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Textkritik: Ines – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

Ines

von Ulrich Häusler
Textart: Lyrik
Bewertung: von 5 Brillen

Siehst Du schon von fern den Graben,
der durch unsere Seelen fließt.

Hörst Du schon von fern das Weinen,
welches unser Herz verschließt.

Riechst Du schon die welken Blätter,
die von unserer Liebe fallen.

Schmeckst Du schon das Moos,
welches uns einst hat gebettet
wie nur die Liebe es versteht.

Du tastest Dich wie eine Blinde
Durch ein Labyrinth von Ruinen
Nach einer zerstörten Liebe….
Und fragst Dich… bin ich von Sinnen

© 2002 by Ulrich Häusler. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Sinnenleer zusammengekleisterter Gefühlsmatsch.
Selbst unter der Maßgabe, dass das lyrische Ich von Sinnen war, als es dieses Gedicht geschrieben hat, hätte der Autor den Unsinn deutlicher herausarbeiten können: z.B. Hörst du schon die welken Blätter oder Riechst du schon von fern das Weinen… Es wäre ein Kleines, den Unsinn bewusst zu gestalten! So aber…

Die Kritik im Einzelnen

Ich gestehe: Meiner Lebtag noch nie habe ich einen Graben fließen sehen: alle mir persönlich bekannten Gräben verhalten sich geradezu auffallend still & statisch.
Gehen wir also davon aus, dass dieser Graben nicht fließt, sondern verläuft (was in einem Gedicht ein schreckliches Wort wäre, es sei denn in einem über das Katasteramt): so tut er das nicht zwischen den beiden Seelen (der vom lyrischen Ich und der vom angesprochenen Wesen), sondern durch die beiden Seelen; nehmen wir aus symmetrischen Gründen weiterhin an, dass der Graben mittig durch beider Seelen verläuft – dann wäre zweierlei festzuhalten (was für den weiteren Gedichtfluss wichtig sein könnte): zum Einen bewohnen zwei Seelenteile ach die Brust jeder der beiden Personen, zum Anderen befindet sich auf jeder Seite des Grabens jeweils ein Seelenteil von jeder Person: das lässt hoffen, denn die können ja – im Gegensatz zu den bekannten Königskindern und den höchstpersönlichen Seelenteilen – ungehindert zueinander!
Dann aber potenzieren sich die Verständnisschwierigkeiten: Das angesprochene Wesen (im Folgenden kurz AW genannt) wird befragt, ob es schon von fern den Graben bemerkt, der ja auch durch seine Seele fließt. Frage: wie weit ist AW von seiner Seele entfernt? Befindet sich AWs Seele auf der oft herbeibeschworenen Wanderschaft und ist schon ein ganzes Stück vorangekommen? Was aber – jetzt wird es nachgeradezu fülosofisch – wird denn dann aus dem Ich, wenn die Seele mirnichts dirnichts stiften geht? Scheint ja völlig unbeeindruckt: »Gib mal das Fernglas – danke! Klar, jetzt seh’ ich das auch: da hinten ruhen sich unsere Seelen unter einem Baum vom Wandern aus, ich glaube sogar, die grillen gerade ein Herz, und – Mensch, du hast Recht – da verläuft doch glatt ein Graben durch unsere Seelen!
Warum sind die beiden Zeilen so schrecklich misslungen? Hieße das einfach: Siehst du denn nicht den Graben zwischen uns? wäre es verständlich, da befreit von aufgeblasenem Unsinn. zurück
Das Sehen war angesprochen, jetzt kommt das Hören an die Reihe (zum Glück soll AW nicht das Rauschen des fließenden Grabens vernehmen) – und gehört werden soll von fern das Weinen, das unser Herz verschließt.
Wie das? Ist das Weinen verbunden mit lautstarkem Jammern & Klagen, damit es noch aus der Entfernung vernehmbar ist? Warum dann nicht gleich Klagen respektive Jammern, passt doch auch vom Metrum her! Und warum in aller Welt haben die beiden nur 1 Herz? Hat einer von beiden seins verloren oder ist es gar das, was die vier Seelenteile gerade grillen? Richtig: Herzen passt nicht ins Metrum, dann müsste man den Anschluss dieser Zeile altertümelnd gestalten: Hörst du schon von fern das Jammern? Uns’re Herzen es verschließt! Würde aber nur beider Herzen für das Metrum retten, nichts aber vom Inhalt. Denn:
