Buchmesse 2008? Alles schon wieder vergessen? Gerade noch Medienrummel scheinbar ohne Ende und nun schon wieder lange vorbei. Damit nicht alles vergessen wird, fasst Barbara Fellgiebel ihre wichtigsten Eindrücke von fünf Messetagen erneut hier zusammen. Mit Fotos von Wolfgang Tischer der am Messe-Wochenende anwesenden Cosplayer.
Montag
Vor zehn Jahren war ich ziemlich allein auf weiter Flur mit meinen Messeimpressionen. Heute schreiben – nicht zuletzt dank Blogs, den Internet-Tagebüchern für jedermann – Hunderte ihre Gedanken zur Frankfurter Buchmesse auf und verbreiten sie.
Meine Buchmesse 2008 beginnt mit der Verleihung des dbp 08, des Deutschen Buchpreises, mit 25 000 Euro der höchst dotierte deutsche Literaturpreis und einzigartig in seiner Forderung: Nur wer anwesend ist, kann gewinnen – was bedeutet, dass sich alle sechs Autoren, die es auf die Shortlist geschafft haben, einzufinden haben, egal ob sie krank sind oder nicht.
Ich marschiere erwartungsvoll um 17.30 Uhr in den Römer, das ehrwürdige Rathaus Frankfurts, das alljährlich den festlichen Rahmen für diesen nicht unumstrittenen Buchpreis bildet. Gleich am Eingang entdecke ich Julia Franck, die Gewinnerin des Vorjahres. Sie gibt sich vorsichtig verhalten und gibt keinen Tipp ab. Ihr hat der Preis ein hektisches Jahr erbracht, wenig Schreibruhe, viel Medienpräsenz und ein ökonomisches Ruhekissen. Denis Scheck, Mr. Druckfrisch, tippt hingegen gern: »Ich denke Tellkamp gewinnt, obwohl mir Dath lieber wäre«.
Die Shortlist besteht aus sechs nominierten, im vergangenen Jahr erschienenen Romanen von fünf Schriftstellern und einer Schriftstellerin. Die 7-köpfige Jury – ebenfalls nur mit einer Frau bestückt – hat diese Wahl aus 161 Neuerscheinungen des Vorjahrs getroffen, wobei jedoch kein Jurymitglied sämtliche 161 Bücher ganz gelesen hat.
Pünktlich um 18 Uhr beginnt Oberbürgermeisterin Petra Roth mit einer dreiminütigen Begrüßungsrede, bei der jedes Wort sitzt. Die darauf folgenden Herren fassen sich länger. Schließlich verkündet Moderator Gerd Scrobel nach anschaulicher Trailer-Vorstellung der sechs Shortlist-Kandidaten den Sieger: Uwe Tellkamp für Der Turm, die 970-seitige Familiensaga einer großbürgerlichen Familie in Dresden vor der Wende. Erschienen im Suhrkamp Verlag. Der Vergleich mit den Buddenbrooks dürfte wohl das größte Kompliment für dieses Buch sein.
Wie er sich eben gerade jetzt fühlt, frage ich Uwe Tellkamp zu Beginn der Pressekonferenz. »Ermattet!« Das kommt noch schlimmer, versichere ich ihm. Als die mehr oder weniger dümmlichen Fragen auf ihn niederprasseln, läuft er zur Hochform auf, gibt prägnante, sachliche Antworten. Sicher ein Schriftsteller, von dem wir noch mehr zu erwarten haben.
Die anschließende Cocktailparty ist weniger beeindruckend als zwei Jahre zuvor. Der Lack ist ab, beim 4. Mal wird alles zur Routine, und da es keine Überraschungen und Skandale gibt, die Häppchen irritierend schwer zu essen sind, der Wein mittelmäßig, machen sich viele recht bald aus dem Staub.
