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»Zum Warmwerden lag allem Anschein nach keine Ursache vor«

Markus Werner: Zündels AbgangAnika Stracke über Markus Werners Debütroman Zündels Abgang

Wie lebt es sich mit einem Polizeihund im Gehirn? Gar nicht, entscheidet Zündel und vollzieht seinen Abgang. Was bleibt zu sagen, wenn man sich ausnahmslos inmitten von »Bemäntelungsexperten, Entlastungstechnikern und Rechtfertigungsspezialisten« befindet, wenn jeder Satz zum Vorwand mutiert, der die schuftigsten Schritte adelt? »Unhaltbar!«, meint Zündel und zerbricht.

Konrad Zündel ist der Held in Markus Werners 1984 erschienenem Debütroman Zündels Abgang. Konrad Zündel, ebenso wie damals sein Schöpfer ein Schweizer Lehrer, wird zum Aussteiger wider Willen, als er glaubt, den Seitensprung seiner Frau zu entdecken. Er nimmt den Zug nach Genua, wo er vier Wochen allein, schreibend und trinkend, verbringt. In dieser Zeit widerfahren dem gebeutelten Mann wieder und wieder Katastrophen, die seine allgemeinen, existentiellen Überlegungen einerseits bestärken, andererseits der Nichtigkeit überantworten. Wenn dem Protagonisten schon auf der ersten Seite ein Schneidezahn ausfällt, er auf der Zugtoilette einen menschlichen Finger entdeckt und beim Aufheben sein eigenes gestohlenes Portemonnaie findet, so sind dies nur die ersten Schläge, die Markus Werner seiner Figur verpasst. Scheinbare Banalitäten bringen Zündel zum Erliegen; der Autor schöpft aus einer Vielzahl von Alltagserfahrungen, die er auf ihr fatales Substrat reduziert. »Fatal« ist in Zündels Abgang ein handlungsdynamisches Schlüsselwort: Zündel macht Erfahrungen, alltägliche eigentlich, die sich dennoch fatal auf seine Selbstwahrnehmung im Verhältnis zur ihn umgebenden, einschließenden Realität auswirken und auf die Fortschreibung der Handlung.

Zentral ist für die Mehrheit dieser Alltagserfahrungen immer wieder die Feststellung der Feigheit: Feige ist es, sich verständnisvoll auf die Seite einer schlagenden Mutter zu stellen, feige auch, selbstgerechte Touristen nicht zurechtzuweisen, feige, einer Ganovenmanier sich anpassen zu wollen, und beim Kauf eines Revolvers nicht den Inhalt des Pakets zu prüfen (und natürlicherweise abgezockt zu werden). Feigheit das ist, zu ignorieren, wenn sich menschlich der Magen umdreht. Zur Feigheit gesellt sich die Wut, die bei Zündels pfeilspitzen Selbstreflexionen fast zwangsläufig erscheint. Die Wut auf das Menschenfeindliche der modernen Gesellschaft, für die er die schweizerische in ihrer »schauderhaften Gepflegtheit« für repräsentativ hält. Menschenfeindlich meint die unbedingte Zieltreue, das Pflichtbewusstsein, die Anpassung an die bestehenden Verhältnisse, die erzieherische Verpönung alles Weichen, Traurigen und aller Widersprüche zum Zwecke der diabolischen »Verbrüderung mit der Realität … sei es aus Anlehnungsbedürfnis, sei es aus Laufbahngeilheit«, wie Zündel in seiner Abschlussrede vor einer Schulklasse deklamiert. Zündel entflammt im Laufe der Handlung an der Idee, nicht Ja zu jauchzen zu dem, was er für Selbstverstümmelung hält, sich nicht mit der Wirklichkeit zu vereinen: Er verschließt sich. Er verschließt sich seiner Frau, er verschließt sich seinem Beruf, er verschließt sich der Psychiatrie Zündel verschwindet wortlos, sprachlos.

