Ein Fall von Kindesmisshandlung Jeffrey Masson, Mitherausgeber der Daumer-Notizen, nimmt den Hauser-Fall für eine ausgesprochen irdische Argumentation in Dienst. Der einst am Freud-Archiv forschende Analytiker wurde Anfang der Achtzigerjahre mit der Wiederentdeckung der von Freud verworfenen Verführungstheorie bekannt. Seine These, dass Freud den Klagen seiner Patientinnen über sexuellen Missbrauch im Elternhaus zuerst Glauben geschenkt und diesen nur unter dem Druck seiner Fachkollegen durch die zentrale Rolle der kindlichen Fantasietätigkeit ersetzt habe, hat in der öffentlichen Bewusstseinsbildung über Kindesmissbrauch eine Rolle gespielt. Und so liest Masson den Fall Kaspar Hauser als einen Fall von Kindesmisshandlung, den er, wenig überzeugend, mit der gegenwärtig in den USA tobenden Debatte über das so genannte »False Memory Syndrome« und die Zuverlässigkeit von Erinnerungen an traumatischen Missbrauch in Zusammenhang bringt. Hausers Fall stelle eine massive »Wiederkehr des Verdrängten«, des uneingestandenen Wissens um Misshandlung, dar. Die Täter und Opfer des 19. Jahrhunderts hätten in Kaspar Hauser ihre eigenen Erfahrungen wiedererkannt und im Gespräch über den Nürnberger Findling stellvertretend artikulieren können. Diese Lesart prägt auch die Einleitung zu Massons Feuerbach-Übersetzung, die unter dem reißerischen Titel Lost Prince: The Unsolved Mystery of Kaspar Hauser in New York erschienen ist. Kindesmisshandlung war, folgt man Masson, »das am heftigsten verleugnete Faktum des 19. Jahrhunderts, so wie der sexuelle Missbrauch von Kindern das am heftigsten verleugnete Faktum des 20. Jahrhunderts war«. Derart markige Wendungen ohne weitere Belege an einem einzigen Fall festzumachen, scheint zumindestens gewagt. Auch sei dahingestellt, ob Masson den misshandelten Kindern unserer Tage wirklich einen Dienst erweist, wenn er für den Realitätsgehalt der Träume Hausers in die Bresche springt. Denn in ihnen ging es nicht um Misshandlung und Schmerz, sondern um eine reich gekleidete Mutter, um palastartige Häuser und Adelswappen. Auch haftet dem Essay ein Hauch von Willkür an, der sich aus der anachronistischen Rückprojektion gegenwärtiger Anliegen ergibt. Dass nämlich »die Misshandlungen, denen Kaspar Hauser ausgesetzt war, trotz ihrer Einzigartigkeit unseren eigenen Erfahrungen so fern nicht sind«, kann letztlich nur einfühlend-autobiographisch begründet werden. Und so schließt Masson, frei nach Flaubert: »Kaspar Hauser, cest moi!« | |