Seit Alexander Mitscherlich 1950 vom Kaspar-Hauser-Komplex sprach, der für den modernen, an Vereinsamung leidenden Massenmenschen kennzeichnend sei, ist wiederholt versucht worden, den Namen »Kaspar Hauser« als Eponym für Kulturerscheinungen oder medizinische Syndrome aufzugreifen. Zuletzt hat dies der amerikanische Sexualforscher und Endokrinologe John Money getan, als er 1992 das Kaspar-Hauser-Syndrom des »psychosozialen Zwergwuches« beschrieb(3). Andere Autoren bemühen sich, aus Hausers »Fall« Lehren für die Gegenwart zu gewinnen, so etwa Erich Renner von der Pädagogischen Hochschule Erfurt. In einer vergleichenden Studie zu Kaspar Hauser und Victor de Aveyron dem Vorbild für Truffauts LEnfant sauvage geht Renner den Formen der von beiden Kindern erlittenen Isolation und Deprivation nach. Sein Hauptinteresse gilt jedoch der »Problematisierung des Erzieher-Zögling-Verhältnisses und seiner Voraussetzungen«, somit dem sozialgeschichtlichen Umfeld und der Ausbildung der Pädagogen Itard und Daumer, denen die Erziehung dieser Knaben primär oblag. Aus diesem Blickwinkel kann Renner gewisse Leitlinien pädagogischer Einflussnahme herausarbeiten, doch bleibt die Studie zu skizzenhaft, um wesentlich neue Erkenntnisse zutage zu fördern. Wenn Renner am Ende seiner 58-seitigen Studie zur Schlussfolgerung kommt, die »eigentliche pädagogische Botschaft dieser beiden Fälle« sei, »[k]indliche Entwicklung und Lernen brauchen als Grundlage und dauernden Bezugspunkt die voraussetzungslose Hinwendung zum Kind«, so ist das so zutreffend wie banal. Es ist eine Alltagsweisheit, die der historischen Bedeutung Victors und Kaspars nicht gerecht wird(4). Der Hamburger Pädagoge Friedrich Koch macht dagegen am Kaspar-Hauser-Fall eine stärker historisch fundierte Kritik der bürgerlichen Tugenderziehung fest. Anhand der Erziehungsratgeber des 18. Jahrhunderts primär Basedows, Campes und anderer Philanthropinisten zeichnet Koch die zentrale Bedeutung von Werten wie Ordnung, Sauberkeit, Dankbarkeit, Ehrlichkeit, Gehorsam, Fleiß, Bescheidenheit und sexuellem Wohlverhalten nach, die das sich konstituierende Bürgertum als Kontrastprogramm zur verwerflichen Lebensweise des Adels entwickelte. Diese Werte hat Kaspar Hauser, so vermag Koch eindrucksvoll zu zeigen, bei seinem Auftauchen in solch mustergültiger Weise erfüllt, dass ihm die begeisterte Aufnahme durch die Zeitgenossen sicher war. Nicht etwa nur ein schwärmerischer Rousseauismus seiner Erzieher ist für Hausers Anfangserfolge verantwortlich zu machen. Die Kehrseite bürgerlicher Tugenden tritt laut Koch in den Sanktionsmechanismen zutage, mit denen die Erziehungsratgeber und Hausers Umgebung aufwarten, sobald die Ansprüche an Tugendhaftigkeit nicht mehr erfüllt werden. In den letzten Jahren seines Lebens sei Kaspar Hauser daher von Lehrer Meyer einer »kompakten Nacherziehung« ausgesetzt worden, die ihn schließlich »psychisch und physisch vernichtet« habe. Koch folgert auch für die Gegenwart, dass »eine rigorose Verpflichtung der Kinder und Jugendlichen auf jenes Tugendkonzept [sie] nicht in die Gesellschaft integriert, sondern sie in Isolation und Einsamkeit stößt«. Diesen bis heute virulenten Prozess nennt er den Kaspar-Hauser-Effekt. Die Schlussfolgerungen, die Koch aus seiner polemisch unterfütterten Analyse zieht, bleiben trotzdem unausgegoren. Geißelt Koch die Tugenderziehung eingangs als »spießige Ideologie« und »Propaganda«, die »schwere Schädigungen« verursacht, so wird abschließend deutlich, dass die erzwungene Durchsetzung dieser Tugenden für ihn das eigentliche Problem darstellt. Auch die Ziele einer emanzipatorischen Erziehung, die Koch im Geist der 68er Kulturrevolution befürwortet, sind ohne ein gewisses Maß an Tugenden nicht zu realisieren. »Was ist meine Solidarität mit den Verfolgten und Eingekerkerten wert«, fragt er, »wenn ich bei Amnesty International in einer verschworenen Gemeinschaft von notorischen Faulenzern arbeite?«
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