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Textkritik: Augen im Fahrstuhl – Prosa

Eine Textkritik von Malte Bremer

Augen im Fahrstuhl

von Birgit Meyer
Textart: Prosa
Bewertung: 4 von 5 Brillen

»… finden Sie sich bitte um 10.30 Uhr in unserem Büro, Zimmer 1412 ein!«
Mit dieser Einladung in der Innentasche des grauen Jacketts war Herr Groß auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch. Ein Außendienstmitarbeiter wurde gesucht. Er brauchte den Job. Korrektes Auftreten und gepflegtes Äußeres, darauf kam es an. Das wusste er.
Er stand vor dem Bürohochhaus und schaute an der Fassade aus Glas und Beton hinauf. Das Sonnenlicht spiegelte sich blitzend in den Scheiben. Drinnen im Foyer stellte er fest, dass sich Zimmer 1412 in der 14. Etage befand. Im Fahrstuhl visierte er durch den unteren Teil seiner Zweistärkenbrille die Leiste mit den Etagennummern an. Er bemerkte, dass es keinen Knopf mit einer 13 gab und nach der 12. die 14. Etage folgte. Ein Tipp mit dem Finger. Die Tür schloss sich und er fühlte sich sanft empor gehoben. Ein Blick auf die Armbanduhr. Er würde auf die Minute pünktlich eintreffen. Plötzlich erstarb das summende Fahrgeräusch und die Kabine wurde jäh abgebremst. Ein Ruck, das Licht flackerte, verlosch und ging wieder an. Herr Groß lauschte. Stille.
»Ich werde zu spät kommen!«, schoss es ihm durch den Kopf, und: »Wie hoch hänge ich?«
Sein Finger drückte auf den roten Alarmknopf. Es ertönte eine schnarrende Stimme: »Bitte haben Sie etwas Geduld! Wir suchen bereits nach dem Fehler.«
Nun gut. Herr Groß wollte sich nicht aufregen. Jedoch zwickte seine Hose im Schritt und es juckte ihn hinten. Er ließ eine Hand in den Bund gleiten um die Ursache des Zwickens zu beseitigen. Gleichzeitig kratzte er mit der anderen die Stelle, die so entsetzlich juckte. Bald darauf kribbelte es am Schulterblatt. Er führte die Hand in das Jackett und unter der Achsel hindurch. Uuh, was war denn das? Er zog das Revers etwas ab und schnupperte. Kein Zweifel, das Deodorant versagte kläglich. Er transpirierte noch heftiger und lockerte mit rollenden Augen seine Krawatte, wobei er den Hals reckte und eine Grimasse zog. Da bildete sich in seiner Nase plötzlich ein Überdruck, der sich mit zwei heftigen Niesern entlud. Hastig riss er ein zerknülltes Taschentuch aus der Hosentasche, um der Explosion Herr zu werden. Nachdem er es wieder eingesteckt hatte, überlegte er, ob ein Rest irgendwo hängen geblieben sein könnte. Das wäre peinlich. Er erforschte mit dem Zeigefinger beide Nasenlöcher und den Bart. Da ihn das nicht zufrieden stellte, zog er einen kleinen Spiegel aus seiner flachen Aktentasche und kontrollierte mit prüfendem Blick die gefährdeten Zonen. Nichts. Gut, aber die Frisur? Bedeckte das mühsam zurecht gelegte Haar noch die kahlen Stellen? Er hielt den Spiegel in die Höhe und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen. Er grunzte ärgerlich, denn die Windböen draußen hatten das Ergebnis der mühseligen Morgentoilette zerzaust. Mit dem kleinen Kamm aus der Gesäßtasche richtete er die verirrten Strähnen, leckte den Handballen an und drückte sie an den Kopf. Ob auch kein Schmalz in den Ohren hing? Er zog die Stirn kraus. Das würde sehr ungepflegt wirken. Mit beiden kleinen Fingern drang er in die Gehörgänge ein und schraubte. Sorgsam betrachtete er den Fund unter den Nagelrändern. Mal gut, dass ihm das noch eingefallen war. Nun fielen ihm die dunklen Streifen unter den anderen Fingernägeln auf. Er entfernte sie mithilfe der spitzen Eckzähne. Ob auch nichts in den Zahnzwischenräumen hing? Er holte den Spiegel wieder hervor und entblößte durch Zurückziehen der Lippen die Reihen großer, gelblicher Schneidezähne. Er fand unten noch Reste vom Mohnbrötchen, die er flugs entfernte. Das hätte beim freundlichen Begrüßungslächeln schlecht ausgesehen.
Der Fahrstuhlkorb erzitterte, als das Motorengeräusch einsetzte und die Fahrt weiter ging. Kurz darauf klopfte Herr Groß an die Tür mit der Nummer 1412. Eine weibliche Stimme bat: »Herein!«
»Guten Morgen«, begann er, »Mein Name ist Groß. Bitte entschuldigen Sie meine kleine Verspätung. Der Fahrstuhl ist stecken geblieben…«
»Ich weiß!« unterbrach ihn die blonde Dame hinter dem Schreibtisch. Sie musterte ihn, presste die Lippen aufeinander und es sah aus, als koste es sie große Mühe ihren ernsthaften Gesichtsausdruck zu bewahren. Herr Groß zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Sie deutete auf einen Monitor, der das Innere einer Kabine zeigte, die ihm sehr bekannt vorkam.

