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Textkritik: Das Märchen vom blauen Dunst – Prosa

Eine Gastkritik von Nicole Thomas

Das Märchen vom blauen Dunst

von Doris Eybl
Textart: Prosa
Bewertung: 2 von 5 Brillen

Es waren einmal ein König und eine Königin, die lebten mit ihren drei Söhnen glücklich und zufrieden in ihrem Reich. Groß und mächtig war es nicht, nährte aber die Seinen ausreichend. Das Land war ringsum von hohen Bergen umgeben. Den Bewohnern fehlte die Leidenschaft, so wollten sie nicht ergründen, was jenseits der unübersteigbar scheinenden Felsen wäre. Demzufolge meinten sie, die einzigen Menschen zu sein. Ferner waren sie in der glücklichen Lage keine Kriege führen zu müssen, mit wem auch?
Dennoch kam eines Tages ein Fremder ins Land, beladen mit den Errungenschaften und der Gier seiner Zivilisation. Enttäuscht verließ er jedoch alsbald das Land. Seine Erwartungen hatten sich nicht erfüllt, keine Bodenschätze, keine Märkte, die zu erschließen wären, es gab nichts, was mitzunehmen sich lohnte. Mit leichtem Gepäck wollte er über die Berge, so ließ er allen unnötigen Ballast zurück. Ein Flimmerkasten hatte ganz besonders das Interesse der Königsfamilie gefunden, so bekam er einen Ehrenplatz im Schloss.
Täglich versammelte sich nun der ganze Hofstaat um die laufenden Bilder zu bewundern. Am besten gefielen die ganz kurzen Bildfolgen mit einprägsamer Musik. Sie zeigten Dinge, die kein Bewohner je gesehen hatte. Weiße, zehn Zentimeter lange Stangen gaben blauen Dunst, damit wären die Menschen glücklich, stark, schön und frei. Der König erklärte, er brauchte diese Dinger unbedingt zu seiner und der Königin Glückseligkeit. Also sandte er seine Söhne aus, sie zu suchen. Dem Ersten, der damit zurückkäme, versprach er sein Reich. Dies war für die jungen Männer ein großer Anreiz, konnte sich doch der König für keinen Erben entscheiden. Jeden zweiten Tag versprach er die Krone einem Anderen.
Reich bepackt mit Segenswünschen und anderen unbrauchbaren Dingen machten sich die beiden älteren Brüder auf den Weg. Der Jüngste sollte zu Hause bleiben, war er doch ein rechter Tollpatsch, auch von den Brüdern als solcher verlacht. Zudem wollte ihn die Königin nicht den Gefahren der Wanderschaft aussetzen.
So zog er sich in seine Kammer zurück, dort wolle er nachdenken.
Die zwei Prinzen aber wanderten in kleineren und größeren Kreisen im ganzen Land umher. Kein Zwerg, keine Hexe und auch keine Fee eilte ihnen zu Hilfe. Es war nichts zu machen, keine Spur der kleinen weißen Stängel. Auch der Einfall des Ältesten führte zu nichts. Er meinte, man könne doch irgendetwas anderes entzünden, Lianen zum Beispiel. Doch deren Rauch war grau und trübe.
Der Jüngste aber saß noch immer in seiner Kammer und dachte nach.
Die Jahre gingen ins Land. König und Königin, grau und alt geworden, sehnten ihre Söhne herbei. Diese hatten durch das lange Wandern auf denselben Wegen tiefe Gräben ins Land gezogen und waren darin versunken. Es hieß, sie irrten noch immer dort herum, ab und zu begegneten sie einander. Über die Gräben wurden Brücken geschlagen, um nicht dem Getriebe der Bevölkerung Einhalt zu gebieten.
Der Jüngste aber saß noch immer in seiner Kammer und dachte nach.
Aus seinem Kopf stieg nach langen Jahren blauer Dunst empor und hüllte das Schloss in bläuliche, dichte Rauchschwaden. Als die Königin endlich aus dem Fenster sah, sie hatte sich das abgewöhnt, um nicht die tiefen Gräben sehen zu müssen, in denen die Söhne umherirrten, rief sie aufgeregt nach dem König: »Ach, mein lieber Gemahl, sieh nur wie der blaue Dunst unser Schloss einhüllt!« Späher wurden ausgesandt, sie sollten die Quelle des begehrten Dunstes finden. Alles deutete schließlich darauf, dass der Qualm aus dem Schlosse selbst komme, und der denkende Jüngste wurde zu guter Letzt in seiner Kammer entdeckt. Großer Jubel brach aus. Der Knabe – nun schon zum stattlichen Manne gereift – wurde König. Da er so wenig ehrgeizig wie eigennützig war, lehrte er seine Eltern und auch seine Untertanen die Kunst der Raucherzeugung durch Nachdenken.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie glücklich und zufrieden und haben noch immer keine Zigaretten.

