StartseiteLiterarisches LebenBarbara Fellgiebels lit.COLOGNE 24: Unbändiger Lese- und Kölschdurst

Barbara Fellgiebels lit.COLOGNE 24: Unbändiger Lese- und Kölschdurst

lit.COLOGNE-Chef Rainer Osnowski mit der Autorin
lit.COLOGNE-Chef Rainer Osnowski mit der Autorin

Eine Woche vor der Leipziger Buchmesse fand in Köln vom 5. bis 17. März 2024 die lit.COLOGNE statt, das große Buch- und Literaturfest am Rhein. Für die 24. Ausgabe hat Barbara Fellgiebel sogar auf einen Leipzig-Abstecher verzichtet. Lesen Sie Barbara Fellgiebels wie immer ganz besonderen Rückblick auf die lit.COLOGNE 2024.

Die lit.COLOGNE ist keine Buchmesse! Erstaunlich, wie oft ich Menschen während meines diesjährigen Besuchs von diesem Irrglauben befreie. Die lit.COLOGNE ist Europas größtes Literaturfest, das in diesem Jahr erstmalig seit Corona wieder fast zeitgleich mit der Leipziger Buchmesse stattfindet. Das bedeutet für manche ein Entweder-Oder, für andere zwei literaturintensive Märzwochen.

Wäre ich nicht vom sechswöchigen Haus- und Hundehüten direkt aus der Algarve nach Köln gekommen, hätte ich beides besucht, wäre nur allzu gern mit dem 49-Euro-Ticket weiter nach Leipzig gefahren und hätte bei meiner Nichte im Fast-Laufabstand zum Messegelände übernachtet. Vielleicht klappt es nächstes Jahr.

In diesem Jahr findet die lit.COLOGNE zum 24. Mal statt.

Nach einer unfreiwilligen Besuchspause von sechs Jahren, hoffe ich, ab jetzt wieder jedes Jahr dabei sein zu können.

Warum? Weil die lit.COLOGNE für erstklassige Unterhaltung steht. Weil dort die unterschiedlichsten Autor/innen vorgestellt werden, gern mehrere zu einem besonderen Thema. Weil dort nur sprachgewandte, lesungserprobte Autor/innen lesen, andere werden vorgelesen und zwar von den besten Schauspieler/innen und Hörbuchstimmen, die es im deutschen Sprachraum gibt. Internationale Autor/innen werden von erstklassigen Dolmetschern übersetzt und die Moderator/innen begeistern immer durch grandiose Vorbereitung und einfühlsame Fragen. Alles im Zeichen der Magie der Worte. Faszinierend, bereichernd, beglückend.

So schrieb ich vor sechs Jahren an dieser Stelle. Ich staune in diesem Jahr, wieviel davon weiterhin 1:1 stimmt.

Was hat sich geändert? Aus dem Gründer-Dreigestirn Werner Köhler, Edmund Labonté und Rainer Osnowski ist nur letzterer übriggeblieben. Ihm wurde kurz vor Beginn der 24. lit.cologne der Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen für seine Verdienste um die Kulturlandschaft des Landes verliehen. Eine schöne, berechtigte Anerkennung. Denn Osnowski hat seit 2001 die ursprüngliche lit.COLOGNE um die lit.ruhr, die phil.cologne sowie die lit. Cologne spezial erweitert, die sich unmittelbar an die Frankfurter Buchmesse anschließt und somit Köln als bedeutende Literaturstadt auf die internationale Landkarte gesetzt.

Warum ist dieses Festival ein so besonderer Erfolg?

Das ist der Stadt Köln und ihren Einwohnern zu verdanken. Die Lust auf Kultur, der Hunger auf bereichernde Live-Erlebnisse ist deutlich spürbar. Denn wo sonst kann man sich vorstellen, dass am 6. Dezember der Kartenvorverkauf beginnt und eine Woche später nur noch vereinzelte Restkarten erhältlich sind und das trotz angespannter Wirtschaftslage und gestiegenen Ticketkosten, die für Erwachsene im Schnitt bei 30 € liegen.