Wer weint, öffnet sich, wird noch verletzlicher. Was jedoch geschieht hier? Hier werden nicht salzige Tränen geweint, sondern klebrige: die verschließen erfolgreich das Herz – vermutlich war es zerrissen. Hier wird also geweint aus Trotz und zum Abkapseln – oder zur Erholung. Warum auch nicht, ist ja bloß ein Gedicht… zurück
Unser dritter Sinn kommt: das Riechen! Aber dann wird geändert – warum ist das AW jetzt nicht mehr fern? Muss hier mit Pfählen auf den Liebesbaum eingeschlagen werden, weil ein Leser etwa denken könnte, dieser prangte ungeachtet all des zuvor Geschnulzten in saftprallem Frühlingskleid? Wäre hier statt welken das von fern zu lesen, könnte man von fern immerhin für ein – wenn auch untaugliches – Stilmittel halten. So aber fragt man doch: fehlten bei den ersten beiden Abschnitten die passenden Adjektive? Och, das wäre doch so einfach: Siehst Du schon den tiefen Graben und Hörst Du schon das leise Weinen – damit wären die Klischees so plastisch herausgearbeitet wie bei den fallenden welken Blättern: wäre dafür aber gleichfalls ein durchlaufendes und nicht minder untaugliches Stilmittel!
Und Unlust wird spürbar: auch das Metrum wird aufgegeben, denn um seinetwillen müsste es fall’n heißen statt fallen. zurück
Jetzt wird allerlei aufgegeben, nicht nur das Metrum, sondern auch Zeilenzahl; immerhin folgt folgerichtig als nächster Sinn das Schmecken. Schön, das AW nicht aufgefordert wird, das Moos von fern zu schmecken, auch auf das zu Moos passende Adjektiv weich wird verzichtet – aber bedauerlicherweise nicht auf das schon, obwohl hier eine Vergangenheit beschworen wird! Jetzt soll AW das Moos schmecken, obwohl die Liebe gerade dabei ist, ins Gras zu beißen? Da hielte ich noch für durchaus angebrachter: Schmeckst Du noch usw.
Zudem würde ich selbst gerne wissen, welche der vier Geschmacksrichtungen Moos hat: süß, salzig, bitter oder sauer? Leider habe ich gerade kein Moos zur Hand. Und ganz vorsichtig frage ich an, ob AW vom Liebesmoos bäuchlings gebettet wurde oder das lyrische Ich AWs Kopf in selbiges gedrückt hat, denn reingeschmeckt haben muss AW ja… zurück
Der Tastsinn darf endlich auch noch ran, ansonsten ist jetzt alles ganz anders: Zeilenzahl, Metrum, weder Ferne noch Adjektive, keine Fragen mehr, sondern das lyrische Ich weiß allerlei Putziges über AW zu berichten, um am Ende eine tragische Frage zu stellen.
Zunächst sieht das lyrische Ich von oben (denn nur von da kann man diesen grandiosen Überblick haben), dass sich AW wie eine Blinde tastet (jetzt ist es raus: es handelt sich um ein weibliches Wesen!) durch ein Labyrinth von Ruinen: das befremdet einigermaßen: Labyrinthe haben einen Eingang und einen Ausgang, Ruinen haben viele Ein- und Ausgänge, logischerweise auch ein Ruinenfeld – mit anderen Worten: ein ruiniertes Labyrinth ist keines mehr! Warum muss sich AW übrigens da durch tasten? Als Strafe, weil sie den fließenden Graben nicht gesehen hat? Was ist mit ihrem Augenlicht geschehen? Ja ja, sagte der große dicke Waldbär, Liebe macht halt blind, und erst recht, wenn die Liebe vorbei ist!
Wohin will eigentlich unsere Erblindete? Sie tastet sich nach einer zerstörten Liebe! Die schon wieder: warum denn in aller Welt? Was will sie denn da?? Halt: vielleicht ist das keine Zielangabe, sondern eine Zeitangabe: nach einer zerstörten Liebe ist das Labyrinth aus Ruinen entstanden bzw. nur die Ruinen, die dann vergeblich ein Labyrinth bilden wollen – was sie gar nicht müssen, AW ist ja blind! Irgendwie will das so auch nicht gehen: In dem Maße, wie die Liebe zerstört wurde, entstanden die Ruinen, also wäre nach einer zerstörten Liebe als Angabe eines Zeitpunktes blödsinnig – lassen wir es einfach.
Dann fragt sich die Blinde etwas, nachdem die ganzen Abschnitte hindurch nur das lyrische Ich Fragen stellen durfte. Ob das lyrische Ich von Sinnen sei, fragt sie sich – was sehr viel sinnvoller ist, als wenn sie das lyrische Ich gefragt hätte, das diesen Gefühlssalat angerichtet hat. Und die Antwort?
Nur in einer einzigen Hinsicht kann dies verneint werden: Das lyrische Ich hat alle fünf Sinne genannt. zurück

© 2002 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.