Mikrofon angeschlossen ist.
Die Technik hat funktioniert, das Internet gehalten.
Happy Hölderlin! – Die Medien berichten
Die ganzen Planungen zum Hölderlin-Jahr hatte ich am Rande mitbekommen, unter anderen in den ganzen literarischen Gremien und Arbeitskreisen, in denen ich sitze. Dass der 250. Geburtstag des Lyrikers für mich unvermittelt solch ein rauschartiges Erlebnis werden würde, damit hatte ich nicht gerechnet.
Über die mediale Berichterstattung habe ich mich ebenfalls gefreut. Der Schwarzwälder Bote berichtete im Kulturteil, der SWR brachte einen Hinweis im Radio, und auf spiegel.de gehörte meine Lesung zu den kulturellen Tagestipps an diesem Freitag.
Dankeschön an alle Zuhörerinnen und Zuhörer!
Vielen Dank allen, die live mit dabei waren und zugeschaut und zugehört haben. Am Ende waren es laut YouTube an die 900 Leute. Davon haben sicherlich die wenigsten die vollen sieben Stunden mitgehört, doch auch die gab es. Sogar in Kanada hörte jemand seit 5 Uhr Ortszeit zu. Vielen Dank an alle, die mir geschrieben und mir ihre Eindrücke mitgeteilt haben.
Und was kommt als Nächstes?
Definitiv wieder eine Lesung als Live-Stream. Sicherlich nicht wieder sieben Stunden und sicherlich ein Text, der etwas zugänglicher ist. Im literaturcafe.de wird die Ankündigung zu lesen sein, und unser Newsletter informiert.
Bleibt gesund und bleibt zuhause! Ich werde wieder für euch lesen!
Wolfgang Tischer
Zum Nachhören: Die Live-Lesung im YouTube-Archiv
Klicken Sie einfach auf das Bild, um die Lesung zu starten. In der YouTube-Beschreibung finden Sie Sprungmarken, um die einzelnen Teile direkt anzuwählen.
guten Tag Herr Tischer, der Hölderlin Text i s t durch Ihre Lesung zugänglich geworden.
….Im Roman »rufen« die Menschen immer, niemand »sagt« nur etwas. Das Lesen des Textes ist wie ein Rausch…..
Was Hölderlin/Hypericon bei den Deutschen erlebt hat, die krassen Mentalitätsunterschiede von griechischem und deutschen Wesen ist nur zu verständlich, ” die Deutschen ” leben, locker gesagt, hinter dem Gebirge in Wäldern und in nördlichen, kälteren Gefilden, im Gegensatz zu griechischen Breitengraden. Das dämpft/verändert den Ausdruck der Emotionen, man ist nicht so freigiebig mit seinen Gefühlen.
Lesen Sie, oder haben Sie schon? Gabriel Garcia Marquez gelesen ” Hundert Jahre Einsamkeit ” Das Mentalitäts Phänomen ist, gegenüber dem deutschen Befinden ähnlich, wenn auch etwas anders gelagert.
Als die Lesung zu Ende war dachte ich auch: schon…… schade …..
Vielen Dank !