Ich bin zwar seit Dezember als Journalistin und Berichterstatterin akkreditiert, aber das hilft nichts. Erst nach Ablauf der Akkreditierungsfrist am 26. Februar 2024 (!) wird mir mitgeteilt, an welchen Veranstaltungen ich teilnehmen darf. Eine Pauschalakkreditierung wie bei Buchmessen wäre ideal – wird aber nur der Deutschen Presseagentur und anderen Größen gewährt, nicht einer Einzelschreiberin wie mir, die für ein seit 20 Jahren etabliertes und preisgekröntes Literaturportal schreibt. Für KollegInnen vor Ort vielleicht kein Problem, für mich jedoch, die aus Portugal kommt und nach Schweden weiterfliegt, ungleich komplizierter. Prompt verpasse ich den Auftritt Gregor Gysis, weil ich erst einen Tag später eintreffe. Mitten im Streik der öffentlichen Verkehrsmittel.

Mittwoch 6. März 2024

Zur Live-Aufnahme des Podcasts eat.READ.sleep mit Gast Melanie Raabe schaffe ich es in die Volksbühne – ehemals Millowitsch-Theater. Da ich selbst einen Video Podcast bei YouTube betreibe, interessiert mich dieser Podcast natürlich besonders. Prompt lande ich auf der Bühne als weitgereisteste Besucherin. Ab 1:02 nachzuhören im eat.READ.sleep-Podcast.

Podcasts eat.READ.sleep mit Gast Melanie Raabe
Podcasts eat.READ.sleep mit Gast Melanie Raabe (mitte)

Welch witziger Beginn dieser begeisternden, anstrengenden lit.COLOGNE.

Die beachtlichen 19 Akkreditierungen, die mir bewilligt wurden, kann ich natürlich nicht alle wahrnehmen. Teils wegen der Streiks, teils wegen zu großer räumlicher Entfernungen der verschiedenen Veranstaltungsorte. Ich entscheide mich kurzerhand um und besuche an einem Ort zwei aufeinanderfolgende Veranstaltungen. Das war zwar nicht so geplant, entpuppt sich aber als gut umsetzbar und bringt mir eine unerwartete Horizonterweiterung.

Ich bleibe einfach sitzen, schreibe und verfolge dabei gebannt die Vorbereitungen zum nächsten Event: Martin Sonneborn. Oft ärgert mich die Tatsache, dass man als weiße Frau ab 60 leicht übersehen wird. Daher kleide ich mich bewusst bunt und trage seit der letzten Leipziger Buchmesse einen Häkelhut in Regenbogenfarben, der immer angestarrt wird und zu interessanten spontanen Gesprächen mit wildfremden Menschen verschiedensten Alters führt. Den Hut musste ich an der Garderobe zusammen mit meiner Jacke zum Preis von 2 Euro 50 abgeben.

Entsprechend werde ich jetzt nicht mehr wahrgenommen. Nach einer halben Stunde fragt jemand, was ich hier mache. „Presse!“ sage ich und werde sofort in Ruhe gelassen.

Martin Sonneborn
Martin Sonneborn

Martin Sonneborn, Gründer der Partei „DIE PARTEI“ und seit zehn Jahren der wohl unkonventionellste Abgeordnete im Europaparlament ist es gewohnt, sich sekundengenau ausdrücken zu müssen, denn als Hinterbänkler stehen ihm genau eine Minute dreissig zur Verfügung – 90 Sekunden, die er möglichst intelligent und verändernd füllen will und muss. Wenn er denn überhaupt die Gnade des Wortes erhält. Oftmals sind seine geplanten Reden so kontrovers, dass ihm das Wort gar nicht erst erteilt wird. Von wegen Redefreiheit … Auf YouTube können Sie ihn erleben.

Er fasziniert mit trockener Satire und sehr speziellem Humor, führt 90 Minuten ohne Unterbrechung die Arbeit des EU-Parlaments vor, unterstützt von Videoclips und Fotos, und macht uns mit dem www.9eurofonds.de bekannt. Nach dieser Veranstaltung gehen hoffentlich alle zur Europawahl!

Donnerstag 7. März 2024

Suzie Miller und Anke Engelke: Prima Facie. Moderation: Marie-Christine Knop

Von der australischen Juristin Suzie Miller hatte ich noch nie gehört – Anke Engelke wollte ich mal wieder live erleben. An dem nicht nur für Deutsche schwierigen Titel beißen sich manche die Zähne aus. Das beginnt schon mit der Aussprache (Praima fäischie) – ein ursprünglich lateinischer Ausdruck der von englischsprachigen Juristen benutzt wird und so viel wie »auf den ersten Blick« bedeutet. Es geht um die inakzeptable Rechtslage vergewaltigter Frauen. Die 900 Sitzplätze des Theaters am Tanzbrunnen sind allesamt belegt, die zunehmende Beklemmung, Empörung, solidarische Verzweiflung des zwar überwiegend aber bei weitem nicht nur weiblichen Publikums ist deutlich spürbar.

