Von Barbara Fellgiebel – Morgen werde ich Linda Boström Knausgård interviewen. Ich weiß, dass sie aufgeregt ist und Interviews nicht mag. Ich bin wahrscheinlich mindestens genauso aufgeregt, denn ein Redakteur meinte, es wäre blöd, wenn um die delikaten Fragen metaphorisch herumgeeiert würde. Ich weiß nicht, wie man metaphorisch herumeiert, will es auch nicht wissen. Ich will Linda Vertrauen eingeben. Ob es mir gelingt?
Wir treffen uns vor der Bibliothek in Ystad, wo sie wohnt und ich arbeite. Es ist der bisher kälteste Tag des Jahres, und sie freut sich, in mein warmes Auto zu steigen. Wir fahren zu meinem Arbeitsplatz, wo wir ungestört reden können. Ich habe den großen Vorteil, dass ich ihre Sprache beherrsche, unser Gespräch also auf Schwedisch verläuft. Ich versichere ihr, dass ich über sie sprechen will, nicht über ihren Mann, Karl-Ove Knausgård. Geschiedener Mann, verbessert sie.
Bei meiner Vorbereitung auf unser Gespräch habe ich gelesen, dass Linda nicht über ihr Privatleben spricht und nicht über ihre Krankheit. Ihre Bücher klingen jedoch so autobiografisch, sind so entblößend, dass man sich fragt, ob auch nur irgendetwas nicht selbst erlebt ist. Und unter dem Titel »Ich könnte eigentlich auch Amerikas Präsident sein« hat sie ein Radiofeature produziert, das ihre Bipolarität minutiös beschreibt.
»Ja, da habe ich die Kontrolle, da bestimme ich jedes Wort«, erklärt sie den Unterschied. »Bei einem Interview bin ich ausgeliefert. Besonders wenn es in einer Sprache veröffentlicht wird, die ich nicht beherrsche.«
Wir sprechen über die erfolgsbestimmende Rolle der Übersetzerin.
»Die dänische und die norwegische Übersetzung kann ich gut beurteilen, Deutsch kann ich leider nicht.«
Bei der deutschen Übersetzung hatte Linda Glück: Verena Reichel, eine der besten Übersetzerinnen aus dem Schwedischen, hat ihre so besondere Sprache genau getroffen und hervorragend ins Deutsche übertragen.
Wollte Sie schon immer Schriftstellerin werden?
»Nein, eigentlich wollte ich Schauspielerin werden, so wie meine Mutter. Ich bewarb mich an der Schauspielschule in Malmö, die ich für Schwedens beste halte – und wurde abgelehnt. Am selben Tag kam die Zusage von der Literaturakademie auf Biskops Arnö. Da habe ich Karl-Ove getroffen.«
Wie lebensentscheidend dieser Tag für sie war. Wie komplett anders ihr Leben verlaufen wäre, wenn die Aufnahmeentscheidungen umgekehrt ausgefallen wären.
Sie wird für alles, was sie veröffentlicht, mit positiven Kritiken und Preisen überschüttet. Egal, ob es sich um ihr Erstlingswerk von 1998, den Gedichtband Gör mig behaglig för såret handelt, ihre Kurzgeschichtensammlung Grand Mal oder ihren 2013 veröffentlichten ersten Roman Helioskatastrophen. Und nun also der zweite Roman Välkommen till Amerika. Ihr internationaler Durchbruch. Und hoffentlich der Auftakt zu (nicht nur) Übersetzungen ihrer anderen Werke, die atemberaubend sind.
Willkommen in Amerika ist auf Deutsch im Schöffling Verlag erschienen, in allen skandinavischen Sprachen, auf Englisch und wird gerade ins Französische und Italienische und noch ein paar Sprachen übersetzt. Im schwedischen Original ein dünnes Bändchen von 92 Seiten, das Schnellleser in ein paar Stunden aufsaugen. Lesen Sie diesen Monolog aus einer Kinderseele sorgfältig, rät eine Kritikerin. In Schweden wurde der Roman mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und sogar für den Augustpreis nominiert (die Entsprechung zum deutschen Georg-Büchner-Preis).
Ihr neuer Roman Willkommen in Amerika ist Ihr internationaler Durchbruch geworden. Hatten Sie das erwartet?
