Dr. Renate Giacomuzzi ist am Institut für Germanistik der Uni Innsbruck mit der wissenschaftlichen Projektdurchführung von DILIMAG betraut. Das Kürzel steht für »Digitale Literaturmagazine«, die im Rahmen des Projektes bibliographisch erfasst und archiviert werden sollen. Kein einfaches Unterfangen, denn neben den rein technischen Aspekten, sind eine ganze Reihe rechtlicher Dinge zu beachten. Was muss man? Was darf man?
In ihrem Artikel, den Renate Giacomuzzi exklusiv für das literaturcafe.de geschrieben hat, erläutert sie die Hintergründe und Rahmenbedingungen der Langzeitarchivierung von Webdokumenten.
Ich lese in der Netzeitung.de, dass der Schriftsteller Peter Glaser die SMS der E-Mail vorzieht, da erstere den Vorteil habe ein Medium zu sein, »das vergessen kann. SIM-Karten haben eine begrenzte Kapazität, man muss irgendwann Daten löschen. Im Zeitalter des allgemeinen Speicherwahns ein unbestreitbares Plus.«
Ich kann dieses Argument gut verstehen – auch bei mir häufen sich die Mail-Ordner in bedrohlicher Weise, denn wer weiß, ob man’s mal braucht. Dass »man’s« mal braucht, davon ist die British Library überzeugt und fordert mit der im Monat Mai dieses Jahres laufenden »Email Britain Campaign« alle britischen Bürger auf, eMails inklusive Müll (heißt Spam) der British Library zu spenden, denn wie sonst könne man künftigen Generationen das bieten, was bislang möglich war: Auch in Zukunft soll das Stöbern in der verstaubten Familienkiste noch möglich sein, auch wenn der Staub dann halt nur noch auf dem Monitor liegt. Und jetzt sind wir schon beim Thema: Wieviel Erinnerung braucht der Mensch, wo beginnt das gesunde Vergessen und wo das krankhafte Sammeln? Wo bleibt das ‚Recht auf den natürlichen Tod‘ der Dokumente und Kunstwerke? Das Manifest von Auer/Rusmann »Für den natürlichen Tod des Kunstwerks« (2001) habe ich noch in Erinnerung – bloß wie lange?
Das menschliche Gehirn ist, beim einen mehr – beim anderen weniger, weder ein verlässlicher noch ein dauerhafter Speicherträger, weshalb der Mensch auch immer schon auf der Suche nach prothetischen Erweiterungen seines Gedächtnisses war. Wer weiß, ob und wer mal was braucht – diese Frage ist die große, manchmal für Außenstehende nicht ganz nachvollziehbare und demgemäß oft belächelte Kraft, die die eifrigen Sammler beflügelt. Doch zum Sammeln braucht es keine Flügel sondern – zumindest für den Sammelbereich, um den es hier geht: Sitzleder plus Computer mit Netzanschluss. Das Recht und die Pflicht des archivarischen Zugriffs auf einen Bereich, der bislang (und in vielen Köpfen immer noch) als entweder unwürdiges Abfallprodukt einer degenerierten Mediengesellschaft galt oder als Medium der Vergänglichkeit gefeiert wurde, in dem man sich austoben darf ohne für immer und ewig dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden, ist mittlerweile in vielen Staaten als zukunftsweisende Richtlinie verankert, so auch seit 24. August 2006 in der EU (siehe »Empfehlung der Kommission zur Digitalisierung und Online-Zugänglichkeit kulturellen Materials und dessen digitaler Bewahrung« 2006/585/EG). Nach den schon in den frühen Jahren des Internet begonnenen systematischen Sammelinitiativen durch das amerikanische Projekt »Internet Archive« (seit 1996), das kanadische »Web Archive« (seit 1997) und das Projekt der australischen Nationalbibliothek »Pandora« (seit 1996), fördert und koordiniert nun auch die EU mit der Initiative »digitale Bibliotheken« (i2010: Digitale Bibliotheken) nationale Langzeitarchivierungsprojekte mit dem Ziel, 2010 die Sammlungen über das gemeinsame Portal der »European Library« zugänglich zu machen.
In Deutschland übernimmt mit Inkrafttreten des »Gesetzes über die Deutsche Nationalbibliothek« am 2. Juni 2006 (BGBl. I S. 1338) die Deutsche Nationalbibliothek die Verantwortung für die Sammlung, Bereitstellung und Archivierung von Netzpublikationen (siehe »DNB: Info Deposit«), d.h. konkret: »Heritrix«, wie die von »Internet Archive« entwickelte »Erntemaschine« (harvester) heißt, wird sich in regelmäßigen Abständen durch die gesamte deutsche Domain wühlen und den Ertrag zur technischen Weiterverarbeitung abliefern, die mittels entsprechenden Maßnahmen den langfristigen Zugang zu den gesammelten Websites sicherstellt.