Suzie Miller hat ein Ein-Frauen-Bühnenstück geschrieben, das der Darstellerin von Tessa Ensler Übermenschliches abverlangt: in einem 100 Minuten Nonstop-Monolog zeigt Tessa, die bisher als erfolgreiche Strafverteidigerin an die Gerechtigkeit der Justiz glaubte, wie die Realität des Vergewaltigungsopfers wirklich aussieht.

Das zunächst in Australien, dann London und New York mit spektakulärem Erfolg aufgeführte Stück ist inzwischen in 32 Sprachen übersetzt und wird in keinem Land so flächendeckend gespielt wie in Deutschland – bisher auf 36 Bühnen landesweit, weitere dürften hinzukommen.

Die Aufzeichnung der englischen Aufführung mit Jodie Comer wird in der englischen Polizei-Aus- und Weiterbildung verwendet und voraussichtlich zu einer Gesetzesänderung zugunsten von Vergewaltigungsopfern führen.

Die größte Leistung dieser Veranstaltung erbringt die Moderatorin. Ihre von akribischer Vorbereitung zeugenden Fragen machen aus einem »normalen« Bühnengespräch etwas außergewöhnliches. Kein Wunder, dass Suzie Miller, die nur englisch spricht, vergisst, dass ihre mit viel Nachdruck und ohne Pausen vorgetragenen Ausführungen übersetzt werden müssen. Wie es Marie-Christine Knop gelingt, die sehr langen Passagen so zusammenzufassen, dass auch des Englischen nicht mächtigen Menschen nichts entgeht, ist eine Meisterleistung.

Normalerweise wird aus einem Buch ein Theater. Suzie machte es umgekehrt und schrieb nach dem Stück ein Buch, das in deutscher Übersetzung von Katharina Martl vorliegt. Anke Engelke liest so gut, dass man sich am liebsten das ganze Buch von ihr vorlesen lassen möchte. Im Nu sind die 500 Exemplare auf dem Büchertisch verkauft, und die Schlange der zum Signieren Anstehenden verhindert den pünktlichen Beginn der nächsten Veranstaltung.

Ich stelle mich neben Suzie Miller und bewundere sie für ihre unendliche Geduld und Aufmerksamkeit, mit der sie den vielen sehr persönlichen Geschichten der Autogramm-und-Widmung-Wollenden begegnet. Auch das will gelernt sein.

Akku leer?
Akku leer?

Übrigens bietet der Tanzbrunnen einen fantastischen Service für Menschen deren Handy schlapp macht. Kostenlos und sicher

Man merkt, dass Inklusion ein wichtiges Thema für die lit.COLOGNE geworden ist. Viele Veranstaltungen haben Gebärdensprachübersetzung, und bei jeder Veranstaltung sind auffällig viele RollstuhlfahrerInnen. Vor dem Tanzbrunnen spreche ich eine Dame im Rollstuhl an. Sie ist Juristin, arbeitet beim Finanzamt und teilt meine Faszination des soeben Erlebten.

Wörtersee
Wörtersee

Weiter geht’s mit Wörtersee, einem Projekt, das sich auf unterhaltsame und nachdenkliche Weise mit dem Gebrauch, Auftauchen und Verschwinden von Wörtern und Begriffen beschäftigt. Eine Herzensangelegenheit von Bettina Rust, die dazu Pierre M. Krause und Cordula Stratmann eingeladen hat. Einerseits ist es gut, sich jetzt etwas leichterer Kost widmen zu können, andererseits schwer, das soeben Erlebte einfach beiseite zu schieben.

Es ist auffällig, wie wohlwollend das Kölner Publikum ist. Wie angenehm in dieser Zeit der Proteste, Wutbürger und Leichtgekränkten die kulturellen Leckerbissen der lit.COLOGNE mit Freude, Anerkennung, Lob und viel Applaus angenommen werden. Oder habe ich nur Glück gehabt, keinerlei Buh-Rufe und Störungen erlebt zu haben? Von Hamburger Opernpremieren und der Leipziger Buchmesse höre und sehe ich da anderes.