Dienstag
Um 17 Uhr ist die feierliche Eröffnung der 60. Buchmesse, zu der Messedirektor Jürgen Boos persönlich eingeladen hat. Hunderte festlich gekleidete internationalste Menschen finden sich ein – insbesondere um Nobelpreisträger Orhan Pamuk bei seiner Festrede zu lauschen. Doch die Vorfreude wird schnell getrübt: Eine einzige Sicherheitsschleuse gestaltet sich wie ein Nadelöhr, durch das sich jeder erbarmungslos zwängen soll. Fünf Minuten vor Beginn nimmt die Frustration in der beängstigend langen Schlange wartender Menschen bedrohliche Formen an, zumal mindestens 100 der angemeldeten Gäste keinen zugewiesenen Sitzplatz haben und mit höflichem Bedauern nicht eingelassen werden. Welch Blamage. Insbesondere, wenn man später erfährt, dass es leere Plätze gab
Einen Tag vor dem eigentlichem Messebeginn bereits im Gelände zu schnuppern, die Pressemappe entgegen zu nehmen und in den noch lange nicht fertigen Ausstellungshallen herumzustöbern ist ungeahnt reizvoll. Das Teppichverlegeteam ist bestenfalls um 4 Uhr früh fertig, das Putzgeschwader wahrscheinlich erst 10 Minuten vor Besucher-Einlass. Wer erst zu den offiziellen Messetagen von Mittwoch bis Sonntag kommt, macht sich keinen Begriff davon, welch gewaltige Vorarbeiten die Messebauer bewerkstelligen. Und am Mittwochmorgen ist – wie nicht anders zu erwarten – alles sauber, alles am Platz, alles bereit, die mehr als 50.000 Messebesucher pro Tag zu empfangen.
Mittwoch
Zum ersten Mal fahre ich (versehentlich) per S- statt U-Bahn zum Messegelände und mache die freudige Entdeckung, damit 1-2 Gehkilometer gespart zu haben. Das weiß man zu schätzen, denn während der Buchmesse legt man wahre Marathondistanzen zurück, besonders, wenn man so wie ich auf Autorengespräche und Lesungen versessen ist und von einem Event zum nächsten jagt.
Gastland der diesjährigen Buchmesse ist die Türkei. Welch großartige Chance, die vielfältige, Jahrtausende alte Kultur ihres Landes bekannt zu machen im Heimatland von drei Millionen ihrer dort überwiegend Taxi fahrenden und Döner verkaufenden Bürger. Gewiss gibt es mehr deutsche Übersetzungen türkischer Schriftsteller und besonders Schriftstellerinnen denn je, doch das Motto Türkei – faszinierend farbig erscheint vielen eher als Türkei – fad, farblos und belehrend. Welch vertane Möglichkeit.
Das Hauptthema der Messe ist also weder Gastland Türkei noch das von so vielen gefürchtete eBook, nicht der unerwartete Nobelpreisträger, dessen Namen sich keiner merken kann und dessen Bücher im Expressverfahren von drei verschiedenen Verlagen noch druckwarm angeboten werden. Auch nicht Dieter Bohlen, obwohl der wie immer eklatante Auftritte hat und die Menschen als Vollpfosten bezeichnet, sondern Hauptthema ist der Eklat bei der Fernsehpreisverleihung sowie die darauf in der FAZ erschienene Reaktion Elke Heidenreichs. Jeder hat eine mehr oder weniger fundierte Meinung dazu. Wie schön, wenn sich auf der lethargischen TV-Couch die Gemüter erzürnen – egal, in welche Richtung.
Bettina Gaus hat drei Monate lang die USA bereist und in Auf der Suche nach Amerika (Eichborn) ihre vielfältigen Erfahrungen dokumentiert. Im letzten Jahr standen sie am Abgrund und inzwischen haben sie einen großen Schritt nach vorn gemacht, attestiert sie der verunsicherten US-Bevölkerung.
Mein heutiges Highlight heißt Ingrid Noll, die ich endlich persönlich kennen lernen darf und mit der ich sofort eine Wellenlänge finde. Vielleicht kommt sie ja im kommenden Jahr zu ALFA, zumal ihr Mann so gern mal nach Portugal möchte.
Ach ja, die Wellenlänge – was ist sie so wichtig im Gespräch zwischen Moderator(in) und Autor(in). Die meisten, nein alle Moderatoren, die ich höre, sind gut vorbereitet, aber viele verstehen es nicht, den nötigen Funken überspringen zu lassen. Sie spulen ihr Programm politisch korrekt ab – und das Gespräch ist langweilig, weil es die Zuhörer nicht mitreißt.
