Ein sensationeller Fund In der historischen Hauser-Forschung ist es seit den Zwanzigerjahren zu keinen gößeren Aktenfunden gekommen (1). Umso mehr Beachtung verdient ein von Johannes Mayer und Jeffrey Masson vorgelegter Band. Er präsentiert Feuerbachs Kaspar Hauser nebst einem Essay zur »Hinwegschaffung von Persönlichkeiten« von einem Enkel des Juristen. Der wittert reihenweise verdächtige Todesfälle, die auf das Konto des Badischen Hofes gehen sollen. Wertvoll wird das vor drei Jahren in Enzensbergers »Anderer Bibliothek« verlegte Buch durch die Erstveröffentlichung der frühesten, in den Jahren 1828 bis 1830 von Georg Friedrich Daumer aufgezeichneten Notizen über Kaspar Hauser. Dieses umfangreiche Konvolut eines der ersten Augenzeugen diente als Grundlage für Daumers und Feuerbachs klassische Berichte von 1832. Es galt seit 120 Jahren als verloren, bis Masson unlängst in einem Privatarchiv eine Abschrift entdeckte. In einem Sachgebiet, wo sich konkurrierende Interpretationen wechselseitig überbieten, ohne auf nennenswerte neue Quellen verweisen zu können, ist ein solcher Fund sensationell. Natürlich sind auch diese Notizen geprägt von Daumers Erkenntnisinteressen. Seitenweise protokolliert er Hausers Metallfühlen und außerordentlichen Gesichtssinn, seine Nahrungsaufnahme und die »Veränderung seines Wesens nach dem Genuss von warmen und Fleischspeisen«. Ein unmittelbarer, authentischer Zugriff auf den Findling ist hier so wenig wie anderswo zu haben (2). Auch ändern die Notizen nichts an unserem grundlegenden Wissen über Kaspar Hauser. Doch haben sie eine Frische und Direktheit, die den späteren Berichten abgeht: »1828. Will Stallmeister oder Professer werden«, heißt es einmal. Oder an anderer Stelle: »Als er eine Sternschnuppe fallen sah, sagte er: es sei ein Stern herabgefallen, der nicht gut befestigt gewesen«. Ebenso finden sich Eintragungen, die vollkommen querstehen zu dem sonst von Daumer propagierten Bild des Findlings als engelhaft unschuldigem Wesen: »Nov. 1829. Als er von einem türkischen Pascha las, der eine russische Mannschaft treuloser und schändlicher weise habe niedermetzeln lassen, geriet er in großen Zorneifer und sagte: einen solchen Menschen solle man gleich aufhängen, aber so, dass er noch eine Weile zappeln müsse und nicht gleich tot sei«. Das Bild vom Menschen Kaspar Hauser wird durch den Blick in Daumers Zettelkasten reicher, komplexer, es bekommt Zwischentöne, die nicht in der Idealisierung seiner Fürsprecher oder der Verächtlichmachung seiner Gegner aufgehen. | |