StartseiteLiterarisches LebenDas Literarische Quartett im Oktober 2021: Wir können das als Leserinnen!

Das Literarische Quartett im Oktober 2021: Wir können das als Leserinnen!

Zum ersten Mal beim Literarischen Quartett mit dabei: die Autorin Mithu Sanyal (Foto: ZDF/ZDF und Svea Pietschmann)
Zum ersten Mal beim Literarischen Quartett mit dabei: die Autorin Mithu Sanyal (Foto: ZDF/Svea Pietschmann)

Im Literarischen Quartett urteilten diesmal vier Autor:innen über die Bücher von Kolleg:innen. Bei einer entscheidenden »Darf man das heute so machen?«-Frage setzte Juli Zeh am Ende der Sendung einen mündigen Kontrapunkt.

Diesmal saßen im literarischen Quartett tatsächlich keine Literaturkritiker, sondern nur Autor:innen. Was allerdings die Frage aufwirft, ab wann man Literaturkritiker ist. In der Runde war diesmal wieder Philipp Tingler mit dabei, der mit »Philosoph« gebauchbindet wurde, was die Frage aufwirft, ab wann man Philosoph ist. Alles ist genauso wenig geschützt wie der Begriff des »Profilers«, wie wir vor dem Quartett von Jan Böhmermann erfahren haben.

Ebenfalls wieder mit im Quartett dabei: Juli Zeh, Reiterin und ehrenamtliche Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg ist. Letzteres wiederum kann nicht jede werden.

Neu beim Literarischen Quartett dabei war Mithu Sanyal, die mit ihrem Buch »Identitty« gute Chancen hat, am Montag den Deutschen Buchpreis zu gewinnen.

Wäre es nicht an der Zeit, »Das Literarische Quartett« in »Das literarische Karussell« umzubenennen?

Es ging in der Oktober-Ausgabe um den Roman »Every« von Dave Eggers, worin eine Frau gegen einen mächtigen Digitalkonzern kämpft, der die Welt besser machen will. Bis hin zur Frage, ob das nicht alles zu plakativ und überspitzt sei und ob der Roman als Satire zu lesen sei, hätte sich die Diskussion auch um den Vorgänger »The Circle« drehen können. Juli Zeh klärte auf: In »The Circle« ging es primär um Überwachung, bei »Every« geht es um das vermeintlich gute und richtige Leben, zu dem der fiktive Digitalkonzern die Menschen zwingen will und woran er scheitert.

Auch die Diskussion um Jonathan Franzens Roman »Crossroads« war zwiespältig und lässt nichts Gutes erwarten, es sei denn, man findet Franzen gut.

Leichte Uneinigkeit auch bei Marianna Salzmanns Roman »Im Menschen muss alles herrlich sein« und die Frage, ob man das dort Beschriebene alles wirklich so üppig erzählt riechen möchte. Selten wurde Sprache olfaktorischer bewertet.

Als letztes Buch ging es dann um die »Traumreisen« von Honoré de Balzac. Thea Dorn hatte schließlich mit der Übernahme des Quartetts angekündigt, dass es immer auch um ein neu erschienenes oder neue aufgelegtes älteres Werk gehen solle. Balzacs »Voyages Imaginaires« sind ursprünglich 1832 erschienen. Darin schildert der französische Autor Reisen nach China und Java, die er selbst gar nicht gemacht hat. Ulrich Esser-Simon hat den Text nun übersetzt und in der Friedenauer Presse herausgegeben.

Da klingeln beim woken Weltgeist natürlich alle Alarmglocken! Ein europäischer Autor schildert Reisen in ein asiatisches Land, in dem er selbst nie gewesen ist? Eine kulturelle Anmaßung, die für einige heutzutage undenkbar wäre. Balzac würde einen Shitstorm ernten! Denn – so erfahren wir in der Quartett-Diskussion – tatsächlich beinhalte das fast 200 Jahre alte Werk Stereotypen, Klischees und eine antisemitische Stelle.

Das Buch Balzacs sei, sagt Mithu Sanyal, in den Klischees und holzschnittartigen Beschreibungen näher an Dave Eggers. Sie vermisse ein Vorwort, das den Text aus heutiger Sicht einordne.

