StartseiteBachmannpreis 2019Nachgerechnet: So unfair kann die Bachmannpreis-Shortlist sein

Nachgerechnet: So unfair kann die Bachmannpreis-Shortlist sein

Die Bachmannpreis-Shotlist in Zahlen und Szenarien (Jury-Foto: ORF/Johannes Puch)
Die Bachmannpreis-Shortlist in Zahlen und Szenarien (Jury-Foto: ORF/Johannes Puch)

Beim Bachmannpreis werden Literaturpreisgelder in Höhe von insgesamt 55.000 Euro vergeben. Doch die Hälfte der nominierten Autoren fällt zuvor der undurchsichtigen Shortlist zum Opfer und hat keine Aussicht auf einen Preis. Wer weiterkommt, ist vage. Wir haben nachgerechnet und belegen mit konkreten Zahlen und Beispielen, wie wenig literarisch die Vorauswahl sein kann.

Im Vorjahr geriet beim Bachmannpreis die Shortlist in die Kritik. Warum, das haben wir unmittelbar nach dem letztjährigen Wettbewerb thematisiert und wurde von Wolfgang Tischer im Bachmannpreis-Podcast erläutert.

Bevor die siebenköpfige Jury ihre vier Preise vergibt – darunter den mit 25.000 Euro dotierte Bachmannpreis – wird in geheimer Wahl eine Shortlist erstellt. Nur sieben von 14 Autoren schaffen es auf diese Liste, die auf Basis eines Punktesystems ermittelt wird.

Doch diese geheime Vorwahl ist anfällig für nicht-literarische Manipulationen. Nur ein geringer Teil der Jurorenstimmen entscheidet, wer weiterkommt. Fast könnte man vom Zufall sprechen, der entscheidet, wer es am Ende gerade noch so auf die Shortlist schafft.

Das literaturcafe.de zeigt, welche Szenarien hierbei möglich sind, die nichts mit einer literarischen Bewertung zu tun haben und dass die Shortlist ein eklatanter Bruch beim ansonsten transparenten Bachmannpreis ist.

Eines ist uns sehr wichtig: In keiner Weise unterstellen wir den Juroren oder Veranstaltern Manipulationen oder Schiebung! Wir werden zwar aufzeigen, dass es relativ einfach ist, einen schlechten Autor auf die Shortlist zu bringen, doch selbst bei einer fairen und realistischen Punktevergabe ist kaum eine literarische-qualitative Trennschärfe zwischen den Autoren gegeben, die es gerade noch auf die Shortlist schaffen und denen, die es gerade so nicht schaffen.

Unsere Szenarien belegen, dass das Shortlist-System im Hinblick auf einen fairen und transparenten Wettbewerb geändert werden sollte.

Basisdaten der Shortlist-Ermittlung

So läuft derzeit die Shortlist-Ermittlung beim Ingeborg-Bachmann-Preis: Die sieben Juroren verteilen jeweils 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1 Punkte auf sieben der 14 Autoren. Am Schluss werden die Punkte zusammengezählt, und die sieben Autorinnen und Autoren mit den meisten Punkten bilden die Shortlist. Bei Punktegleichheit kommt es nochmals zu einer Stichwahl. Die Wahl erfolgt geheim und nicht-öffentlich unter notarieller Aufsicht.

Nur wer auf der Shortlist steht, hat Aussicht auf einen der vier Jury-Preise in Höhe von insgesamt 55.000 Euro. Die sieben Autorinnen und Autoren, die es nicht auf diese Liste geschafft haben, gehen leer aus. Einzige Ausnahme ist der nicht von der Jury vergebene BKS-Publikumspreis, der daher in dieser Betrachtung keiner Rolle spielt.

Jeder der sieben Juroren vergibt also 28 Punkte, das macht insgesamt 196 Punkte. Maximal kann ein Autor 49 Punkte erhalten (7×7). Bei einer gleichmäßigen Verteilung würden auf jeden Autor 14 Punkte entfallen.

Beim Bachmann-Preis gibt es das Paten-System, d. h. jeder Juror hat zwei Autoren zur Lesung nach Klagenfurt eingeladen. Wir gehen bei unseren Szenarien daher grundsätzlich davon aus, dass die Juroren loyal zu »ihren« Autoren stehen, egal wie die Jury-Diskussion verlief. Da bei der Shortlist die Juroren den eigenen Autoren Punkte geben können, gehen die 7 und 6 Punkte jeweils an die »Patenautoren«. Jeder der 14 Autoren hat daher auf jeden Fall zunächst einmal 7 oder 6 Punkte.