Erstaunlich voll ist es am ersten Tag. Wie soll das erst am Wochenende werden? Bei Langenscheidt muss ein besonders hochkarätiger Autor erwartet werden, denn der Andrang ist beängstigend: Nein, nein, man wartet auf die neue Auslieferung zitronengelber Plastiktaschen, für manche das Highlight schlechthin. Die haben offenbar noch nicht die türkischen Papprollkoffer entdeckt, die es in Halle 5 gibt …
Am Österreichstand ist um 11.00 Uhr traditioneller Begrüßungsempfang mit Sektfrühstück und der Einladung, zur Buchwien, der ersten Wiener Buchmesse im November, zu kommen. 250 statt der 7.000 Aussteller in Frankfurt werden erwartet, David statt Goliath, klein aber fein?
Paulo Coelho, der Star dieser Buchmesse. Lässig, gelassen, beantwortet geduldig alle Fragen. Warum er nicht seine Autobiografie schreibe? Das könne er nicht, da würde er nur Gutes über sich schreiben. Also hat er einem Biografen seine Tagebücher gegeben. Ob seine Frau diese Tagebücher gelesen hat? Ja. Und? Sie habe viel geweint, er habe aber nicht gefragt, warum. Wie viele Autoren teilt er meine Meinung, dass jeder über Erlebtes schreibt, es ist nur mehr oder weniger verfremdet, mehr oder weniger in fremde Charaktere verpackt.
Im Forum werden interessante Filme gezeigt, und man gerät in die Qual der Wahl, ob man wertvolle Messezeit für das Kinoerlebnis verbrauchen soll. Für viele scheint das keine Frage zu sein, denn beim Baader-Meinhof-Komplex gibt es nicht mal mehr Stehplätze.
Donnerstag
Heute scheint es ein wenig leerer als gestern, oder hat man sich bereits an die Massen gewöhnt?
Von 11-12 liest Jutta Motz bei Pendragon. Ich hetze zu Halle 4.1 – und finde einen verwaisten Stand. Hm. Ausgefallen oder woanders wegen zu großen Andrangs? Ich werde es nie erfahren.
Ich darf das, ich bin Jude heißt der reißerische Titel von Oliver Polacks Buch und wirkt prompt wie ein Publikumsmagnet. Ich ärgere mich, auf diesen Titel reingefallen zu sein und wertvolle Zeit vertan zu haben.
Jan Weiler hingegen macht neugierig auf sein neues Buch Drachensaat, mit dem er aus der Italienische-Verwandtschafts-Satiren-Schublade ausbricht und erstmalig nicht biografisch schreibt.
Martin Suter – der Schweizer Gentleman, der »Sätze schreibt, die so schön sind, dass man sie siezen möchte«. Auch er wird ein Opfer der mangelnden Synergie zwischen den beiden Gesprächspartnern. Wie schade.
Astrid Proll, eine »echte RAF-Angehörige der ersten Generation« wird am SPIEGEL-Stand als Zugpferd für die PR-Arbeit zur CD mit den Original-Gerichtsprotokollen mit Stimmen von Baader, Meinhof, Ensslin, Raspe, Schily u.a. missbraucht. Wahrscheinlich wurde ihr eine Summe geboten, die sie nicht ausschlagen konnte, sonst hätte sie sich nicht so vorführen lassen. Die Frau macht genau den kaputten, fertigen Eindruck, den sie den Folgen der Einzelhaft mit totaler Isolation – in ihrem Fall vier Monate, in Ulrike Meinhofs Fall acht Monate – zuschreibt. Auf die Frage, was sie heute in Bezug auf sich als RAF-Mitglied fühlt, erwähnt sie weder Reue noch Entsetzen, sondern meint lapidar, es sei halt Teil ihrer Biografie und läge so lange zurück.
Elke Heidenreich wird überall angesprochen. Ich gratuliere ihr zu ihrem Mut und frage, ob sie glaubt, dass ihr Vertrag beim ZDF verlängert werde. Sie habe gar keinen Vertrag, könne, wenn sie wolle, mitten in der Sendung aufstehen und gehen. »Schreibt ans ZDF. Schreibt an die Öffentlich-Rechtlichen. Zeigt, dass ihr ein kulturbeflissenes Publikum seid, das bessere Qualität haben will. Es nützt nichts, wenn mir jeder auf der Buchmesse sagt, wie toll mein Artikel war.« (Gibt ihr aber wohltuendes Wasser auf die Mühle.) Sie sagt noch ein paar spontane Dinge und verschwindet in der Maske, um sich für die bevorstehende buchzeit-Aufzeichnung am 3sat-Stand schminken zu lassen.