Da bestand am Schluss Juli Zeh darauf, einen Kontrapunkt zu setzten: »Als mündige Leserin war ich sehr froh, ein solches Vorwort nicht lesen zu müssen, weil ich dann das Gefühl gehabt hätte, man traut mir die vernünftige Rezeption nicht zu. Wir können das als Leserinnen!«

Wolfgang Tischer

Link ins Web:

  • Audio: Das Literarische Quartett vom 15.10.2021 in der Deutschlandfunk Audiothek und als RSS-Feed
  • Video: Das Literarische Quartett vom 15.10.2021 in der ZDF-Mediathek

Die in der Sendung vom 15.10.2021 besprochenen und erwähnten Bücher:

  • Dave Eggers; Klaus Timmermann (Übersetzung); Ulrike Wasel (Übersetzung): Every (deutsche Ausgabe): Roman. Gebundene Ausgabe. 2021. Kiepenheuer&Witsch. ISBN/EAN: 9783462001129. 24,70 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
  • Sasha Marianna Salzmann: Im Menschen muss alles herrlich sein: Roman. Gebundene Ausgabe. 2021. Suhrkamp Verlag. ISBN/EAN: 9783518430101. 24,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
  • Jonathan Franzen; Bettina Abarbanell (Übersetzung): Crossroads. Gebundene Ausgabe. 2021. Rowohlt Buchverlag. ISBN/EAN: 9783498020088. 27,70 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
  • Honoré de Balzac; Auguste Borget (Illustration); Ulrich Esser-Simon (Übersetzung): Traumreisen: China und die Chinesen. Reise von Paris nach Java (Friedenauer Presse Wolffs Broschur). Taschenbuch. 2021. Friedenauer Presse. ISBN/EAN: 9783751806084. 17,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

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5 Kommentare

  1. Wieder was gelernt heute: “woke”, der Begriff war mir neu.
    Und was ich bislang auch noch nicht wusste: Ein Buch kann gut und schlecht zugleich sein (Philipp Tingler).
    Ich lese wirklich sehr viel, aber ein Buch, das gut und schlecht zugleich ist, war noch nicht dabei, obwohl ich von mir behaupte: Als mündige Leserin bin ich durchaus in der Lage zu einer mündigen Rezeption – lese allerdings ein (gutes) Buch nie “wie ein Hund an der Leine”.
    Ach, was war das Literarische Quartett mit MRR noch ein Vergnügen …

  2. Ob Autor, Philosoph, Moderator oder Schauspieler, alles keine geschützten Begriffe. Zumindest hat Philipp Tingler Philosophie studiert und sogar promoviert. Ein Dr. phi. sollte sich Philosoph nennen dürfen. Was die ehrenamtliche Richterin am Verfassungsgericht betrifft, das kann jeder Ü30 mit dem richtigen Parteibuch werden. Und dass für Julia Zeh dieses Amt nicht gerade an erster Stelle steht hat man daran gesehen, dass sie der Vereidigung eine Aufzeichnung von Markus Lanz vorgezogen hat.

  3. Beim Verfolgen der Sendung ist mir vor allem aufgefallen, wie sehr sich drei kluge Frauen von einem Mann, der sicher unter einer dicken Schicht Eitelkeit auch klug ist, die Redezeit klauen lassen. Wie oft er den ersten Beitrag abgeben musste (“Ich, ich, ich zuerst”), den Frauen das Wort abschneiden und es sich nicht mehr abnehmen lassen, außer gelegentlich von Thea Dorn, das hat mich fast mehr gefesselt als die besprochenen Bücher. Die gelassene Nachsicht, mit der dies hingenommen wurde, hat mir die Frauen (vor allem Mithu Sanyal) umso souveräner erscheinen lassen. Und doch hat es mich jedes Mal gefreut, wenn Frau Dorn ihn ganz selbstverständlich unterbrochen hat.

  4. Ich wollte dem Lesen wie “ein Hund an der Leine” auf den Grund gehen und habe mir “Crossroads” gekauft.
    Fazit: Ich habe das Buch nicht mit demselben Vergnügen gelesen wie Frau Zeh, sondern habe die Leine durchgebissen und sehe es eher wie die “TAZ”: Alles mehrfach wiederholen, damit auch der Blödeste es versteht. (Sinngemäßg zitiert).
    Hier der Link zum Artikel: https://taz.de/Neuer-Roman-von-Jonathan-Franzen/!5805556/

    Dabei fällt mir auf, dass gerade Frau Zeh meint, der Leser sei fähig zu einer “mündigen” Rezeption. Stimmt. Unter “mündig” verstehe ich allerdings einen Menschen, der beim ersten Satz begreift, was gemeint ist. Wiederholte Erklärungen also nicht benötigt. Genau die aber macht Franzen unentwegt. Und das ist lästig. Abgesehen von Formulierungen wie “prahlte er unausstehlich”.

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