StartseiteAlmtraumFolge 40 vom 11. Mai 2007

Folge 40 vom 11. Mai 2007

Damit das Versagen des Polizeiapparates erst einmal von der Öffentlichkeit unbemerkt blieb, wurde eine Nachrichtensperre verhängt – um Amandas Leben nicht zu gefährden, so die Version der Polizei. Die Polizeipsychologin überzeugte die Verlagsleitung von der Richtigkeit dieser Maßnahme. Wenn über die Entführung in der Presse nicht berichtet werde, so argumentierte sie, bringe die Nichterwähnung das Phantom zur Raserei, denn es sei gerade das erklärte Ziel des Phantoms, gedruckt zu werden und die Medien auf sich aufmerksam zu machen. Aller Erfahrung nach mache ein rasendes Phantom Fehler, und Fehler seien aller Erfahrung nach gut für die Aufklärung.

Erik war wegen der ausbleibenden Resonanz in der Tat ziemlich wütend. Um Fehler zu machen, blieb ihm allerdings keine Zeit. Zunächst sorgte er in den Tagen nach der Entführung für Amandas Wohlergehen und beschaffte unter schwierigen Umständen und unter Gefährdung seiner Sicherheit alles, was sie für das Leben im Dunkeln benötigte und wünschte.

Jeden Abend um acht Uhr veranstaltete Erik eine Lesestunde bei Kerzenlicht. Dafür zog er den Frack an und zwang Amanda in das schwarze Kostüm mit dem unverschämt offenen Dekolleté, das er eigens für diesen Anlass besorgt hatte. Abwechselnd lasen sie aus Kaff auch Mare Crisiumund aus Finnegans Wake. Ob es denn unbedingt nur Arno Schmidt und James Joyce sein müssten, fragte Amanda am dritten Abend, gerne würde sie auch zeitgenössische Schreiberinnen wie Ira Lehnd oder Hanny Baumgapt vortragen. Erik gab keine Antwort. Ebenso brüsk wies Amanda ihn zurück, als er sich ihr erstmals in eindeutiger Absicht näherte.

Eine Woche nach Amandas Entführung war die Polizei der Aufklärung keinen Schritt näher gekommen. Weder das Verhör des Nachtwächters noch die Untersuchung, wie das Phantom ungesehen das Gebäude betreten und verlassen konnte, führten zu einem Ergebnis.

Wie üblich kam der Verrat aus den eigenen Reihen. Amandas Kollegin Gundula, zuständig für die Buchreihe »Die Frau in unserer Zeit«, witterte eine Chance, Amanda manch neidvoll beobachteten Männerblick heimzuzahlen, sie verkaufte die Geschichte des Phantoms und Amandas Entführung an den Express, das auflagenstärkste Blatt der Boulevardpresse. Die Emotionen der Öffentlichkeit gingen hoch.

In dieser kritischen Situation entwickelte der Leitende Oberstaatsanwalt eine geniale Idee. Kein Fall ist so verworren, als dass die Elite der deutschen und internationalen Ermittlungsbehörden nicht auf die Lösung kommen würde: Rickerd, ortsansässig, der aber schon in fast allen Wohnzimmern dieser Welt ermittelt hatte und noch während des Telefonats mit dem Leitenden Oberstaatsanwalt den Wagen vorfahren ließ, Kommissar Maigret, Columbo, Sherlock Holmes, Mr. John G. Reeder, ein Detektiv der Staatsanwaltschaft in London. Umgehend wurde im Kongresszentrum eine mit sämtlichen einschlägig vorbelasteten Autoren zu besetzende Fahndungszentrale vorbereitet, die dort Tag und Nacht an ihren mitgebrachten Schreibgeräten sitzend mögliche Auflösungen produzieren sollten.

Leider ergaben sich unvorhergesehene Schwierigkeiten. Man stellte fest, dass Edgar Wallace bereits im Jahre 19?? verstorben war. Zu der Zeit war Mr. Reeder schon an die fünfzig Jahre alt. Von einem nahezu hundertzwanzig Jahre alten erfolgreichen Spürhund hätte man im Zeitalter der Massenmedien gehört.

Stefan ging hinüber zum Bücherregal, schob mit dem Fuß einige Tellerscherben an die Seite, und schlug in drei Bänden des Lexikons nach. »Zweiunddreißig, dreißig und neunundachtzig«, schärfte er sich halblaut ein. Wieder am Computer, ergänzte er bei Edgar Wallace die Jahreszahl auf 1932, bevor er weiterschrieb.