Gerd Scrobel moderiert. Routiniert und ohne den geringsten Versprecher liest er seine Texte vom Teleprompter (ich beneide insgeheim seine guten Augen, ich könnte die Entfernung nicht meistern) und interviewt Orhan Pamuk, der vom politisch verfolgten, unbekannten türkischen Autor vor drei Jahren zum strahlenden, mutigen Literaturnobel-Aushängeschild der Türkei mutiert ist und sich nicht scheut, eine Lanze für nach wie vor verbotene Kollegen und Kolleginnen in seinem Heimatland zu brechen.
Ob es seinem Kollegen bei Hanser, dem italienischen Anti-Mafia-Autoren Roberto Saviano, wohl in ein paar Jahren auch so gehen wird? Es wäre zu schön, um wahr zu sein. Hier wurde er für die Verfilmung seines Buches Gomorrha mit dem Hessischen Filmpreis geehrt, in Italien steht er unter Polizeischutz.
Am Abend lädt Michael Krüger, Chef des Hanser Verlags, traditionsgemäß seine ausländischen Autoren und Geschäftspartner ein, vor denen er eine so witzige und kluge Rede hält, die ich mir seit Entdeckung im letzten Jahr nicht mehr entgehen lasse. Andere kommen wegen der Kulinarik, ich bevorzuge in diesem Fall die geistige Nahrung.
Bei Diogenes im Nachbarsaal vertiefe ich meinen Kontakt mit Ingrid Noll und lerne Jutta Ditfurth kennen, eine beeindruckende Frau, die in ihrer Eigenschaft als Ulrike-Meinhof-Biografin das kursierende Gerücht, Bettina Gaus sei eine Meinhoftochter, widerlegt und Astrid Proll mangelnde Intelligenz vorwirft.
Freitag
»Ich werde sehnsuchtskrank nach Sätzen«, sagt Peter Härtling mit dieser wundervollen melodischen Stimme, die mir das Herz überlaufen lässt. »Die Empfindung für Zeit wird schneller, für Raum langsamer. Kinderangst ist wie Greisenangst.«
Sind Sie Autogrammjägerin? werde ich von einer mikrofonbewaffneten Reporterin des Hessischen Rundfunks gefragt, nur weil ich mir für den 9-jährigen Lucas ein Autogramm von Peter Härtling geholt habe. »Grüßen Sie mir den Lucas«, sagt diese Mischung aus Weihnachtsmann und liebem Gott mit unendlich scheinender Güte.
Christiane Hörbiger, gerade 70 geworden, ist nicht bereit, Lili Palmers »Christianchen, ab 70 wird das Leben uninteressant« zu akzeptieren. Nein, nun gerade! Ab 70 sagt man mehr danke als bitte. Der Besuch der alten Dame, ihre Glanzrolle, war am Montag nach Reich-Ranickis Preisverweigerung ein schöner Kontrapunkt bei der ARD. Über 6 Mio. Menschen haben dieses Stück gesehen, erzählt sie mit Stolz.
»Menschen, die lesen, und junge Menschen, die Musikinstrumente spielen, gehören in Gold gefasst. Gutes Schreiben ist wie erlesene Schokolade« sind Sätze, die ich einfach mitschreiben muss. Warum sie »Ich bin der weiße Clown«, ihre Autobiografie, geschrieben habe? Weil sie jahrzehntelang geglaubt hatte, ihrem 2. Mann ihr Leben von 0-45 erzählen zu müssen, und er immer wieder sagte, »Schreib das auf!«
Volker Schlöndorff sieht aus, wie ein humorloser, gewissenhafter Buchhalter und entpuppt sich bereits im ersten Satz als sympathischer, bescheidener Mann von innerer Größe. Vor 30 Jahren bekam er den Oscar für die Verfilmung der Blechtrommel und meint, er war damals nicht anders, als er jetzt ist. Die Neugier sei seine Triebfeder, die Lust, ein nicht für verfilmbar gehaltenes Buch auf die Leinwand zu transponieren. Licht, Schatten und Bewegung heißt seine lesenswerte Autobiographie.
Heinrich Breloer ist ein anderer interessanter Filmemacher, der neugierig auf die kürzlich in Lübeck gedrehte neue Version der Buddenbrooks macht. Überhaupt erstaunt, welch zunehmende Bedeutung die literarische Verfilmung auf der Buchmesse gewonnen hat.