Abbildung 1: Grundannahme
Abbildung 1: Da die Juroren Punkte für die »eigenen« Autoren vergeben dürfen, gehen wir bei allen Überlegungen davon aus, dass sich die 7- und 6-Punkte-Wertungen loyal auf alle Autoren verteilen. Somit sind allein 91 der insgesamt 196 Punkte vergeben.

Von den 28 Punkten, die jeder Juror vergeben kann, verbleiben somit für die restlichen 12 Autoren nur 15 Punkte (5+4+3+2+1), also insgesamt 105 der ursprünglichen 196 Punkte. Im Schnitt also pro Autor nur 7,5 Punkte.

Schauen wir uns mit diesen Grundüberlegungen zwei Szenarien an und welchen Einfluss die restlichen Wertungspunkte auf die Shortlist haben.

1. Szenario: Bewusste oder unbewusste Förderung schwacher Autoren

Im 1. Szenario gehen wir davon aus, dass zwei Juroren einen Autor fördern wollen, dessen Text nach literarischen Gesichtspunkten so schlecht ist, dass er eigentlich nicht shortlistwürdig ist. Die Gründe hierfür können vielfältig sein und müssen nicht in niederen Absichten liegen. Die beiden Juroren müssen sich hierfür auch nicht absprechen. Das Problem ist: Aufgrund der geheimen Abstimmung müssen sich die Juroren nicht für ihr merkwürdiges Stimmverhalten öffentlich erklären. Niemand bemerkt es.

Es können persönliche Sympathien für einen Autor sein. Es kann sein, dass man einen Autor aus dem eigenen Land fördern möchte. Es kann aber auch sein, dass man seine 5 Punkte bewusst einem schwachen Autor gibt, damit es dieser auf die Shortlist schafft, sodass dieser später bei der Endabstimmung keine Konkurrenz für den eigenen Autor darstellt. Immerhin bekommen vier der sieben Shortlist-Kandidaten einen Preis.

Abbildung 2: 1. Szenario: Bewusste oder unbewusste Förderung schwacher Autoren
Abbildung 2: Beim 1. Szenario gehen wir von einem schlechten Autor 4b aus, der es mit seinem Text nicht auf die Shortlist schaffen würde. Dennoch wollen ihn die Juroren 2 und 5 auf die Shortlist bringen, sodass ihm diese Juroren je 5 Punkte geben, nachdem sie die 6 und 7 Punkte an die eigenen Autoren vergeben haben. Zudem erhält Autor 4b die 6 Punkte von »seinem« Juror 4.

Die Rechnung zeigt, dass bereits zweimal 5 Punkte ausreichen können, damit es ein Autor auf die Shortlist schafft. Das ist umso leichter in den Jahren, in denen es keine eindeutigen Favoriten gibt und sich die restlichen Punkte relativ gleichmäßig auf die 14 Autorinnen und Autoren verteilen. Wie oben vorgerechnet, liegt der Schnitt der restlich zu vergebenen Punkte bei 7,5 – mit 10 Punkten liegt der schwache Autor bzw. der schwache Text deutlich über diesem Wert.

Abbildung 3: 1. Szenario: Bewusste oder unbewusste Förderung schwacher Autoren
Abbildung 3: Wir nehmen im 1. Szenario an, dass es ansonsten keinen Favoriten gibt und verteilen die übrigen Punkte nach dem Zufallsprinzip möglichst gleichmäßig. Obwohl der schlechte Autor 4b zusätzlich nur von 2 Juroren Punkte bekommt, ist er auf der Shortlist. Autor 2a beispielsweise, der zusätzlich Punkte von 3 Juroren bekommt, ist nicht dabei.

Zwei von sieben Juroren, die ihre Punkte auf diese Weise vergeben, könnten bereits einen schwachen Autor auf die Shortlist heben. Sind es gar drei Juroren, ist der Autor umso sicherer dabei.

2. Szenario: Normale Punktvergabe bei drei Favoriten

Doch wir müssen nicht von einer bewussten oder unbewussten Manipulation der Shortlist ausgehen. Selbst bei einem normaler Bachmann-Jahrgang ist offensichtlich, dass die Shortlist mit ihrem Punktesystem nicht ausreichend gerecht ist.

