Mythos und Misshandlung - Ulrich Struve über Kaspar Hauser
 

Eine verworrene Botschaft

BrustbildAuch Eberhard Raetz hat sich offensichtlich historisch kundig gemacht. Dennoch fällt Kaspartheater: Eine Reise von Karlsruhe ins Frankenland gegenüber den beiden vorigen Werken deutlich ab. Das liegt nicht zuletzt an der schnoddrigen Prosa und am Ton des Buches, der unsicher zwischen pedantisch und gezwungen frivol schwankt.
     Erzählt wird von der knapp einwöchigen meandernden Autofahrt, die eine junge Doktorandin aus Kiel gemeinsam mit Karl Hess, Archivar am Badischen Generallandesarchiv, auf den Spuren Kaspar Hausers unternimmt. Von Karlsruhe geht es über Rastatt nach Beuggen, schließlich nach Ansbach und Pilsach. Hess, 39 und von Horror vor seinem Vierzigsten befallen, stellt der Doktorandin sein umfangreiches Wissen über Kaspar Hauser zur Verfügung — einzig in der Hoffnung, sie ins Bett zu kriegen. Dass das dann auch erwartungsgemäß klappt, mag noch angehen, wäre da nicht der abstruse Versuch, anhand der Geschichte Kaspar Hausers und der Begegnung von Karl Hess und Deborah Herzen (Namen werden hier nicht sehr subtil gewählt) das deutsch-jüdische Verhältnis nach dem Holocaust zu thematisieren.
     Der Roman ist mit diesem Thema aber sichtlich überfordert, das Material auch erzählerisch nicht bewältigt. Kaum, dass es gelänge, plastische Charaktere zu zeichnen oder deren Beziehung zueinander schlüssig zu entfalten. Plötzliche Gefühlsaufwallungen, häufige Streitereien und unmittelbar darauf folgende Versöhnungen sollen, so scheint es, die beiderseitige Verletzlichkeit des ungleichen Paars demonstrieren. Sie werden als hohes emotionales Drama zwischen ‚dem Deutschen‘ und ‚der Jüdin‘ präsentiert, wirken aber meist unglaubwürdig und, schlimmer noch, lächerlich. Warum sich eine selbstbewusste jüdische junge Frau wie Deborah Herzen auf diesen passiv-aggressiven, gelegentlich in platteste antisemitische Phrasen und Grausamkeiten abgleitenden Trauerkloß von Mann einlassen sollte, bleibt bestenfalls schleierhaft.
     Auch sonst ist es um den Romanhelden nicht gut bestellt. Im Anschluss an einen Streit beglückt Archivar Hess, von Deborah zurechtgewiesen, den Leser mit folgender Perle: »Ich fühlte mich plötzlich hundeelend. Ich glaube nämlich wirklich daran, dass die Frauen der bei weitem bessere Teil der Menscheit sind! Der Kaspar bringt mir alles durcheinander!« An dem unausgegorenen Durcheinander dieses Romans ist aber wohl weniger der Kaspar schuld als vielmehr der Autor. Am Ende muss Hess in einem Autounfall sterben. Das ist unschwer als symbolische Wiedergutmachung für seine hässlichen Ausfälle gegenüber Deborah zu entziffern, doch demonstriert es erneut die Hilflosgkeit des Autors gegenüber seinem Material. Raetz will Tragödie suggerieren — es reicht aber nur für billiges Melodrama.
     Der Rahmenerzähler und »Herausgeber« von Hess‘ Manuskript bezeichnet sich in der Einleitung als einen »Entschlüssler und Codebrecher von verirrten und verwirrten Mitteilungen«. Von Entschlüsselung ist in Kaspartheater wenig zu spüren. Eine ausgesprochen verwirrte Mitteilung, das ist der Roman in der Tat.

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Lesen Sie zum Thema Kaspar Hauser auch Ulrich Struves Sondernotiz »Selbstheilung mit Kaspar H.«


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