»Hypertrophe Auswüchse einer zurückgestellten Institution, die sich durch diese Hypertrophie einen Arbeitsplatz legitimieren will« – so ähnlich formulierte ein Teilnehmer der Frühjahrstagung der Fachgruppe 7 (fg7) der Medienarchivare und Mediendokumentare im SWR in Stuttgart seine Ablehnung dieses als offensichtlich krankhaft empfundenen Ansinnens, die gesamte »deutschsprachige Domain« zu archivieren. Nein, ganz einfach mittlerweile von kaum einem Staat bezweifelte Notwendigkeit, entgegnete Elisabeth Niggemann, Direktorin der Deutschen Nationalbibliothek, und man merkte, dass sie auf diesen Vorwurf nicht zum ersten Mal reagieren musste.
Nun ist es nicht schwer, überzeugende Argumente dafür zu finden, warum im Internet publizierte und über dieses Medium verbreitete Dokumente ebenso erhaltenswert sind wie es die vorab in Stein gemeißelten, auf Höhlenwände gemalten, auf Papier geschriebenen und gedruckten oder auf Wachswalzen, Magnet- und Zelluloidbändern aufgezeichneten Schrift-, Bild und Hördokumente waren. Doch es gibt auch eine ganze Reihe von Argumenten, die die elektronische Langzeitarchivierung aus urheberrechtlichen oder anderen Gründen in Frage stellen. Die gesetzlich verankerte Absicherung aller Rechte, über die ein Urheber verfügen darf, scheint – zumindest dem »Korb 2« genannten Entwurf zur Neuregelung des Urheberrechtsgesetzes folgend – nicht ohne Widersprüche mit den Ansprüchen einer Bildungsgesellschaft vereinbar zu sein, deren Interesse es ist, über einen möglichst barrierefreien und langfristig gesicherten Zugang zu Wissensquellen zu verfügen. Als einzige sichere, d.h. nicht mit den Urheberrechtsbestimmungen in Konflikt geratende Möglichkeit, elektronische Sammlungen von Internetquellen der Öffentlichkeit zu nichtkommerziellen Zwecken, d.h. für Bildung, Forschung und private Nutzung zur Verfügung zu stellen, bleibt derzeit die Einzelabsprache mit den Inhabern der Urheberrechte, die die Art der Sicherung und Veröffentlichung regelt. Doch auch dies lässt sich in der Praxis nur schwer umsetzen, da beispielsweise die Herausgeber von unentgeltlichen Online-Magazinen – siehe literaturcafe.de – nicht über die uneingeschränkten Nutzungsrechte der Einzelbeiträge verfügen und diese wiederum nur über ein persönlich erteiltes Einverständnis der Autorinnen und Autoren erlangen könnten. Auch wenn bei den meisten Herausgebern die Bereitschaft besteht, sich für den langfristigen Erhalt der online veröffentlichen Inhalte zu engagieren, schreckt ein solcher Aufwand dann – verständlicherweise – doch die meisten ab. Ein Schritt, der wenig Aufwand kostet, aber der Sache dienlich wäre: Herausgeber machen Autoren, die einen Text zur Veröffentlichung im Internet zur Verfügung stellen, deutlich darauf aufmerksam, dass die Veröffentlichung möglicherweise, mit Einverständnis der Herausgeber, in Archivierungsprojekte aufgenommen wird. Die elektronischen Archive wiederum verpflichten sich, die gesammelten Inhalte ausschließlich zum Zwecke der Forschung und Bildung der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen und auch dies nur dann, wenn dadurch keine absehbaren Schäden, weder für die Herausgeber der Website noch für die AutorInnen, entstehen.