© 2002 by Doris Eybl. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Vorbemerkung: Die folgende Kritik (Zusammenfassung und Einzelkritik) stammt zum ersten Male nicht von mir, Malte Bremer, sondern von jemand anderem: sie heißt Nicole Thomas, ist 30 Jahre und hat mit Grafik-Design zu tun. Sie hatte sich an mich gewandt wegen einer Kritik, die ihrer Meinung nach unangemessen war. Nun kommen solche Zuschriften immer mal wieder vor, und ich antworte auch darauf, es sei denn, irgend ein Gestörter ergeht sich in Beschimpfungen und Beleidigungen. In der Regel biete ich den Kritik-Kritikern an, es doch einmal selbst zu versuchen – bisher allerdings vergeblich. Nicole hingegen war zu meiner grenzenlosen Überraschung sofort einverstanden! Hier können Sie jetzt ihre erste Arbeit lesen, und Sie können ihr selbstverständlich über das Kontaktformular Lob oder Tadel zukommen lassen! Einfach unten ihren Namen anklicken. Jetzt aber zu »Nicoles Meinung«:

Der Text zeichnet sich durch eine klare, präzise Sprache und einen feinen Sinn für Humor aus. Altbekannte Märchenmotive werden hier gekonnt mit modernen Elementen verbunden.
Weit weniger gekonnt ist dagegen der Umgang mit dem eigentlichen Thema des Textes. Hier wird der Versuch unternommen, hinlänglich bekannten Belehrungen über Sinn und Unsinn des Zigarettenrauchens einen originellen Aspekt abzugewinnen. Doch um das zu erreichen, wäre beim Winken mit dem mahnenden Zeigefinger größtmögliche Zurückhaltung geboten gewesen, was leider nicht der Fall ist. Dass dieses Märchen, sprachlich sehr gut umgesetzt, inhaltlich unaufhaltsam ins Klischeehafte driftet, schmälert den Lesegenuss in nicht unerheblichem Maße.