Freitag, 8. März 2024

Kabarett Flin: Alice Köfer
Kabarett Flin: Alice Köfer

Es ist der Internationaler Frauentag, und ich habe zu meiner maßlosen Enttäuschung keine Akkreditierung für die von Bettina Böttinger moderierte große Gala der lit.cologne bekommen. Also boykottiere ich Köln an diesem Tag, bleibe in Düsseldorf und feiere uns Frauen im besuchenswerten KaBARett Flin www.kabarettflin.de bei Alice Köfer und ihrer »Alice auf Anfang«-Show.

Samstag 9. März 2024

Rufus Beck und Maria Reiter
Rufus Beck und Maria Reiter

Heute steht Rufus Beck auf dem Programm, im ahnenreichen Klaus-von-Bismarck-Saal des WDR. Die »Reise nach Petuschki« von ihm performt, von Maria Reiter virtuos auf dem Akkordeon vertont, ist wieder ein Erlebnis von dem man zehren kann. Das 1973 von Wenedikt Wassiljewitsch Jerofejew geschriebene Buch galt bei Erscheinen als »frischestes Wort in der russischen Literatur« und wurde schnell zum Kultbuch. Rufus Beck hat die geschilderte Reise nachvollzogen und nimmt uns alle mit ins tiefste Russland. Wieder ein einmaliger Abend, den man gern auf YouTube nacherleben möchte.

Wieder gibt es nur Begeisterung. Einziger Wermutstropfen: Rufus Beck signiert nicht. Der WDR legt großen Wert auf die strikte Einhaltung von Ordnung und Pünktlichkeit.

Diesmal bleibe ich nicht einfach im Saal. Das geht im WDR gar nicht, und während ich beim lit.COLOGNE Team auf meine Eintrittskarte warte, kommt mir ein atemloser, leicht genervter Mann entgegen:

Hartmut Rosa und die Autorin des Beitrags
Hartmut Rosa und die Autorin des Beitrags

»Rosa. Ich soll hier auftreten!?« Es handelt sich um Hartmut Rosa, einen der profiliertesten Soziologen des Landes. Er hat sich mit seiner Theorie der Resonanz und seiner Forderung nach mehr Unverfügbarkeit einen Namen gemacht.

Ich nutze die unerwartete Gelegenheit zu einem persönlichen Gespräch mit ihm und will wissen, ob er sein heutiges Programm schonmal vorgestellt hat. Nein, nicht in dieser Form. Im Nu ist er wieder im Gleichgewicht und freut sich über unser Selfie.

Tijan Sila und Hartmut Rosa auf der Bühne
Tijan Sila und Hartmut Rosa auf der Bühne

In seinem neuesten Buch When Monsters Roar and Angels sing setzt er sich mit Heavy Metal auseinander. Wie uns Heavy Metal dabei helfen kann, ein neues Weltverhältnis aufzubauen, diskutiert er mit dem bosnischen Schriftsteller und Musiker Tijan Sila. Punkrock sei hedonistische Tanzmusik. Heavy Metal stifte onthologische Sicherheit. Tijan geht soweit zu sagen, dass Heavy Metal ihm im besetzten Sarajewo das Leben gerettet habe. Auch die resonanztheoretische Unverfügbarkeit wird eingebaut und die magischen Momente, die Phänomenologie »wenn es dich spielt« ist schwer in Worte zu fassen.

Natürlich ist der 500 Personen fassende Saal wieder ausverkauft. Begeistert hängen alle Metalfans an Hartmut Rosas Lippen, nehmen die Gelegenheit wahr, ihm direkt Fragen zu stellen und sind angetan als auch er mehr Frauen-Metal fordert. Ich lerne viel über Heavy Metal an diesem Abend, werde aber dennoch nicht zum bekennenden Fan.

Sonntag 10. März 2024

Heute gehe ich »nur« zur Abdudanz, hetze nicht vom Flora im Botanischen Garten nach Nippes in die wunderbare Kulturkirche, um stattdessen ins Schokoladenmuseum gehen zu können.

Jeder Abend klingt traditionell im Restaurant des Schokoladenmuseums aus, wohin alle Auftretenden eingeladen werden und wohin wer will kommen kann, um mit den lit-Stars Kontakt aufzunehmen. Am Eingang erwirbt man Verzehrbons für 1,50€ pro Stück. Für einen bekommt man ein Kölsch. Vor sechs Jahren kostete ein Bon 1€ . Ebenso ein Kölsch.