Nehmen wir an, dass es drei Favoriten gibt, die mit ihren Texten qualitativ aus dem Teilnehmerfeld herausstechen. Und gehen wir weiterhin von der Annahme aus, dass die Juroren loyal zu »ihren« Autoren stehen und diesen ihre 7 und 6 Punkte vergeben.

Von den restlichen Juroren erhalten die drei Favoriten also 5, 4 oder 3 Punkte.

Abbildung 4: 2. Szenario: Normale Punktvergabe bei drei Favoriten
Abbildung 4: Beim 2. Szenario gehen wir von drei Favoriten aus (grün). Neben den 7 Punkten vom »eigenen« Juror bekommen die drei von diesen 5 oder 4 Punkte (blau). Die restlichen Juroren vergeben den Autoren ihre 5, 4 oder 3 Punkte (grün), nachdem sie ebenfalls den »eigenen« Autoren ihre 7 und 6 Punkte gegeben haben. Somit entscheiden nur noch 30 verbleibende Punkte darüber, welche vier anderen Autoren es auf die Shortlist schaffen werden.

Da diese Autoren von »ihren« Juroren 7 (oder 6) Punkte bekommen haben, erhält jeder der drei Top-Autoren bei gleichmäßiger Verteilung der Maximalpunktzahlen 32 Punkte (oder 31).

Da die übrigen 6 und 7 Punkte für die »Patenautoren« vergeben wurden, sind 166 der 196 Gesamtpunkte verteilt.

Somit entscheiden marginale 30 Punkte darüber, welche 4 der verbleibenden 11 Autoren auf die Shortlist kommen!

Oder eklatanter in Prozentzahlen ausgedrückt:

Lediglich 15% der Punkte entscheiden, welche 79% der Autoren es noch auf die Shortlist schaffen.

Im Schnitt verbleiben 2,7 Punkte, die zu den 7 oder 6 Punkten vom eigenen Juror hinzukommen. Wer insgesamt lediglich 4 weitere Punkte erhält, kann bereits weiterkommen. Pro Juror sind nur noch 3, 2 und 1 Punkte zu vergeben. Das ist ein Bewertungsspektrum, bei dem man nicht mehr von einer qualitativen Trennschärfe, sondern eher von Zufall sprechen kann.

Abbildung 5: 2. Szenario: Normale Punktvergabe bei drei Favoriten
Abbildung 5: Verteilen wir die restlichen Punkte gleichmäßig auf die verbleibenden 11 Autoren, so wären nur fünf Autoren sicher auf der Shortlist. Zwischen drei Autoren müsste eine Stichwahl entscheiden, wer weiterkommt. Mit ihren 11, 10 oder 9 Punkten liegen viele Autoren in diesem Bereich jedoch fast gleichauf. Nur ein Punkt kann entscheiden, wer weiterkommt. Gemessen an den 32 Punkten der Favoriten besteht eigentlich kein qualitativ erkennbarer Unterschied in diesem Feld. Weiterkommen ist nahezu Glückssache.

Die drei Favoriten sind klar weiter, die restlichen vier der Shortlist sind hingegen fast »zufällig« dabei, weil sie es bei den wenigen noch zu vergebenen Punkten gerade so über die Punktehürde geschafft haben, die gut zwei Drittel unter dem Wert der Favoritenpunkte liegt.

Man muss daher nicht – wie im 1. Szenario gezeigt – von einer bewussten oder unbewussten strategischen Punkteverteilung ausgehen. Bereits der Fall der »normalen« Punktvergabe zeigt, wie unscharf die Shorlist-Hürde ist, sodass oft ein Punkt Abstand entscheidet.

Das Ganze würde noch eklatanter verzerrt, wenn man das 2. Szenario (drei Favoriten) mit dem 1. Szenario verschränkt (Autor wird aus nicht literarischen Gründen gefördert).

Auf diese Weise lässt sich die merkwürdige Shortlist des Vorjahres erklären, auf der sich eindeutige Favoriten, aber auch Kandidaten wiederfanden, bei denen man es aufgrund der vorausgegangenen Text-Diskussion nicht erwartet hätte.

Wie sieht die Lösung aus?