Willkommen in Amerika ist gut angekommen, wird in viele Sprachen übersetzt. Aber eigentlich war mein erster Roman Helioskatastrofen mein internationaler Durchbruch. Willkommen in Amerika ist mein erstes Buch, das auf Deutsch erschienen ist, und dafür bin ich sehr dankbar. Ich liebe die deutsche Sprache, auch wenn ich sie nicht gerade beherrsche. Welcher Autor möchte nicht im Literaturland Deutschland erscheinen?
Sie waren vor kurzem auf Lesereise durch Deutschland. Was fiel Ihnen auf? Wie unterschied sich das deutsche vom schwedischen Publikum?
Es war bemerkenswert, wie aufmerksam und geduldig das Publikum den Lesungen aus meinem Buch lauschte. Sie waren viel länger, als was ich zuvor erlebt hatte. Das war ein starkes Erlebnis. Auch die Fragen aus dem Publikum waren mutig, erfrischend, witzig.
Warum hat Willkommen in Amerika so viel Aufmerksamkeit erregt?
Es ist schwer, das selbst zu beurteilen.
Das Buch handelt von einem Mädchen, das aufgehört hat zu sprechen, von ihrem Leben in der ausgelieferten Familie, in der die Mutter, die Schauspielerin ist, versucht, den Anschein der heilen, hellen Familie zu wahren, während der lebensgefährliche Vater, der zu Lebzeiten die Familie terrorisierte, tot ist, weil Ellen gebetet hat, Gott möge ihn töten. Ein Kammerspiel, mit der verstummten Ellen, der sprudelnden, lebenshungrigen Mutter und dem Bruder, der sich mit seiner Musik einschließt und die Familie ausschließt. Ich glaube, wir lesen gern über eine Familie, weil wir alle in einer Familie aufgewachsen sind. Davon erzählen wir immer wieder. Und dass Ellen sich weigert zu sprechen, löst, glaube ich, starke Gefühle aus.
Ist Ihr Buch autobiografisch? Sind Sie Ellen?
Ich bin in einer Familie aufgewachsen mit einer Mutter, die Schauspielerin war, einem Bruder und einem manisch-depressiven Vater. Im gleichen Spannungsfeld also, ich kenne die Situation nur zu gut. Aber auch wenn vieles im Buch selbst erlebt ist, ist es kein autobiografischer Roman. Ich habe verdichtet und Fäden gezogen, mit meinen Erinnerungen gespielt und bin mit der Freiheit des Schriftstellers in meine Kindheit zurückgekehrt. Ich denke, ich habe ein Negativ geschrieben, in dem die Familie schwarz und weiß ist. Auch wenn ich bisweilen ein stilles Kind war, habe ich nie wie Ellen aufgehört zu sprechen. Als Kind verbrachte ich fast meine gesamte Zeit mit meiner Mutter im Theater. Ich habe es geliebt, ihre Verwandlungen zu erleben, bei den Repetitionen dabei zu sein und zu sehen, wie sich ein Theaterstück entwickelt. Ich habe nie gedacht: Das ist nichts für Kinder. Ich fand, alle Vorstellungen waren für mich. Ich konnte sie auswendig. Meine Mutter spielte Elektra in Lars Noréns Orestes. Die schlief mit ihrem Bruder und zwang ihn, ihre Mutter zu töten. Ich saß neben der Souffleuse und hoffte, dass jemand auf der Bühne seinen Text vergessen und ich ihn dann sagen würde.
Ich liebe die Theateratmosphäre. In Mamas Loge zu sitzen und ihr beim Abschminken zuzusehen. Wenn das Große, das ich auf der Bühne gesehen hatte, klein und alltäglich wurde: Perückennadeln in einem Marmeladenglas, Zigaretten, die Gespräche mit der Kollegin in der nächsten Loge.
Wie kamen Sie auf den Titel Willkommen in Amerika?
Das stammt aus einem Theaterstück, in dem meine Mutter eine gefallene Freiheitsgöttin spielte, die die Einwanderer in Amerika willkommen hieß.
Das Theater war ein Freiraum, in dem ich ungestört phantasieren konnte. Ich glaube, mein Schreiben begann in all dieser Zeit insgeheim in der einsamen Stille meiner Phantasien. Das Theater war auch ein sicherer Platz, denn da konnte mein Vater nicht eindringen. Er würde nie auf die große Bühne kommen und meine Mutter schlecht behandeln können. Das würde jemand verhindern, da waren wir ganz sicher, Mama und ich. Mein Vater war eigentlich ein ganz lieber, fürsorglicher Mann, der sich in einer Krankheit verlor, mit der er nicht umgehen konnte. Da konnte er gefährlich und unberechenbar werden. Unter dieser Bedrohung aufzuwachsen, hat mich natürlich geprägt.
