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Folge 127 vom 6. August 2007

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Nach einer Woche wurde ich entlassen. Körperlich sei alles in Ordnung, wurde mir mitgeteilt, und ob ich nicht eine Therapie machen wolle. Die Tabletten müsse ich weiterhin einnehmen, mein Hausarzt solle sie mir verschreiben. Ich nickte, ohne die feste Absicht, die Anweisung zu befolgen.

Den Taxistand in der Nähe des Haupteingangs ignorierte ich. Heiter, sagten die Meteorologen zu diesem Wetter, und so fühlte ich mich, seit ich aus dem Krankenhaus auf den Fußweg zur Straße getreten war. Die Aussicht auf einen Fußmarsch von einer Stunde war verlockend und würde mir helfen, den Kontakt zum normalen Leben wieder herzustellen. Am Prinzregentpark bog ich auf einen der Spazierwege ein, schlenderte zwischen den Rasenflächen und durch ein dichtes Gebüsch aus Rhododendron, um einen Teich herum und setzte mich schließlich auf eine Bank in den Schatten.

Unter den Bäumen und in der Sonne lagen junge Leute dösend oder lesend auf Decken und Handtüchern, überwiegend einzeln oder zu zweit. Ein paar Jungen auf Fahrrädern umfuhren die Spaziergänger auf dem Weg in Schlangenlinien, hatten unbändigen Spaß und genossen triumphierend die Beschimpfungen. Junge Mütter schoben ihre Kinderwagen vor mir vorbei, alte Frauen passierten mich wie in Zeitlupe. Ich beobachtete den stetigen Wechsel, ohne eine wirkliche Veränderung festzustellen. Nach einiger Zeit nahm ich meine Sporttasche. Ich konnte die Rückkehr in meine Wohnung hinausschieben, aber nicht verdrängen.

Auf der Luitpoldbrücke blieb ich stehen und schaute dem träge unter mir fließenden Wasser zu. Die Uferwiesen waren gut besucht von Menschen, die es sich für ein paar Stunden wohl sein ließen. Ich überlegte, ob ich in einen Biergarten gehen sollte, aber allein? Ich hatte mich völlig von Pia abhängig gemacht, keine neuen Bekanntschaften geschlossen und bis auf das Schreiben alles Leben aus mir verdrängt. Es blieb mir nur noch, ein Requiem auf mich zu verfassen.

Schreiben? Was hatte ich eigentlich die ganze Zeit in meiner Wohnung getrieben? Im Laufschritt überquerte ich die Luitpoldbrücke und stürzte in eine Bäckerei. Ich sei von den Barmherzigen Schwestern entlassen worden und müsse sofort wieder hin, erzählte ich der Verkäuferin. Mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck schummelte ich mich an fünf Kundinnen vorbei; ein überzeugt vorgetragener Notfall, denn ich brauchte das Telefonat nicht zu bezahlen.

Das Taxi kam in weniger als fünf Minuten. Alle Achtung, sagte ich beim Einsteigen, der Moosbauer ist perfekt organisiert. Wie lange er schon bei Moosbauer arbeite, fragte ich und schaute auf das Schild am Armaturenbrett: Mehmet und viele ü’s und eine Wagennummer, die mich ins Grübeln brachte. Das Getriebe rauscht immer noch, sagte ich.

Kallweit lag nicht im Fenster, als mich Mehmet in der Gottfried-Keller-Straße absetzte. Vielleicht sitzt er in seinem Leemsstuhl, dachte ich, und schämte mich gleichzeitig für meine Gedanken. Oben in der Wohnung setzte ich das Schämen fort. Ich hatte nur noch eine vage, nahe an Chaos reichende Vorstellung, in welchem Zustand die Wohnung gewesen sein musste. Olga hatte gründliche Arbeit geleistet, gemessen an meinem frustrierten Putzen hätte ich zwei Verlagsabsagen gleichzeitig gebraucht.

Das Manuskript lag, wo es hingehörte, neben der Schreibmaschine. Hastig blätterte ich den Papierstapel durch. Keine Seitenzahlen! Verständlich, was im Computer von der Textverarbeitung erledigt wurde, hätte ich an der Triumph selbst bedenken müssen. Vorsichtig trug ich das Manuskript zum Tisch, und nur zaghaft traute ich mich trotz der brennenden Neugier, mit dem Lesen zu beginnen. Gleich mit der Überschrift schwanden ein Teil meiner Selbstzweifel, ich war entzückt, welche formale und beherrschende Wirkung von den beiden Worten Erstes Kapitel ausging. Der erste Satz war ein Plagiat, er war indes so bekannt, dass er auch ohne Nennung des Verfassers als Zitat durchging. Nach einer Minute war der Satz und alles um mich herum vergessen.

Es war wieder einmal Nacht, als ich das letzte Blatt an die Seite legte, welches passender Weise mit Letztes Kapitel überschrieben war und auch zuunterst im Stapel lag, aber wie etwa dreißig Seiten vorher keinen erzählenden Text, sondern Fingerübungen an der Schreibmaschinentastatur enthielt. Die Handlung war mit Stefans Bekenntnis und der unerwarteten Verabschiedung von Alfred nicht abgeschlossen.

Nur einen flüchtigen Augenblick dachte ich daran, mich an die Schreibmaschine zu setzen und den Roman zu Ende zu schreiben. Ich traute mich kaum, die Triumph anzufassen und an ihren angestammten Platz in das Regal zurückzustellen. Nichts passierte, die Maschine bleckte weder ihre silbernen Zahnreihen noch fühlte ich mich besonders zum Schreiben angeregt. Im Gegenteil, bei der Vorstellung, Papier zu beschreiben, überkamen mich Beklemmungen. Das war kein Widerspruch zu der Genugtuung und der Begeisterung, die mich beim Lesen des Roman begleitet hatten. Ich könnte an dem einen oder anderen Kapitel allerdings noch feilen …

Meine Müdigkeit rettete mich aus dem Zwiespalt.

Als ich aufwachte, war die Mittagszeit vorbei. Ich ärgerte mich, weil ich nahtlos an meine früheren schlechten Angewohnheiten anknüpfte. Wenigstens hatte ich angenehm geträumt, wie ich mit Bettina im Bett lag und wir die Holzbalken betrachteten und ungeduldig auf die Fortsetzung der Handlung warteten.

In der Bäckerei um die Ecke ließ ich mir ein Käsebrötchen schmieren und trank einen Becher Kaffee. Für Olga musste ich ein Geschenk besorgen, aber was? Zu Geschenk fiel mir nur Präsentkorb ein, und zum Einkaufen fehlte mir die Lust. Zu allem Überfluss begegnete ich Kallweit im Hausflur. Er trug einen Sack Holzkohle und Grillwürste und wollte in den Hof.

»Gehdet dir widda besser?«

»Ich komme zurecht. Was könnte ich eigentlich Ihrer Frau schenken? Die Wohnung ist tip-top sauber.«

Kallweit winkte ab.

»Ich lasse mir etwas einfallen«, versprach ich, »jetzt habe ich noch zu tun.«

Ich war schon auf halber Treppe, als mir Kallweit nachrief: »Wennze drei Tage nich mähr ausse Bude komms, kommich nachsehn.« Die Gelegenheit würde ich ihm nicht geben, nahm ich mir fest vor. Ich musste den Roman fertig stellen, einen sauberen Schnitt zwischen dem Vergangenen und der Gegenwart ziehen und mich in meinem Leben zurück melden. Nicht auf der Schreibmaschine, sagte ich laut zu mir selbst und stellte den Computer an.