Die Kritik im Einzelnen

Neugier oder Entdeckergeist erscheinen mir in diesem Zusammenhang als passendere Begriffe, sie beschreiben den Sachverhalt, dass sich niemand Gedanken über die Welt jenseits der Berge macht, konkreter als der Begriff Leidenschaft. zurück
Dieser Satz ist im Grunde genommen unnötig, da zum Verständnis des Textes nicht zwingend erforderlich. Soll er dennoch beibehalten werden, um der Schilderung des Lebens in diesem Königreich eine weitere Facette hinzuzufügen, würde ich Folgendes vorschlagen: Daher waren sie in der glücklichen Lage, keine Kriege führen zu müssen. Die Frage mit wem auch? lockert den Text zwar ein wenig auf, ist jedoch andererseits nicht unbedingt notwendig und kann somit weggelassen werden. Dem Verständnis des Textes tut das keinen Abbruch, andererseits verbessert sich durch das Weglassen der Lesefluss. Daher statt ferner stellt diesen Satz in einen engeren Bezug zu dem vorhergehenden Text. zurück
Im Hinblick darauf, dass dieser Fremde die Bewohner des Königreiches nicht in heillose Verwirrung stürzt, wäre meine Empfehlung, im vorhergehenden Abschnitt den Satz Demzufolge meinten sie, die einzigen Menschen zu sein einfach ersatzlos zu streichen. Die Geschichte funktioniert auch dann noch, und bisweilen sogar ein wenig besser, wenn die Einwohner des Königreiches diesem Irrtum nicht unterliegen. zurück
Das unnötig kann weggelassen werden, es sei denn, man möchte wirklich noch einmal verstärkt darauf hinweisen, wie unnütz viele der Dinge sind, die der Fremde ursprünglich mit sich führte. Außerdem empfiehlt es sich, ein diesmal oder eine ähnliche Formulierung in den Satz einzuflechten: Dieses Mal wollte er mit leichtem Gepäck über die Berge, denn zumindest einmal hat er die ganzen Dinge ja schon über die Berge getragen, nämlich als er in das Königreich hinein kam. zurück
Flimmerkasten klingt zu sehr nach Flimmerkiste. Dieser Ausdruck hat abwertenden Charakter und tut dem ansonsten wirklich sehr hübschen Text des Märchens an dieser Stelle keinen Gefallen. Ich denke, eine kleine, nicht zu umständliche Umschreibung wie ein Kasten mit beweglichen Bildern wäre hier angebrachter. Die von mir vorgeschlagene Formulierung ist zwar immer noch nicht das Wahre, deutet jedoch hoffentlich an, worauf ich eigentlich hinaus wollte. zurück
Durch diese konkrete Größenangabe holpert der Text ein wenig. Besser wäre kleine, weiße Stäbchen oder eine ähnliche Umschreibung, denn dass es sich um Zigaretten handelt, wird aus dem darauffolgenden gaben blauen Dunst hinreichend ersichtlich. zurück
Aber warum, wenn doch bisher alle auch ohne Zigaretten schon glücklich und zufrieden waren? Vielleicht könnte man dieser Aussage noch einen Satz voranstellen, der das Ganze ein wenig erklärt: Zum ersten Mal erwachte die Neugier des Königs. Damit wäre auch noch einmal die Veränderung deutlich herausgestellt, die dank des Fremden Einzug in das Königreich gehalten hat, denn ursprünglich war den Bewohnern Neugier fremd. Und durch einen solchen Satz erklärt sich dann auch die Notwendigkeit, an dem eigentlich zufriedenstellenden Ausgangszustand Änderungen vornehmen zu wollen. Denn so lange die Neugier nicht gestillt ist, kann für den König und die Königin auch das Glück nicht mehr vollkommen sein. zurück
Besser: und ähnlich nützlichen Dingen. Möge der Leser einfach selbst entscheiden, ob er Segenswünsche für hilfreich oder unnütz hält. zurück
Vielleicht besser: und begann, nachzudenken. Diese Formulierung lenkt ein bisschen besser ab von der sich unvermeidlich aufdrängenden Frage: Worüber denn?, zumindest jedoch eröffnet man sich durch diese veränderte Formulierung die Chance, die Beantwortung dieser Frage noch ein wenig hinauszuschieben. zurück
An dieser Stelle fragt man sich unweigerlich, warum die beiden Brüder nicht jenseits der Berge nachsehen. Denn dass es dort noch weit mehr gibt, als die Einwohner des Königreiches ursprünglich glaubten, müsste ihnen spätestens seit der Ankunft des Fremden eigentlich klar sein. Vielleicht ließe sich das Ganze auflösen, indem man den ersten Satz noch ein wenig ergänzt: Die zwei Prinzen aber wanderten in kleineren und größeren Kreisen im ganzen Land umher, das ihrer Meinung nach alles enthielt, was es in der Welt gab. So wird ein wenig deutlicher, warum sie sich niemals über die Grenzen des Königreiches hinaus begeben. zurück
Einfach hinreißend dieses Bild der Brüder, die aller Misserfolge zum Trotz nicht von altbekannten Bahnen abweichen! Wirklich gut gelungen, dieser Abschnitt! zurück
Spätestens hier jedoch könnte ein dezenter Hinweis darauf erfolgen, worin der Gegenstand der Überlegungen des Jüngsten besteht, und vor allem, welche Früchte sein Nachdenken trägt. Vielleicht hat er ja neue, effizientere Methoden des Ackerbaus ersonnen oder schönere Gebäude, in denen die Menschen komfortabler wohnen können als bisher. Einfach nur Nachdenken, ohne dass etwas Konkretes dabei herauskommt – und sei es einfach nur eine neue philosophische Erkenntnis -, ist beinahe ebenso sinnlos wie das ergebnislose Herumirren der beiden Brüder. Dann könnte man anschließen: Schließlich war sein Geist so erfüllt von neuen Ideen, dass nach langen Jahren blauer Rauch aus seinem Kopf emporstieg und das Schloss in dichte Schwaden hüllte. zurück
Besser: sie tat das nur noch selten. Denn wenn die Königin es sich abgewöhnt hat, aus dem Fenster zu sehen, warum tut sie es dann plötzlich dennoch? zurück
Diesen Zusatz bitte auf jeden Fall streichen! Sicher, er entbehrt nicht eines gewissen Humors, dieser jedoch tritt gegenüber dem erhobenen Zeigefinger zu sehr in den Hintergrund. Der mahnende Zeigefinger schwingt sich auch so schon deutlich genug quer durch den ganzen Text, dass er wirklich nicht noch mehr herausgestellt werden muss. zurück

© 2002 by Nicole Thomas. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.