Die samischstämmige Journalistin Ann-Helén Laestadius wurde schwedenweit mit ihren Jugendromanen berühmt. Der preisgekrönte Bestseller »Stöld« (»Gestohlen«) ist ihr erster Roman für Erwachsene und erscheint auf Deutsch unter dem irreführenden Titel »Das Leuchten der Rentiere«. Ein Roman, der so gar nicht in die Wohlfühlwelt unserer Schweden-Klischees passt.
Sonne für 36 Minuten
Zum Jahresende gab es in Kiruna bis zu -16 Grad (-22 in der Nacht), in Jukkasjärvi ist das Eishotel eröffnet worden, die deutsche Autoindustrie nutzt wie jeden Winter den Frost in Arvidsjaur und Arjeplog für Testfahrten und am 2. Januar ging auch die Sonne wieder auf. In Kiruna, der Heimatstadt der Autorin Ann-Helén Laestadius, für ganze 36 Minuten.
Mit Outdoor-Angeboten für Touristen halten sich viele samische Familien über Wasser, die nicht mehr von der Rentierzucht leben können oder einfach keinen Nachwuchs finden, der dazu bereit ist, es zu versuchen. Zu den ohnehin harten Bedingungen kommen Wilderei, der alltägliche Rassismus und die Auswirkungen der Klimaerwärmung.
Der Roman »Das Leuchten der Rentiere« spielt in dieser Welt und wird aus der Sicht von Elsa erzählt, die zu Beginn des Romans erst neun Jahre alt ist. Als sie zum ersten Mal mit Skiern alleine durch den Wald zum Rentiergehege fährt, findet sie ihr Renkalb geschlachtet und mit abgeschnittenen Ohren vor dem Gehege liegend. Sie sieht den Täter, einen schwedischen Hobbyjäger aus dem Nachbardorf, er droht ihr und sie schweigt.
Seelenpartner Rentier
Der Schock dieser Begegnung zeigt, wie sehr die Rentiere für die samische Bevölkerung nicht nur Lebensgrundlage, sondern Seelenpartner sind. Die blutüberströmten Kadaver zu finden, oft mit Spuren von Folterung versehen, zermürbt selbst erfahrene Rentierzüchter und macht die Familien hoffnungslos. Alkoholismus, Depression und eine hohe Selbstmordrate in der Bevölkerung scheinen sowohl der Auslöser als auch der Preis der Gewalt zu sein.
Eine besonders unrühmliche Rolle spielt die nordschwedische Polizei mit ihrem Verwaltungsphlegma, juristischen Ausreden und Rassismus in den eigenen Reihen. So wird behauptet, es mangele an »Beweisen«, Rentiere seien ohnehin »Sachen«, der Mord daher lediglich »Diebstahl« und wenn Polizisten gar nicht erst zum Tatort kommen, wird Personalmangel vorgeschoben.
Zermürbungsprogramm ohne Entkommen
Laestadius schreibt in lakonischer Sprache ohne viele literarische Stilmittel, die von der Story ablenken könnten. Sie entwirft ein Zermürbungsprogramm, dem niemand entkommt, auch die Kinder nicht. Der Alltagsrassismus, dem sie in der Grundschule ausgesetzt sind, hat eine Art Apartheidssystem unter Schülern zur Folge und lässt sie in die gesellschaftliche Defensive hineinwachsen.
Als erfahrene Jugendbuchautorin sieht Laestadius in die Seele ihrer jungen Figuren, von denen schwedische Leser einige aus früheren Erfolgsromanen wiedererkennen. Es ist mir völlig unverständlich, warum sich noch kein deutscher Kinderbuchverlag aufgerafft hat, Laestadius’ Jugendromane übersetzen zu lassen.
Gemeinsam mit »Stöld« ergeben diese nämlich eine werkübergreifende Sami-Welt. Typische Teenager-Probleme werden mit denen der nordschwedischen Gesellschaft verwoben und die ohnehin gebeutelten Pubertierenden sind eingeklemmt zwischen den Standards der schwedischen »Leitkultur« und ihrer samischen Familientradition, die durch die Elterngeneration verkörpert wird.
Altertümliches Frauenbild im Musterland Schweden
Für deutsche Leserinnen und Leser wird das altertümliche Frauenbild in »Das Leuchten der Rentiere« eine Überraschung sein, wo doch Schweden immer als Musterbeispiel weiblicher Emanzipation gilt. Aber bis vor Kurzem konnten nur männliche Nachkommen eine Rentierzucht übernehmen, und die erwachsenen Frauenfiguren findet man fast nur in der Küche und beim Nähen der Trachten. In dieser Umgebung halten sich hartnäckig Alltagsmythen wie »Motorschlittenfahren macht unfruchtbar« – nur die Mädchen natürlich.