Doch zunächst zur Abdudanz.

Annette Frier mit Lesenden
Annette Frier mit Lesenden

Im Vorfeld diskutieren wir, was Abdudanz bedeutet, und es kommen wirre, weitschweifende Vorschläge. Google bietet nichts. Hm, schaumer mal!

Annette Frier erhielt 2020, mitten im ersten Lockdown, per WhatApp eine Einladung zu einer 21-tägigen Meditationschallenge, einer Initiative von Deepak Chopra und Oprah Winfrey, die weltweit für »abundance« (deutsch: Fülle) sorgen und sich potenzieren sollte. Welch Gelegenheit, endlich richtig atmen zu lernen, dachte sich Annette Frier und nahm teil. Bis Tag 5 lief alles grossartig. Da bekam sie die Aufgabe, eine eigene Gruppe zu gründen. Sie schrieb per WhatsApp verschiedene FreundInnen und KollegInnen an. Aus der bunten WhatsApp-Gruppe entstand eine mal tiefgründige, meist urkomische Unterhaltung. Aus der machte sie eine szenische Lesung und brachte die ganze, aus acht Personen bestehende Gruppe auf die Bühne des Flora. 800 Menschen im Alter zwischen 20 und 90 (eine Ausnahme!) sind begeistert, haben viele »Genau-so-war-es«-Wiedererkennungseffekte und gehen beglückt von dannen. Vergeblich versuche ich, auch nur eine negative Reaktion zu hören: von einem 10-jährigen Mädchen (der Ausnahme), die fand es nicht so toll. Alle anderen fanden es gut.

Annette Frier ist beglückt und erleichtert, als ich ihr das eine Stunde später im Schokoladenmuseum erzähle. So ein gewagtes Experiment mit mindestens zwei TeilnehmerInnen, die noch nie vor Publikum auf einer Bühne gesprochen haben.

Während ich auf Rainer Osnowski warte, nutze ich die Gelegenheit, mit anderen AutorInnen zu sprechen, darunter die hoch aktuelle Deborah Feldman.

Margarete von Schwarzkopf, die die schwedischen Krimi-Autoren moderieren darf, begrüßt mich wie eine alte Freundin. Wir tauschen uns über Håkan Nesser aus, machen ein Selfie, das ich an ihn schicke und am nächsten Tag erhalte ich eine dankende Grußmail aus Südafrika von ihm. Diesmal hat sie das schwedische Duo Michael Hjorth und Hans Rosenfeldt interviewt, die die Erfolgsserie um den Psychologen Sebastian Bergman geschaffen haben.

Ein willkommener Anlass für mich, ein bisschen Schwedisch zu sprechen.

Und da kommt Rainer Osnowski, busselt sich durch die anwesenden Damen und wird nicht müde, allen zu erzählen, dass ich extra aus Portugal und Schweden zur lit.COLOGNE gekommen sei. Ich beglückwünsche ihn zur Ehrung und dem so super laufenden Lesefest. Bescheiden winkt er ab. Erst mal abwarten, ist ja noch ‘ne Woche.

lit.COLOGNE-Chef Rainer Osnowski mit der Autorin
lit.COLOGNE-Chef Rainer Osnowski mit der Autorin

Nein, da war nichts abzuwarten, es steigerte sich eher noch.

Ein paar Fragezeichen habe ich dennoch:

Frage: Warum gibt es keine Mitschnitte, wenigstens von ein paar besonderen Veranstaltungen?
Antwort: Zu aufwändig, zu teuer. Wird zu wenig genutzt. Das wissen wir aus der Lockdown-Edition.

Frage: Warum findet in diesem Jahr nichts auf dem so beliebten Literaturschiff statt?
Antwort: Weil die Miete in diesem Jahr dreimal so hoch ist!

Frage: Warum gibt es keinen LiteraturMarathon mehr? Das war eine superbeliebte Non-stop 24-Stunden-Veranstaltung im WDR, zu der manche Leute mit Schlafsäcken kamen.
Antwort: Weil der WDR nicht mehr genug Personal dafür hat.

Zu schade. Vielleicht wird es 2025 woanders möglich? Das Interesse hunderter Kölner und Kölnerinnen wäre da.