Sollten einzelne Autoren und Herausgeber trotzdem im Nachhinein Nachteile aufzeigen können, die ihnen aus der Archivierung entstanden sind, so sollten die Archive die Möglichkeit anbieten, den öffentlichen Zugang zu einzelnen Dokumenten aus dem Archivbestand einzustellen. Diese Vorgehensweise hat sich beispielsweise bei »Pandora«, dem Langzeitarchivierungs-Projekt der australischen Nationalbibliothek bewährt, die sich durch eine Umfragestudie davon überzeugte, dass sowohl Autorinnen und Autoren wie Herausgeberinnen und Herausgeber keinerlei negative Erfahrungen durch den freien Zugang zum elektronischen Archiv gemacht und sich eher umgekehrt positive Auswirkungen gezeigt haben, wie z.B. Aufwertung der durch die Nationalbibliothek ausgewählten Website, Vorteil eines kostenlosen Backups, Erweiterung des potentiellen Adressatenkreises (Vgl. Edgar Crook: Assessing the Impact of Archiving on the Archived, in: RLG DigiNews, 15. August 2006). Auch der ebenfalls freie Zugang über die »Wayback-Machine« zum »Internet Archive« ist lediglich über die in den angloamerikanischen Ländern flexiblere Praxis des »fair use« möglich, die eine der jeweiligen Situation angepasste Interpretation des Copyright-Gesetzes erlaubt (Vgl. Stanford University libraries: »Copyright and fair use«). Dies bedeutet allerdings nicht, dass das »Internet Archive« rechtlich unanfechtbar ist, denn was wirklich »fair« ist, entscheiden letztlich die Richter. Diese mussten bisher noch keinen Fall entscheiden, der sich aus der Sammeltätigkeit des »Internet Archive« ergab und dies spricht für die Vorgangsweise des Archivs, das den Eigentümern von Websites auch eine Anleitung gibt, wie man sich mittels Anwendung von robots.txt vor Crawlern schützen kann.
Doch verlassen wir diese graue Zone und trösten uns mit den Worten von Peter B. Hirtle von der Cornell University Library: »Good preservation practice has often existed in a legal gray area.« Die Probleme, welche Autoren bzw. Rechtinhaber von Websites mit Archivierungsmaßnahmen tatsächlich haben, scheinen – so ist bislang mein Eindruck – allerdings gar nicht so sehr im Bereich des Urheberrechts zu liegen. Vielmehr scheint die ‚künstliche‘ Verlängerung der Lebensdauer einer Internetseite für manche Autoren ein Problem zu sein, denn nicht alles, was man seinerzeit so flott und mutig ins Netz gestellt hat, will man auch den Enkeln und Urenkeln zumuten. Der Wunsch, einen Text wieder aus dem Netz zu nehmen, sei es, weil man nicht mehr »gegoogelt« werden will, sei es, weil man ganz einfach ein Dokument löschen möchte, weil es fehlerhaft, schlecht oder was auch immer war, ist legitim und es ist dies ja eine der liebenswerten Besonderheiten des Internets, dass Inhalte ständig erneuerbar, korrigierbar und löschbar sind. Letzteres allerdings nicht in dem Ausmaß, wie manche Verfasser von Webdokumenten vielleicht annehmen, denn auch wenn ich ein Dokument lösche, heißt das nicht, dass es nicht als Kopie auf einem anderen Rechner liegen bleibt und schon gar nicht, dass es nicht schon lange von einem Webcrawler in ein digitales Repositorium geschaufelt wurde. Die Struktur des Internets erinnert an das seinerzeit mit fast rührender Begeisterung von Freud gerühmte simple Aufschreibegerät, den »Wunderblock« (Notizen über den Wunderblock, 1925): wenn man die Oberfläche löscht, bleiben trotzdem die Spuren auf der Wachsschicht erhalten und genau diese Kombination von den an sich konträren Vorgängen des Speicherns und Löschens, Erinnern und Vergessens, ist jene Fähigkeit unseres menschlichen Gehirns, der wir unser seelisches Gleichgewicht verdanken. Die Kurzlebigkeit von Dokumenten im Internet ist kein Problem, wenn sie an einem gut gesicherten Ort aufbewahrt und zugänglich gemacht werden.
Das erst vor 2 Monaten gestartete Projekt »Dilimag« (Digitale Literaturmagazine) am Innsbrucker Zeitungsarchiv der Universität Innsbruck (IZA) hat es sich zur Aufgabe gemacht, ausschließlich online erscheinende Literaturmagazine zu erfassen, zu beschreiben und zu archivieren. Gemeinsam mit der Abteilung für Digitalisierung und elektronische Archivierung der Universitätsbibliothek Innsbruck (DEA) und dem Einsatz von Heritrix und anderen technischen Maßnahmen wird ein digitales Repositorium für »digital geborene« Literaturmagazine erstellt, welche über keine Printvarianten verfügen und daher besonders gefährdet sind verlorenzugehen. Dies wäre jedoch ein – zumindest für uns Literaturwissenschaftler – schwer verschmerzbarer Verlust, denn der Verdienst, die Literatur ins Netz zu führen und sie dort zu fördern, kommt in ganz besonderem Ausmaß den Literaturmagazinen zu, die die nötigen Strukturen geschaffen haben, innerhalb derer sich ein literarisches Leben entwickeln konnte. Und die Frage, die auch spätere Generationen noch stellen werden, nämlich welche Transformationen die Produktion, Rezeption und Distribution von Literatur durch den Medientransfer erlebt haben, lässt sich nur über das Quellenmaterial beantworten.
Renate Giacomuzzi