Herwig Oberlerchners »psychoanalytisch orientierte Assoziationen« zu Kaspar Hauser sind aus einer Klagenfurter Diplomarbeit aus dem Jahre 1997 hervorgegangen. Der Autor, seines Zeichens Doktor der Medizin, Psychoanalytiker und derzeit in der Ausbildung zum Psychiater befindlich, macht sich in Der Kaspar-Hauser-Mythos anheischig, psychoanalytische Konzepte der »Gegenübertragung« und der »bewusst eingesetzten projektiven Identifikation« (29) zu nutzen, um der Faszination des Nürnberger Findlings auf die Spur zu kommen. Ziel seiner Forschung sei, sowohl »den historischen Kaspar Hauser und die Gesellschaft seiner Zeit zu verstehen« als auch einen »tiefe[n] Selbsterkenntnisprozess« einzuleiten (30), der die Bearbeitung vordem unerkannter Traumata fördert, letztlich also ein auto-therapeutisches Anliegen. Diese zweifache Absicht verfolgt Oberlerchner in Kapiteln zum »Kindermord« des Prinzen Alexander und des Sohns der Familie Blochmann, zu Kindheit und Kerkerhaft Kaspar Hausers, zu Lehrer Meyers »Schwarzer Pädagogik« und den Leiden Hausers als »Versuchskaninchen Daumers«, in »Assoziationen zum Autismus« und Überlegungen zu Hauser als »Extremtraumatisierter«. Oberlerchner konfrontiert diese Themen mit theoretischen Ansätzen etwa von Lloyd de Mause (Psychohistorie der Kindheit), Winnicott (Übergangsobjekt) und Bettelheim (Austismus). Allerdings werden die Theorien nicht mit den Quellen vermittelt, sondern rein spekulativ auf die Protagonisten der Geschichte Hausers projiziert. Ein Beispiel soll genügen, die durchgängig auf diese Weise geführte »Argumentation« Oberlerchners zu kennzeichnen. Aus der Forschung von de Mause gewinnt Oberlerchner die Einsicht in eine vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert fortgesetzte Gewaltsamkeit gegenüber Kindern, die auch Infantizid keineswegs ausgeschlossen habe und sich dem Machtstreben der Erwachsenen verdanke. Es gilt Oberlerchner als unfraglich, dass sich auf diesem (Um)Weg, Rückschlüsse über die Kindheit derjenigen gewinnen lassen, die am Komplott gegen die Badischen Prinzen beteiligt gewesen sind; Machtgier alleine sei als Erklärung für die Grausamkeit eines Mordes an Kindern nicht hinreichend. Mit anderen Worten: Misshandler müssen zwangsläufig als Kinder selber misshandelt worden sein. Wo sich de Mause jedoch der Mühe archivalischer Arbeit unterzog, setzt Oberlerchner auf freie Assoziation. So kommt er zu dem von historischen Belegen unbehelligten Schluss, es müsse »für die am Komplott Beteiligten ein großes, innerpsychisches, unbewusstes Bedürfnis gewesen sein, sich so zu verhalten« (43). Wo derartige Spekulationen als Forschungsergebnisse gelten sollen, ist es nicht weiter abwegig, ahistorischer Wertung nach heutigen Maßstäben das Wort zu reden (vgl. 54). Der Aussicht auf neue Einsichten in historische Zusammenhänge des Hauser-Falls beraubt, fragt man sich, wie es um Oberlerchners »Selbsterkenntnisprozess« steht? Auch hier enttäuscht jedoch der »Forschungsansatz [...] der identifikatorischen Auseinandersetzung« (13) des Autors, zumindest was er davon mitzuteilen bereit ist -- denn das ist herzlich wenig. Oberlerchner ergeht sich in vagen Andeutungen über den »Kaspar Hauser in mir« (117) und weist darauf hin, dass ihm der Findling »zum treuen Begleiter und Freund« (137) geworden sei: »Mit seiner Hilfe konnte ich mich auf Gefühle, Empfindungen und schmerzhafte Erinnerungen einlassen, was ich wohl ohne ihn [...] nicht in dem Ausmaß gewagt hätte« (137). Leider bringt Oberlerchner nicht den nötigen Mut zur Selbstentblößung auf, der einen Bericht über eine solche (Selbst-)Therapie mit Kaspar Hauser lesenswert oder sogar spannend machen könnte. Oberflächlich betrieben wie bei Oberlerchner, werden weder die Kaspar-Hauser-Forschung noch die Psychoanalyse vorangebracht.
Oberlerchner, Herwig. Der Kaspar-Hauser-Mythos: Psychoanalytisch orientierte Assoziationen auf den Spuren des rätselhaften Findlings. Sternenfels, Berlin: Wissenschaft & Praxis, 1999. Kart., 148 Seiten, Abb., 32 DM/16,36 EUR (Preisangabe ohne Gewähr). ISBN 3-89673-068-1.
Mehr zum Thema »Kaspar Hauser« bietet Ulrich Struves umfassender Rezensionsessay im Literatur-Café.
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