Anlässlich Romy Schneiders Geburtstag wird der französische Film Le Bassin in Originalversion gezeigt. Schwer vorstellbar, dass diese Frau jetzt 70 wäre.
Günter Grass bahnt sich an der Hand seiner Frau Ute mühsam einen Weg durch die Menschenmassen am ZEIT-Stand, die dem Gespräch zwischen ihm und Christoph Siemes lauschen wollen. Sein neues Buch, Die Box erstmalig dialogisch, in achtfacher Perspektive geschrieben, stellt die Fortsetzung seiner Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel dar und ist auf harsche Kritik gestoßen. Weise, humorvoll, pointiert fühlt er dem stellvertretenden Chef des ZEIT-Feuilletons auf den Zahn, weil er wissen will, wie der Kritiker der Box ausgewählt wurde, der sich nicht entblödete, seinen Artikel mit dem Satz zu beginnen: »Ich habe noch nie ein Buch von Günter Grass gelesen!« Unwissenheit als Unvoreingenommenheit?
»Hat leider nicht funktioniert« gibt Christoph Siemes kleinlaut zu. Im immer wieder herrlichen Lesezelt liest Deutschlands bedeutendster lebender Schriftsteller dann aus seiner Box vor, wobei er die acht verschiedenen Stimmen seiner Kinder im Lauf der Zeit bestimmt noch deutlicher unterscheiden wird. Was mag in Ute Grass vorgehen, die immer in der ersten Reihe sitzt und keine Miene verzieht?
Zuvor stellen Sabine Asgodan und Werner Tiki Küstenmacher ihre neuen Bestseller vor: Liebe wild und unersättlich! sowie Jesusluxus sind Titel, die Publikum magnetisch anziehen.
»Es ist kein Ziel, der reichste Mensch auf dem Friedhof zu werden«, zitiert Sabine Peter Ustinov.
Samstag, erster Publikumstag
Wieder wird mir, wie jeden Morgen, die täglich erscheinende Messesonderzeitung der FAZ in die Hand gedrückt, zu deren Lektüre ich aber erst nach der Messe komme. Abgesehen von mehr oder weniger kompromittierenden Fotos der nächtlichen Buchmessepartys wird angekündigt, wer heute wann wo auftritt (teilweise mit »kann man sich sparen«-Bemerkungen versehen) und welcher Verleger wo heute Abend eine Party schmeißt, zu der aber leider nur geladene Gäste Zutritt haben. Was soll das? Es ist genauso, wie einen Apero am Schweizer Stand im Veranstaltungskalender anzukündigen, zu dem nur Auserwählte zugelassen sind.
Ich haste am Blauen Sofa vorbei und – bleibe hängen, weil Petra Morsbach mich in ihren Bann zieht. Wieder dieser Effekt, der für mich den Hauptreiz der Buchmesse ausmacht: Eine mir bisher völlig unbekannte Autorin macht durch ihre Art Lust auf die Bücher, die sie geschrieben hat. In diesem Fall Der Cembalospieler. Der Moderator treibt die Autorin in die Enge mit der Frage: Was ist das Besondere an den Goldbergvariationen? Nur weil er die ihm auf der Zunge liegende Erkenntnis belehrend anbringen will: die Entdeckung, dass Bach kein protestantischer Musiker war.
Cecelia Ahern ist erkrankt und schafft somit eine unerwartete Lücke in meinen voll gespickten Terminkalender. Rafik Schami schrammt am ZEIT-Stand vorbei und guckt neidisch auf meinen Glastisch, der mir als bequemer Sitzplatz dient. Harald Martenstein, begabter ZEIT-Kolumnist, bildet allmorgendlich den Auftakt der Zeit-Gespräche. Heute hat er sich Gedanken zur Buchmesse gemacht, die er gekonnt witzig in 15 Minuten zum Besten gibt. Die Gedanken, nicht die Buchmesse. Schmunzelnd und bereichert stürzt man sich daraufhin ins teilweise beängstigende Gedränge, um von A nach B zu kommen.
Roger Willemsen im Gespräch mit Iris Radisch habe ich in diesem Jahr leider verpasst. Auf der ARD-Bühne ist er so umzingelt, dass ich ihn nur vor einem der Großbildschirme sehen kann. Es ist immer wieder ein Genuss, diesem eloquenten Schöngeist zuzuhören, der so kluge Gedanken in gelungenen Formulierungen von sich gibt.
