StartseiteAlmtraumFolge 39 vom 10. Mai 2007

Folge 39 vom 10. Mai 2007

Unbemerkt schloss sich Erik an die Überwachungsanlage an und aktivierte die Kameras auch tagsüber. Aus dem Kellergewölbe heraus beobachtete er die Arbeit im Lektorat, musste aber zwangsläufig seine nächtlichen Ausflüge einstellen. Dafür eröffneten sich ihm im wahrsten Sinne des Wortes neue Perspektiven. Zwar war er vom Mitlesen ausgeschlossen, doch lernte er statt dessen die lesenden und urteilenden Lektorinnen kennen. Besonders angetan war er von Amanda, einer kurvenreichen Versuchung mit frechen blonden Haaren. Wie oft hatte er nachts an ihrem Schreibtisch gesessen, ohne zu wissen, mit welch weichen Rundungen er den Schreibtischstuhl teilte!

Krank vor Liebe und Sehnsucht beschloss Erik, Amandas Karriere im Verlag kräftig zu fördern, mit sanfter Gewalt und unter Zuhilfenahme seiner bisher unveröffentlichten Manuskripte. Er zog das Videokabel vom Monitor und legte eine 230-V-Spannung an. Die Überwachungsbildschirme wurden schwarz – in einem Schaltkasten irgendwo im Keller war es den Bauteilen zu heiß geworden.

Erik schlich in Amandas Büro und legte ihr sein bestes Manuskript mit einem Begleitbrief auf den Schreibtisch. In dem Brief bat er sehr bestimmt um Durchsicht des Manuskriptes durch niemand anderen als Amanda, und um Veröffentlichung, ansonsten …

Bestürzt wandte sich Amanda an den Verlagsleiter. Ohne Zweifel war das Literaturphantom wieder am Werke, diesmal mit dem eigenen. Um die Gemüter zu beruhigen, gab der Verlagsleiter Amanda den Auftrag, das Manuskript durchzusehen, als sei es mit der Post gekommen, und zwar gründlich, von Anfang bis Ende, und wenn Amanda es für halbwegs tauglich befinden würde, werde es veröffentlicht.

Anfänglich traute sich Amanda nicht, auch nur ein falsch gesetztes Komma – und davon gab es reichlich – zu ändern, mit fortschreitender Lesedauer wich ihr Zögern jedoch amüsierter Überheblichkeit. Sie rief ihre Kolleginnen zusammen und trug einzelne Textpassagen vor.

Mit wachsender Empörung verfolgte Erik am Monitor, wie sich das Lektorat in Heiterkeit erging. Wie konnte die Frau, die er liebte, ihn so verhöhnen? Amanda sollte für ihren Hochmut büßen, beschloss er, sie sollte leiden, wie er gelitten hatte und erfahren, wie eine verätzte Seele schreit. Zuerst müsste er Amanda in seine Gewalt bringen, sie entführen, und dann würde er ihren Geist für die Abfassung eines gewaltigen Romans – er dachte an eine Trilogie von je achthundert Seiten – und ihren Körper zur Stillung seines gewaltigen Verlangens gebrauchen.

Erik heckte einen Plan für Amandas Entführung aus. Er legte einen Brief auf ihren Schreibtisch und bat sie, ihn am nächsten Abend um zehn Uhr zu treffen. Natürlich ahnte Erik, dass zur verabredeten Stunde kein Polizist zu sehen, dafür umso mehr in ihren Verstecken lauern würden, und darum dachte er nicht daran, zum vereinbarten Zeitpunkt in Amandas Büro zu erscheinen.

Gegen Mitternacht wurde die Aktion abgebrochen und ein Polizist beauftragt, Amanda auf dem Nachhauseweg zu begleiten. Unten an der Eingangstür richtete der Nachtpförtner dem Polizisten aus, er möge noch einmal kurz in das Büro der Einsatzleitung kommen. Kaum war der Polizist die Treppe hinauf, betäubte der Nachtpförtner Amanda mit KO-Spray. Zurück blieb der gefesselte und geknebelte echte Nachtwächter, den die Polizei auf dem Boden des engen Aufenthaltsraumes hinter der Pförtnerloge fand.