Montag 11. März 2024

Ingrid Noll signiert
Ingrid Noll signiert

Heute stehen auf meinem straffen Programm Ingrid Noll um 17 Uhr im Comedia Theater und um 19.30 Uhr im Flora »Zwei Seiten« – der Podcast von Christine Westermann und Mona Ameziane. Ob ich das schaffe?

Der Himmel weint – Ingrid Noll lacht. Im roten Saal des Comedia Theaters, vor dem eine halbe Stunde vor Beginn eine beachtliche Menschenschlange auf Einlass wartet. Freie Platzwahl! Frech gehe ich an allen vorbei zum Presseschalter, an dem ich schon erwartet werde. Ein Kameramann schlüpft durch einen Seiteneingang in den Saal, ich hinterher. Wenig später wird der 400 Personen fassende rote Saal zu 99,9% von Frauen belegt. Die 88-jährige Ingrid Noll betritt am Arm ihrer Moderatorin Susan Link die Bühne. Die beiden schlagen einen vertraulichen Ton an und gestalten einen wunderbaren Abend, an dem viel und herzlich gelacht wird. Die Schlange der mit ein bis sechs Büchern bewaffneten Noll-Fans umfasst mindestens 200 Personen. Die arme Ingrid – das wird Stunden dauern!

Dass sie danach zu keinem feuchtfröhlichen Treffen im Schokomuseum mehr fähig sein würde, verstand ich sofort und verabschiedete mich bedauernd. Während ich diese Zeilen schreibe, ist die bewundernswerte Queen of German Crime auf der Leipziger Buchmesse und wird ähnlich anstrengende Events absolvieren müssen. In der Woche dazwischen wurde sie von mindestens zwei Journalisten besucht und daran gehindert, an ihrem neuen Buch weiterzuschreiben (»Das macht mir doch so viel Spaß. Deshalb schreibe ich!«). Sie hatte nach eigener Aussage das »Pech«, dass der Gruß aus der Küche sofort auf der Spiegel-Bestsellerliste landete und sich im deutschen Sprachraum wie warme Semmeln verkauft. Ich höre es, als Hörbuch von vier verschiedenen Stimmen gesprochen. Wie Ingrid Noll die Entwicklung ihrer vier Protagonisten schildert, ist lehrreich und höchst unterhaltsam – nicht nur für weniger erfolgreiche Schreiberlinge.

19.15 Uhr – In 15 Minuten geht’s im Flora los, das ist nicht mal per Taxi zu schaffen. Also plane ich um, begebe mich zum WDR-Haus wo um 20 Uhr Chilly Gonzales seine zweite Rapmusik-Lecture gibt. Ich staune nicht schlecht, dass man mich nicht reinlassen will. Alles ausverkauft!

Was? Haben Sie keine Akkreditierung?! Das war bisher kein Problem, ist es aber hier. Ich stehe stoisch und für das lit.COLOGNE-Personal irritierend neben deren Tisch und warte. Nach 15 Minuten sagt die charmante Alexandra genervt: Ich lasse Sie ja rein, aber bitte gehen Sie hier weg.

Chilly Gonzales
Chilly Gonzales

Ich geniesse den Abend vom Balkon aus – habe den Super-Überblick und bin fasziniert von diesem genialen Jazz-Classic-Crossover-Pianisten. Er rapt über Richard Wagner und dessen 1850 geschriebenes Buch Das Judenthum in der Musik (Hochinteressante Lektüre für alle Wagnerfans – via Google zu finden!)

Am Ende schlägt Chilly unter tosendem Beifall der Stadt Köln vor, die Richard-Wagner-Strasse in Tina-Turner-Strasse umzubenennen.

Dienstag 12. März 2024

Ja, ich wäre gern zu Barbara Kingsolver und ihrem mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Buch Demon Copperhead gegangen, sehe aber ein, dass ich es dann nicht zu Elke Heidenreich und Viva la libertà im Tanzbrunnen schaffe. Elke gewinnt.

Wegen des Streiks fährt mich meine Freundin mit dem Auto nach Köln. Welch Luxus. Auf dem Parkplatz des Tanzbrunnens erspart uns mein Presseausweis die saftige Gebühr von 10 € fürs Parken. Das investieren wir lieber in Getränke.

Zum ersten Mal gibt es ein paar wenige freie Sitzplätze – zweifellos dem Streik geschuldet.