Im Gegensatz zu Sven Regener, der sich im Cafe Galore ziemlich grobschlächtig auslässt.
Marie Phillips ist eine englische Newcomerin, deren erster Roman Gods behaving badly sofort ein Hit war. Nun ist er auf Deutsch erschienen, heißt Götter ohne Manieren und schildert das chaotische Leben von 12 griechischen Göttern, die in London ein versifftes Haus mit drei Schlafzimmern bewohnen und mühsam ihren Lebensunterhalt verdienen. Aphrodite hat Telefonsex, Artemis, die Göttin der Jagd, führt neurotische Hunde aus. Und Sonnengott Apoll moderiert eine miese Fernsehshow. Unterhaltung mit Niveau.
Weiter zum Indienstand, wo Baby Halder aus ihrer in 24 Sprachen übersetzten Autobiografie liest. Ein exemplarisches Frauenschicksal für Tausende nicht nur indischer Frauen: Mit 12 verheiratet, mit 14 erstmals Mutter, gelang ihr mit inzwischen drei Kindern die Flucht aus ihrer gewaltsamen Ehe, in der sie jahrelang misshandelt wurde. Sie kommt nach Bombay und arbeitet als Hausangestellte bei einem Intellektuellen, dem auffällt, wie viel Zeit sie mit Büchern verbringt. Er ermutigt sie, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Warum sieht diese Frau so traurig aus, wenn ihr Buch ein solcher Welterfolg ist? Wer bereichert sich an ihr?
Highlight des Tages: wie Vater und Babysohn auf dem Teppichboden in der Ecke einer Halle sitzen. Selbstvergessen, eine Oase der Ruhe und des Friedens, drei Meter jenseits der drängelnden Menschenmassen.
Es heißt Abschied nehmen, was in Anbetracht des unerträglichen Gedränges nicht schwer fällt. Abschied nehmen bedeutet, den Schlüssel des ach so praktischen Presseschließfachs zurückgeben und dem Pressepersonal für ihre gute Arbeit danken. Die liebenswürdigen Mädchen trauen ihren Ohren nicht und holen sicherheitshalber die Chefin. Auch die glaubt, ich wolle sie auf den Arm nehmen. Offensichtlich gibt es keine Kollegen, die gute Arbeit mit Dank würdigen.
Knapp 300.000 Menschen, 5 % mehr als im Vorjahr, waren in diesem Jahr auf der Buchmesse. Möge jeder stimuliert worden sein, stimuliert zu lesen, zu schreiben, zur eigenen Kreativität.
Ich freue mich auf die Lektüre von:
- Jean Le Clézio: Das Fieber
- Salwa Al Nermi: Honigkuss
- Milena Agus: Die Flügel meines Vaters
- Ingrid Noll: Kuckuckskind
- Roger Willemsen: Der Knacks
- Elizabeth Maguire: Fenimore
- Jan Weiler: Drachensaat
- Günter Grass: Die Box
- Benedict Wells: Becks letzter Sommer
- Cristina de Stefano: Abenteuerliche Amerikanerinnen
- Sybille Bedford: Am liebsten nach Süden
- Petra Morsbach: Der Cembalospieler
- Marie Phillips: Götter ohne Manieren
- Christiane Hörbiger: Ich bin der weiße Clown
- Volker Schlöndorff: Licht, Schatten und Bewegung
Barbara Fellgiebel lebt in Portugal an der Algarve, wo sie jeden Monat Europas südwestlichsten deutschsprachigen Literatursalon veranstaltet. Nähere Infos unter www.alfacultura.com
Im Café: »Wo können die Leute das nur alles hinessen?« – Barbara Fellgiebels Betrachtungen zur Frankfurter Buchmesse 2006
Im Café: »Ein Fest der leisen Höhepunkte« – Barbara Fellgiebels Betrachtungen zur Frankfurter Buchmesse 2005
Im Café: »Autoren sind wie Tiere im Freigehege« – Barbara Fellgiebels Betrachtungen zur Frankfurter Buchmesse 2004
Kleine Nachlese zur Buchmesse, auch unter philosophischem Aspekt:
http://oxnzeam.de/2008/10/21/buchmessen-nachlese/