© 2002 by Birgit Meyer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Flüssig, lebendig und humorvoll.
Empfehlen würde ich einen mutigeren Umgang mit den Satzzeichen: Punkte trennen viel zu stark, vor allem da, wo es um Zusammenhänge geht. Da wären viele Stellen zu finden (z.B.: Herr Groß lauschte. Stille. statt Herr Groß lauschte: Stille.) Aber das ist Erfahrung und Übung und auch Wille.

Die Kritik im Einzelnen

Das stand hat keinerlei Bedeutung; dass es ein Bürohochhaus ist, lässt sich der Fassade aus Glas und dem Heraufblicken entnehmen; da er zu einem Vorstellungsgespräch unterwegs ist, muss es ein Büro sein.
Zusammenfassung: gekürzt hieße der Satz ganz schlicht Er schaute an der Fassade aus Glas und Beton hinauf. zurück
Das Sonnenlicht spiegelt sich in den Scheiben: okay! Das Sonnenlicht blitzt in den Scheiben: besser! Aber das Sonnenlicht spiegelt sich blitzend in den Scheiben ist zu viel – schließlich kann Sonnenlicht sich kaum träge spiegeln… zurück
Nanu: macht Draußen im Foyer denn irgendeinen Sinn, wenn jemand von außen in selbiges schreitet? Weg mit Drinnen! zurück
Alles funktioniert bestens – und das würde ich mit Doppelpunkten hervorheben, und zwar auch in den beiden Sätzen zuvor; dann ergäbe sich noch die Parallelführung Ein Tipp mit zu Ein Blick auf, was eine viel engere Verbindung schafft zwischen dem funktionierenden Aufzug und dem funktionierenden Stellenbewerber:
Ein Tipp mit dem Finger: die Tür schloss sich und er fühlte sich sanft empor gehoben. Ein Blick auf die Armbanduhr: er würde auf die Minute pünktlich eintreffen. zurück
Iiiiiih, was sind das für Laute? Ooooooh, das sind Ausrufe des Erstaunens und Ekels und der Überraschung und und und! Aaaaaaaaah, damit könnte man ja jeden Satz beginnen, aber – uuuuuuuh! – das trägt eigentlich gar nichts zum Verständnis bei! Eeeeeeeh, ääääääh, also besser weg mit solcherlei doch eher hilflosen Verbalisierungen! zurück
Gemeint ist wohl nicht die Explosion, denn die ist vorbei, bevor Herr Groß das Taschentuch zücken könnt: Herr werden kann er nur noch der Folgen der Explosion! zurück
Nun: womit denn sonst? Also hinfort mit prüfendem Blick (was gleichzeitig ein weiteres überflüssiges Attribut eliminiert: so soll’s sein!) zurück

© 2002 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.