Ein neues Kaspar-Hauser-Epos Ebenso spannend wie das Intrigenspiel um den Findling oder Prinzen ist die anhaltende Transformation der historischen in eine literarische Figur. Von schauerromantischen Romanen und Bänkelliedern reicht sie über Dramen, Gedichte, Lieder und Filme bis zur Performance-Kunst der Gegenwart. Selbst zwei Hauser-Opern und ein Ballett zierten bereits die Bühne. Die jüngsten Beiträge zur literarischen Kaspar-Hauser-Tradition, die ich in der Anthologie Der Findling: Kaspar Hauser in der Literatur vorgestellt habe, stammen aus der Feder des in Oxford lehrenden Lyrikers David Constantine, des Autorenduos Thiemt/Schreeb und des gebürtigen Karlsruhers Eberhard Raetz. Constantines Caspar Hauser, ein episches Gedicht in neun Gesängen, wird getragen von vier Stimmen: einem Erzähler, dessen Bericht die drei Hauptstimmen des Gedichts umrahmt, unterbricht und herausfordert, und von den Erinnerungen und Reflexionen Daumers, Clara Biberbachs und Lord Stanhopes. Daumers Stimme ist voll von Nostalgie und bitterem Bedauern. Der träumerisch erinnerte Anfang, als Caspar »neu war« und »sein Mitleid grenzenlos« stehen in scharfem Kontrast zu Hausers blutigem Ende. Einfühlsam und mit großer Zärtlichkeit wird Claras melancholische Trauer beschrieben. Verheiratet mit einem arbeitswütigen Mann, hatte sie auf ein Entkommen mit dem Findling gehofft. In ihrer Liebe zu Caspar zeigte sich der einzige, ihr doch stets verwehrte Ausweg aus einem verfehlten Leben. Lord Stanhope ist ein spirituell unbehauster Mann, der weder Ruhe noch klare Loyalitäten kennt. Er sehnt sich nach Caspar »wie eine Kammerzofe mit Liebeskummer«. Und doch verschuldet er Hausers Tod, übergibt ihn »an einen Zufluss des Acheron«. Die zeitgenössischen Intrigen deutet Constantine nur am Rande an. Ihm geht es vor allem um das mythische Potenzial des Stoffs. Nach dem ersten Attentat klammert sich Caspar an Daumer »as a cowardly Jesus/ Might have to a fatherly Judas«. Lord Stanhope entwickelt messianische Aspirationen für seinen Pflegesohn. Aber Caspar endet wie Christus am Kreuz, denn »Anselm Feuerbach/ Was nailing him with facts to a family tree«. Und nach seinem Tod wird er unter das Volk zerstreut: »The crumbs still lodging here and there would make/ More bread of life than Caspar ever broke«. Doch bietet dieses Brot nicht eucharistische, sondern poetische Nahrung. Es ist für jene geeignet, denen ein wohlgeformter Vers, ein überraschend bildkräftiges Wort, die karge und zugleich berückende Sprache der Lyrik lebensnotwendig sind. Ihnen sei Constantines Gedicht wärmstens empfohlen. Die kongeniale deutsche Übersetzung von Peter Waterhouse kann man anhand der ersten zwei Gesänge im Schreibheft vom Mai 1997 bereits in Augenschein nehmen; das Buch soll im Residenz-Verlag erscheinen. | |