Bereits im Bachmannpreis-Podcast war es der Vorschlag, das Ergebnis der Shortlist-Abstimmung vor der finalen Abstimmung öffentlich zu machen, um das 1. Szenario auszuschließen. Ein Juror kann unbemerkt keine seltsame Punktevergabe mehr vornehmen bzw. wird sich hinterher dafür erklären müssen.

Das Problem der geringen literarisch-qualitativen Trennschärfe des 2. Szenarios ist jedoch mit der öffentlichen Punktvergabe nicht aus der Welt geräumt. Es würde womöglich noch intensiver darüber diskutiert werden. Es wäre offensichtlich, dass es bessere Texte wegen eines Punktes Unterschied nicht auf die Shortlist geschafft haben und keine Chance mehr auf einen Preis bestand.

Daher ist es zusätzlich sinnvoll, bei der Shortlist die Punktevergabe für die eigenen Autoren auszuschließen, wie es im ersten finalen Wahlgang der Fall ist. Dies würde die Streuung der Gesamtpunkte vergrößern. Loyalität ist kein literarisches Kriterium, die Juroren wären freier in ihrer Entscheidung, und kein Autor wäre düpiert, wenn er von »seinem« Juror sieben und nicht sechs Punkte erhält – oder womöglich weniger.

Abbildung 6: 2. Szenario: Normale Punktvergabe bei drei Favoriten
Abbildung 6: Da Loyalität kein literarisches Kriterium ist, kann das 2. Szenario entschärft werden, indem an »eigene« Autoren keine Punkte vergeben werden dürfen. Die Juroren kommen bei einer öffentlichen Verkündigung dieses Ergebnisses auch nicht in Gewissenskonflikte gegenüber »ihren« Autoren. Diese Abbildung zeigt die gleiche Gewichtung wie Abbildung 5, jedoch wird so das Punktefeld gestreckter und Stichwahlen werden unwahrscheinlicher.

Für das Fernsehformat am Sonntag bliebe die Preisvergabe eine Abstimmungsentscheidung zwischen den sieben Shortlist-Kandidaten.

Alle Lösungen, die nach der Shortlist-Ermittlung eine offene Jurydiskussion und -einigung mit Zeitvorgabe (wie beim Bayerischen Buchpreis) vorsehen würden, bergen zu sehr das Risiko, dass sich die Jury während der TV-Liveübertragung nicht einigen könnte.

Sinnvolle Reformen im Überblick

Fassen wir abschließend die Reformvorschläge für die Shortlist bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur zusammen:

  • Es bleibt dabei, dass die Shortlist am Sonntagmorgen unter notarieller Aufsicht vor der finalen Preisabstimmung im TV per Punktabgabe (7 bis 1) ermittelt wird, ggf. mit einer Stichwahl.
  • Die Juroren dürfen bei der Shortlist-Abstimmung den »eigenen« Autoren keine Punkte mehr vergeben.
  • In der TV-Sendung verkünden die Juroren nacheinander ihre Punkteverteilung für die Shortlist, was es für das Publikum zusätzlich spannend macht. Die Shortlist-Ermittlung ist transparent und kann später auch auf bachmannpreis.at eingesehen werden.
  • Die sieben Shortlist-Kandidaten werden abschließend in kurzen Einspielfilmen vorgestellt.
  • Die finale Preisabstimmung der vier Preisträger bleibt unverändert.

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1 Kommentar

  1. Exzellente Analyse!

    Dumm nur, wenn dann ein offensichtlich schwacher Beitrag am Ende gewinnt. Du erinnerst dich vermutlich auch an ein Jahr, wo das von dir beschriebene System in Kombination mit den jurierenden Paten zu einem absurden Gewinner geführt hat. Ich habe Scham empfunden. Es war peinlich.
    Das war Jahr, wo der Bachmannpreis für mich seine Relevanz verloren hat. Nicht die Texte, der Preis. Sehr, sehr schade. 🙁

    Für mich liegt die Wurzel von allen Problemen die entstehen in der Patenschaft. Die missglückten Diskussionen, wo immer auch Eitelkeiten verhandelt werden. Der Juror/die Jurorin, der/die einlädt und sich indirekt erklärt und verteidigt überlagert den Text leider oft.

    Ich stelle mir einen Bachmannpreis ohne Paten vor und denke mir: Das wäre großartig.

    Danke, dass du den Preis ungeachtet der “Störungen” nicht aufgibst. 🙂

    viele Grüße aus Wien,
    Paula

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