Als Elsa Lehrerin wird und beginnt, sich für samische Belange zu engagieren, wird sie von allen Seiten gewarnt, sich als junge Frau nicht zu sehr aus dem Fenster zu lehnen. Nur bei der gleichaltrigen Minna, die ihr Dorf verlassen hat, um in Umeå Jura zu studieren, findet sie Unterstützung in ihrem Kampf gegen die Wilderer und die Gleichgültigkeit der Polizei.
Hasskriminalität gegen die samische Bevölkerung
Außerhalb Norrlands haben viele Schweden keinen Bezug zu samischen Themen und Nöten und die Geschichte von Elsa und ihrem getöteten Renkalb war im Januar 2021 ein überfälliger Schrei. Es hat Zeit und viele tapfere Vorkämpfer wie Laestadius gebraucht, bis das illegale Abschlachten der Rentiere als das eingeordnet wurde, was es ist: Hasskriminalität gegen die samische Bevölkerung.
Doch auch subtileren Rassismus arbeitet Laestadius sorgfältig heraus. Selbstmordgefährdete Jugendliche werden vorsichtshalber gleich nach Norwegen in Behandlungszentren gefahren, die besser auf samische Gegebenheiten reagieren. Vor allem sprachlich.
Als Elsas Großmutter wegen Demenz ins Pflegeheim gegeben wird, sagt man der Familie, dass dort eine Mitarbeiterin Samisch spreche. Bei der Ankunft stellt sich raus, dass besagte Mitarbeiterin Meänkieli spricht, eine der fünf Minderheitensprachen Schwedens, die im Tornetal an der Grenze zu Finnland gesprochen wird und die Elsas Großmutter nicht verstehen kann. Die Leiterin der Einrichtung dachte wohl: »Hauptsache Dialekt« und Laestadius lässt diesen gedankenlosen Rassismus unkommentiert wirken.
Sensibilisierung für die Belange der Urbevölkerung
Während man in ihren frühen Jugendbüchern noch lernt, dass sogar die Verständigung zwischen Sprechern von nord-und süd-samischen Varianten schwierig, bzw. von gegenseitiger Stigmatisierung geprägt ist, hat Laestadius bei »Stöld« die Dinge vereinfacht. Die schwedische Mehrheit überhaupt für die Belange ihrer Urbevölkerung zu sensibilisieren, war Anspruch genug und ist ihr gelungen.
Seit das erste Eishotel vor 33 Jahren gebaut wurde und die erste Mercedes A-Klasse beim Elchtest umkippte, hat sich die nordschwedische Gesellschaft verändert. Eine Speerspitze mutiger Whistleblower, besonders samisch-stämmige Journalist:innen, Jurist:innen und Lehrer:innen, haben dafür gesorgt, dass ein neues Selbstbewusstsein entstanden ist und samische Interessen öffentlich wahrgenommen werden.
»Das Leuchten der Rentiere«, das demnächst auch verfilmt wird, ist aber nicht nur eine aufwühlende Geschichte von Ungerechtigkeit und staatlichen Versäumnissen, sondern vor allem ein hoffnungsvoller Entwicklungsroman über eine junge Frau, die letzten Endes durchsetzt, was sie für richtig und notwendig hält.
Isa Tschierschke
Ann-Helén Laestadius; Maike Barth (Übersetzung); Dagmar Mißfeldt (Übersetzung): Das Leuchten der Rentiere: Roman. Gebundene Ausgabe. 2022. HOFFMANN UND CAMPE VERLAG GmbH. ISBN/EAN: 9783455012941. 25,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Ann-Helén Laestadius; Maike Barth (Übersetzung); Dagmar Mißfeldt (Übersetzung): Das Leuchten der Rentiere: Roman. Taschenbuch. 2023. HOFFMANN UND CAMPE VERLAG GmbH. ISBN/EAN: 9783455012965. 14,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Ann-Helén Laestadius; Maike Barth (Übersetzung); Dagmar Mißfeldt (Übersetzung): Das Leuchten der Rentiere: Roman. Kindle Ausgabe. 2022. HOFFMANN UND CAMPE VERLAG GmbH. 10,99 € » Herunterladen bei amazon.de Anzeige