Dabei nimmt die Geschichte nie den reinen Ton der Gesellschaftskritik an. Zum einen, weil Werner immer wieder offenlegt, wie Zündel selbst in diesen Strukturen verwickelt, ein »repräsentativer Krüppel« der reklamierten Gesellschaft ist und sich auch gegen mikrokosmische Lösungen in der eigenen, ehelichen Sphäre verweigert. Zum andern benutzt der Autor geschickt eine zweite Erzählinstanz, die Zündels zirkelhafte seelische Mechanismen kommentiert und so die Einseitigkeit seiner Sichtweise durchbricht. Letztendlich bleibt Zündels Verweigerung, sein Rückzug quasi-tragisch; quasi-tragisch deshalb, weil der Verlauf der Handlung kein zwingender ist, sondern eigentlich mit Zündels Einwilligung in sein Schicksal als »Mühseligem, geknicktem Querulanten, flügellahmem Melancholiker« geschieht. Markus Werner bietet in der Figur des Zündel keine Lösungen an, mit der Kälte des modernen Lebens zurechtzukommen. Programmatisch also Robert Walsers Worte »Zum Warmwerden lag allem Anschein nach keine Ursache vor« als Werners selbstgewähltes Motto der Geschichte.

Hinzu kommt die außerordentliche sprachliche Dimension des Textes: Der Autor prescht durch Zündels Fehlschläge und Beobachtungen mit einer enormen sprachlichen Dichte. Den ganzen Text durchziehen lyrisch anmutende Versatzstücke, Alliterationen, denen heiße, harte, böse Umgangssprache gegenübergestellt werden, die so die Sehnsucht nach heiliger Feierlichkeit wohl erahnen lassen, aber vor allem schon im Keim ersticken sollen. Markus Werner lässt Zündel seitenweise deklamieren die geballten Neologismen und Anspielungen sind Ausdruck der rasenden  Reflexivität der Figur. Aphorismen werden sogleich unwirsch weggewischt durch ein profanes »Ach Scheißdreck!« und sind trotzdem schillernde Perlen im wahnsinnigen Saustall. Werner zeichnet Zündels zunehmende Versteigerung und Verzweiflung auch sprachlich nach. Interviewartige Dialogformen wechseln sich mit grammatisch inkorrekten Satzfetzen ab.

Zündels Abgang ist schwere Kost durch die komprimierte Form (knackige 120 Seiten!) und durch die Kompromisslosigkeit der Geschichte, aber gerade die unbestechliche Härte macht den Reiz dieses Romans aus Werners Witz ist immer zweischneidig, und eben dadurch so brillant.

Mit dem letzten vielbeachteten Werk Am Hang hat Markus Werner kürzlich seinen siebten Roman veröffentlicht und lebt inzwischen als freier Autor im Schweizer Kanton Schaffhausen. Und trotzdem ist sein Debüt doch das Buch mit der größten Sprengkraft. Böse Stimmen sagen dem Autor Larmoyanz nach. Nein, jammern tut er nicht: Werner beschwert sich, klug und genau, allgemein und im Besonderen und zu Recht! Und gerade in seinem ersten Werk schrei(b)t sich einer etwas komprosmisslos und gekonnt von der Seele. Und der Leser hat dabei gefälligst mitzustolpern, weil er um Zündels Zweifel selber wissen sollte.

Anika Stracke 

Markus Werner: Zündels Abgang: Roman. Ausgezeichnet mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 1984. Gebundene Ausgabe. 2004. Residenz. ISBN/EAN: 9783701713851
Markus Werner: Zündels Abgang: Roman. Taschenbuch. 2011. FISCHER Taschenbuch. ISBN/EAN: 9783596190720. 15,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Markus Werner: Zündels Abgang: Roman. Taschenbuch. 1988. dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. ISBN/EAN: 9783423109178
Markus Werner: Zündels Abgang: Roman. Kindle Ausgabe. 2011. FISCHER Taschenbuch. 9,99 €  » Herunterladen bei amazon.de Anzeige

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