Elke Heidenreich und KIWI-Verlagsleiter Reinhold Joppich, den Elke seit Jahren liebevoll »Rinaldo« nennt, stellen italienische SchriftstellerInnen vor, die bewegende Texte zum Thema Freiheit und Widerstand geschrieben haben; erstaunlich wie aktuell die zum Teil hundert Jahre alten Texte sind. Dazwischen spielen Vater Mario und Sohn Luca Di Leo »canzoni popolari e della Resistenza«. Ein gelungenes Manifest. Es lebe die Freiheit!

Mittwoch 13. März 2024

So ein schöner Tag! Erst Lena Hach, die vor 12 Jahren auf einem meiner »ALFA in Berlin«-Literatursalons auftrat und nun im Rahmen von Lit.kids.Cologne auf der Volksbühne 250 Sechstklässlern aus ihrem Buch Fred und ich vorliest. Fred ist ein 13-jähriges Transkind, die Ich-Erzählerin Anni eine tägliche Eisbaderin. Faszinierend, wie Lena die Kinder begeistert und auf das Buch neugierig macht.

Fast 100 Lit.kids Veranstaltungen gibt es diesmal unter dem Begriff KlasseBuch. Großartig, wie Klassen allen Alters und aller Schularten zum Lesen stimuliert werden.

Anne Will (links) und Maren Kroymann (mitte)
Anne Will (links), Maren Kroymann (Mitte) und Lusie F. Pusch (rechts)

Abends wieder ins WDR Haus zu »Maren Kroymann und Anne Will lesen ein Buch«.

Die mega bekannten Persönlichkeiten brauchen eigentlich nur ihre Namen für Programm zu geben, und der Saal ist (natürlich) ausverkauft. Die Spannung ist groß, die Erwartungen des Publikums unterschiedlich: Manche erwarten einen heiteren Abend, andere eher was Politisches. Ich denke, die beiden lesbischen Frauen lesen etwas zu diesem Thema. Und liege richtig.

Sie stellen das Buch »Sonja« von Judith Offenbach vor. Es erschien 1981 und handelt von der Liebe zwischen Sonja und Judith von 1965 bis 1976 und dem eher unspektakulären aber sehr detailliert geschilderten Alltag und Liebesleben eines lesbischen Paares, von denen die eine nach dem ersten Selbstmordversuch behindert ist. Der zweite gelingt 1976.

Spektakulär wird der Abend, als die wahre Identität von Judith Offenbach bekannt gegeben wird: Es handelt sich um Luise F. Pusch, die Mitbegründerin der feministischen Linguistik, die im Publikum ist.

Unter tosendem Beifall kommt die 1944 geborene Linguistikprofessorin auf die Bühne, liest aus ihrem Buch und schockt nicht nur Anne Will, als sie die wahren Handlungsorte bekannt gibt. Nur der Tarnname Sonja wird nicht enthüllt. Wieder eine großartige Veranstaltung, bei der mir klar wird, wie anders das homosexuelle Leben im Deutschland der Post-68er war als in Schweden. Ich interviewe ein schwules Paar, das mir bestätigt, dass Schwule und Lesben zwei verschiedene Kontinente waren, die null Kontakt miteinander hatten. Wie anders war und ist das in Schweden!

Maren Kroymann ist leider wie vom Erdboden verschluckt. Ich hätte ihr so gern gesagt, dass sie dieses Buch unbedingt als Hörbuch einsprechen sollte, zumal sie gerade den großen Hörspielpreis der lit.COLOGNE erhalten hat. Wer, wenn nicht sie?

Die Schlange zum unerwarteten Buchsignieren wächst selbst dem sonst so regel- und ordnunginhaltenden WDR-Personal über den Kopf. Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen und stolpere beseelt aus dem WDR-Gebäude, direkt in die Arme dreier Jugendlicher, die wie Fragezeichen aussehen und gar zu gern wissen möchten, was da drinnen los ist, warum ihnen noch kein Einlass zu Atze Schröder gewährt wird. Ich erkläre ihnen den Sachverhalt und sie sind geflasht.