Inwiefern?
Mir fällt es schwer, mich geborgen zu fühlen. Egal wo. Nur wenn ich schreibe, fühle ich mich frei. Nur dann.
Glauben Sie an Gott?
Das werde ich oft gefragt, weil Gott und die Gebete in meinen Büchern so präsent sind. Ich kann nicht sagen, dass ich an einen Gott glaube. Beten hat mir hingegen geholfen. Das Gebet gibt mir Kraft und eine Richtung, und das kann mir helfen, mich dem Wichtigen in meinem Leben zu nähern.
Ich interessiere mich auch sehr für die Geschichten in der Bibel, aber wer tut das nicht?
Wie ist Ihr Verhältnis zu Ihrer Mutter? So wie Ellens?
Das Mädchen in Willkommen in Amerika hat ein sehr kompliziertes Verhältnis zu seiner Mutter. Einerseits will sie ihr nah sein, ihren Duft spüren, sich um sie kümmern, andererseits will sie sich von ihr befreien, schafft durch ihr Schweigen einen Abstand. Ich habe mich für Ellens Mama sehr von meiner eigenen inspirieren lassen. Das Kräfteverhältnis ist gleich. Sie war immer die Starke, auf die ich all meine Hoffnung setzte. Sie war die Voraussetzung dafür, dass ich leben konnte, und als mein Vater im wirklichen Leben meine Mutter bedrohte, phantasierte ich, dass ich ihn töten würde. Ja, meine Mutter konnte viel in diesem Buch wiedererkennen.
Wie hat Ihre Mutter Ihr Buch aufgenommen?
Meine Mutter war schwer krank, ehe das Buch gedruckt wurde. Da habe ich ihr das Manuskript vorgelesen. Das war, als ob sie zu neuem Leben erwachte. Sie mochte es sehr und wurde gar zu gern an die Zeit erinnert, in der das Buch spielt. Meine Mutter ist sehr stark. Und sie ist Künstlerin. Sie würde mich nie am Schreiben hindern, egal was es ist.
Welche Bedeutung hat Musik für Sie? Hören Sie Musik beim Schreiben?
Ich finde, Schreiben ist wie ein Instrument spielen. Der Text muss eine Musikalität haben. Musik ist sehr wichtig in meinem Leben. Manchmal schreibe ich zu Musik. Musik hat einen direkten Kanal zu meinen Gefühlen. Ich kann auch Angst vor Musik haben. Manchmal ist die Wirkung von Musik so stark, und dann glaube ich, die erweckten Gefühle nicht bemeistern zu können. Unter den richtigen Voraussetzungen liebe ich Musik. Allein zu Hause fällt es mir eher schwer, die Stille zu brechen.
Schreiben Sie regelmäßig?
Nein, nicht jeden Tag. Wenn ich im Schreibprozess bin, das heißt wenn ich »scharf« schreibe, dann schreibe ich täglich, und die Sprache fließt aus mir raus. Ich verändere nicht viel in meinem Schreibfluss, hier und da einen Satz, der den Rhythmus stört. Ich folge mit der Sprache und verlasse mich darauf, dass das, was kommt, richtig ist. Die Sprache kann mit kolossaler Kraft kommen, und manchmal ist es unmöglich, mit dem Schreiben aufzuhören. Den zweiten Teil in meinem ersten Roman Helioskatastrofen habe ich in fünf Tagen geschrieben. Meine Mutter war bei mir und versorgte die Kinder. Sie kam zu mir rein und brachte mir Essen, wenn sie meinte, jetzt müsse ich was essen. Ich habe auch geschlafen in dieser Zeit. Aber ich hatte das Gefühl, nicht aufhören zu können. Ich musste schreiben, bis es fertig war.
Sie haben sich kürzlich scheiden lassen. Wie schafft man es, vier Kinder im Alter von 3 bis 13 Jahren aufzuziehen, die Familiensituation drastisch zu verändern und ein erfolgreiches Buch zu lancieren?
Das lässt sich machen. Mein früherer Mann und ich versuchen einander zu helfen. Wir planen so, dass beide reisen können. Ein Buch in einem neuen Land vorzustellen, ist immer aufregend. Man trifft ein neues Publikum, wird vor Publikum befragt. Ich werde sehr nervös, wenn ich auf die Bühne gehe, aber es ist so spannend. Was passiert jetzt? Ich mag dieses Gefühl.
Welche Bücher haben Sie beeinflusst?
Vor allem die griechische Mythologie. Als ich neun Jahre alt war hatte ich das Glück, den Adventskalender im schwedischen Fernsehen zu sehen. Der handelte von der griechischen Mythologie. Jeden Abend wurde eine neue Sage erzählt, das war phantastisch. Danach kaufte mir meine Mutter ein Buch über die griechische Mythologie. Das hat mein Schreiben geprägt. Besonders meinen ersten Roman Helioskatastrofen, der erzählt gewissermaßen Athenas Sage.
August Strindbergs Ein Traumspiel ist ein Drama das ich liebe. Indras Tochter will auf die Erde kommen, um zu verstehen, warum die Menschen klagen. Besser wird es nicht.
Eric Linklaters Wind im Mond. Ein Kinderbuch über die Schwestern Dina und Dorinda. Seit diesem Buch beneide ich alle, die eine Schwester haben. Ich habe es unzählige Male gelesen und versucht, meine Kinder dafür zu begeistern. Leider vergeblich. Aber wir haben es alle zusammen als Theaterstück gesehen, in Stockholm am dramatischen Theater, wo meine Mutter gearbeitet hat. Das gefiel ihnen sehr, und es war phantastisch, dass wir alle zusammen ein solches Erlebnis hatten.
Zwischen Ihrem ersten und zweiten Buch liegen 13 Jahre. Erst Gedichte, dann Kurzgeschichten. Hatten Sie je die Befürchtung, nicht mehr schreiben zu können?
Nein, nie, das hatte andere Gründe. Ich fühle mich wie ein Poet, der Prosa schreibt. Für mich ist Sprache wie Musik. Ich habe eine Sprache, die kommt und geht.
Sie werden immer wieder gefragt, warum Sie aus der Sicht eines 11- bis 12-jährigen Mädchens schreiben.
Ich fühle mich so frei als Kind. Aber ich schreibe auch aus erwachsener Sicht. In meinen Kurzgeschichten zum Beispiel.
Wie war es für Sie, Ihr Privatleben in den Büchern Ihres früheren Mannes zu lesen?
Ich dachte, wir wollten nicht über ihn reden.
Nein, das will ich auch nicht, ich will wissen, wie Sie das empfunden haben.
Manchmal hat es schrecklich weh getan, aber so lange der Text aus seiner Perspektive wahr ist – und selbst wenn er über andere schreibt handelt es ja von ihm –, so lange ist es okay, und hat eine gewisse Allgemeingültigkeit. Es ist ja so wahnsinnig gut geschrieben und eine so fantastische Literatur.
Ist es legitim Menschen und ihr Tun öffentlich zu machen?
Ja, wenn daraus große Literatur entsteht ist es völlig nebensächlich, was Wirklichkeit und was Fiktion ist. Aber es muss gut geschrieben sein, das ist die Grundvoraussetzung.
Wenn Sie drei Wünsche hätten, was würden Sie sich wünschen?
Wieder in die Reitschule zu gehen. Ein größeres Haus, in dem jeder sein eigenes Zimmer hat. Dass es den Kindern in der Zukunft gut geht.
Bitte beschreiben Sie sich mit fünf Wörtern.
Klug, unruhig, lieb, stark, fürsorglich.
Linda Boström Knausgård, vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Barbara Fellgiebel, die dieses auch ins Deutsche übersetzt hat.
Linda Boström Knausgård, geboren 1972 als Tochter einer Schauspielerin, ist Autorin von Gedichten, Erzählungen und Romanen und lebt in Schweden. Mit dem norwegischen Autor Karl Ove Knausgård hat sie vier Kinder. Für ihr Werk, das in mehrere Sprachen übersetzt ist, erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. »Willkommen in Amerika« wurde von der schwedischen Kritik begeistert aufgenommen. Verena Reichel hat das im Schöffling Verlag erschienene Buch ins Deutsche übersetzt.
Derzeit keine Titelinformationen vorhanden.