Ich stolpere weiter gen Hauptbahnhof, als mich ein unbändiger Kölschdurst in eine der ahnenreichsten Kneipen Kölns einkehren lässt. Der einzige freie Tisch ist nicht frei, der Herr ist auf der Toilette. An einem Vierertisch sitzt ein einzelner Herr. Ich frage vorsichtig, ob ich mich fünf Minuten dazusetzen darf, um ein ersehntes Kölsch zu schlürfen. Selbstverständlich. Er entpuppt sich als Restaurantbesitzer aus Rügen (der Mexikaner), der leidenschaftlich gern Golf an der Algarve und in Alicante spielt, und wir verbringen ein angeregtes Stündchen zusammen, während er auf den Beginn des Fußballspiels Dortmund gegen Eindhoven wartet. Nach dem ersten Tor habe ich ein köstliches »Röggelsche med Mett« und mein drittes Kölsch verzehrt und begebe mich nach Hause gen Düsseldorf.

Donnerstag, 14. März 2024

Mein letzter lit.COLOGNE Tag. Obwohl ich gewisse Ermüdungserscheinungen (die Ingrid Noll »den Materialverschleiss« nennt) nicht leugnen kann, tut es mir fast leid, denn inzwischen erkennen mich viele vom lit.Team, ich brauche weder meinen Presseausweis zu zücken noch meinen Namen zu nennen und bekomme mein Superticket in der 2. oder 3. Reihe strategisch vor der Bühne. Grandios.

Ich bin für Anna Thalbach in der Kulturkirche in Nippes akkreditiert , entscheide mich aber spontan um für Bettina Böttinger, die Uschi Glas im Balloni in Ehrenfeld interviewt. Ich verkenne die Lage, zeige meinen Presseausweis und werde bös ausgeschimpft. Da es noch Restkarten gab, dachte ich nicht, mein Erscheinen sei ein Problem. War es schliesslich auch nicht.

Uschi Glas
Uschi Glas

Eine schwer erkältete Bettina Böttinger interviewt die gerade 80 gewordene Uschi Glas, die sich als gestandene Frau mit sehr bestimmenden feministischen Ansichten und viel Zivilcourage entpuppt. Welch positive Ûberraschung. Geduldig, freundlich und jedem individuell zugewandt signiert sie über 100 Exemplare ihrer Autobiografie Ein Schätzchen war ich nie. 

Bettina Böttinger mit der Autorin
Bettina Böttinger mit der Autorin

Ebenso geduldig und mit strahlendem Lächeln macht Bettina Böttinger ein Selfie nach dem anderen. Als sie mir sagt, dass sie kürzlich an mich gedacht habe, als sie im Flora war, schmelze ich dahin. Das war vor sechs Jahren!

Beim Rückflug von Düsseldorf nach Kopenhagen bin ich ganz allein in der Sicherheitskontrolle.

Ich brauche weder den Computer noch Toilettenartikel auszupacken noch meine Wasserflasche leeren. Aber mein sehr kleiner, sehr voller Koffer wird genauestens durchsucht. Die schmutzige Wäsche durchgetastet, alle Reißverschlüsse der Außentaschen geöfffnet. In einer ist das DIN-A-6-große wunderbar handliche Gesamtprogramm der lit.COLOGNE. Seit 24 Jahren im selben Format, bitte noch lange, lange nicht digital ersetzen (wie alle Messekataloge!) Dieses kleine Büchlein durchblättert der Kontrolleur andächtig Seite für Seite, ohne ein Wort zu lesen. Was hat er erwartet? Festgeklebtes Kokain?

Programmheft der lit.COLOGNE
Programmheft der lit.COLOGNE

Erleichtert nehme ich es wieder an mich. Das brauche ich bis zum 25. Mal vom 18. Bis 30. März 2025.

­­­­­­­­­­­­­­­Barbara Fellgiebel

Barbara Fellgiebel lebt in Schweden und bereist die Welt immer auf Suche nach ALFA-Effekten: Der Entdeckung eines Autors, einer Autorin der/die so fasziniert, dass sie unbedingt mehr von dieser beeindruckenden Literatur lesen oder hören möchte. Sie freut sich sehr über einen Kommentar hier unter diesem Beitrag oder an alfacult(at)gmail.com

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2 Kommentare

  1. Vielen Dank für die wie immer einzigartige, weil sehr persönliche Berichterstattung, die mich oft staunend, manchmal schmunzelnd oder stirnrunzelnd, doch immer begeistert und neugierig zurücklässt.

  2. Dankeschön Barbara Fellgiebel, für aktuelle Infos und Einblicke in die lit.COLOGNE 24!
    Und sollte in Köln eine Abstimmung geplant werden/sein – ich stimme Chilly Gonzales zu und ebenfalls für die Umbenennung der Richard-Wagner-Strasse in Tina-Turner-Strasse.

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