Hat man diesen Roman von Peter Stamm nicht schon einmal gelesen? Ein älterer Mann trifft eine jüngere Frau, irgendwo im Ausland? Eine Szene in einer Bibliothek. Er ist Schweizer und schreibt gerade an einem Buch.
Sprachlich ist »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« in seiner Lakonie ebenfalls ein echter Stamm-Roman, und im ersten Augenblick wirkt der Text fast uninspiriert absehbar, ein Stamm-Text wie aus Stamm-Texten gebaut.
Doch irgendwann hat man sich in diesem gekonnt konstruierten Geschichtenlabyrinth verlaufen und freut sich daran.
»Würde Albert Camus heute leben, würde er vielleicht Bücher schreiben wie Peter Stamm«. Dieses nicht ganz korrekt wiedergegebene Zitat aus dem New Yorker steht auf der Rückseite des Schutzumschlages. Der vollständige Satz steht gleich am Beginn einer Rezension der englischen Ausgabe von »Ungefähre Landschaft« aus dem Jahre 2005 und kann hier nachgelesen werden.
Für seinen aktuellen Roman hat sich Peter Stamm zumindest den Titel bei Camus geholt. »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« stammt aus dem Epilog von »Der Fremde«: »La tendre indifférence du monde«.
Das Motto des Romans nach dem Aufschlagen des Buches stammt von Samuel Beckett und beschreibt die Situation, wie zwei Liebende mit ihrem Ruderboot ins Schilf getrieben werden. Reglos liegen sie im Boot, doch Boot und Wasser bewegen sie »sanft auf und nieder und von einer Seite zur anderen.« In Samuel Becketts Theaterstück »Das letzte Band« hört die Hauptperson Krapp diesen Satz von seinem jüngeren Ich gesprochen. Krapp hat sein Leben in Tonband-Tagebüchern festgehalten, doch der ältere Krapp kann den jüngeren Krapp und seine damaligen Aufzeichnungen und Gefühle nicht mehr nachvollziehen.
Wer sind wir? Wer waren wir? Wer werden wird sein?
Bei Peter Stamm begegnet ein älterer Mann ebenfalls seinem rund 20 Jahre jüngeren Alter Ego. Zudem sucht er dessen Freundin Lena auf, die als Schauspielerin in Stockholm arbeitet. Die Hauptperson Christoph und gleichzeitig Ich-Erzähler des Romans hat nicht nur seinen jüngeren Doppelgänger, sondern auch Parallelen zu seinem früheren Leben und vor allen Dingen zu einer früheren Liebesbeziehung entdeckt. Jene Lena gleicht seiner Freundin Magdalena, die er vor fast 20 Jahr gekannt hatte.
Vermuten wir also beim Lesen zunächst eine Parallele zu Stamms erstem Roman »Agnes«, der interessanterweise auch vor 20 Jahren erschienen ist, so läuft die Geschichte in »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« in eine andere Richtung, wobei der Singular hier falsch am Platze ist. Peter Stamm verwebt diesmal gleich mehrere Geschichten zu einem faszinierend dichten Werk. Wie bei Stamm üblich, ist auch dieses Buch nur knapp über 150 Seiten dünn. Darin gibt es nicht nur die Geschichten von damals und heute, da gibt es auch die erdachten Wirklichkeiten von Romanen, an denen der ältere Christoph und der jüngere Chris schreiben, schreiben wollen oder geschrieben haben. Das Ich des Erzählers wird bisweilen von den Ichs der Erzählten unterbrochen und verlangt eine genaue Lektüre. Wo und in welcher Geschichte ist man gerade? Gelegentlich muss man sich dies bei der Lektüre bewusst machen, denn raffiniert choreografiert springt Stamm in den Geschichten und Wirklichkeiten hin und her.
Das führt schließlich zu übergreifenden Fragen: Wiederholen sich Lebenswege? Ist alles gar vorherbestimmt? Welche Möglichkeiten haben wir, den eigenen Lebenswegen zu entkommen?
Und wäre das nicht schon genug, legt Peter Stamm um all das nochmals eine erzählerische Klammer, die zudem das Ende des Buches mit dem Anfang verbindet. Alles scheint sich irgendwie zu wiederholen.
»Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« ist ein im höchsten Maße kunstvoller, aber auch künstlicher Roman mit einer präzisen und fein abgestimmten Handlungsarchitektur, ein poetisch-philosophisches Sinnbild, das sich als längere Erzählung tarnt, ein komplexes Gebilde, das keine Hauptansicht bietet. Eine sanfte Gleichgültigkeit benötigt man daher auch beim Lesen des Romans, denn wir werden ihn schließlich genauso wenig durchdringen und verstehen können wie das Leben selbst.
Wolfgang Tischer
Peter Stamm: Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt: Roman. Gebundene Ausgabe. 2018. S. FISCHER. ISBN/EAN: 9783103972597. 20,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
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Vielen Dank für diesen interessanten Buchtipp und schöne Grüsse aus Osnabrück.
Warum machen Sie Reklame für Amazon, die nur geringe Steuern zahlen, während die Buchhöändler in Deutschland für volle Steuern zahlen. Auch das Literaturcafe und die Buchmesse muss bezahlt werden.
Liebe Frau Knirck,
ich nehme an, sie bezeichnen fälschlicherweise die Produktlinks zu Amazon als »Reklame«. Sehr gerne würden wir hier auch Buchhandlungen und andere Online-Shops verlinken. Gerade weil aber das literaturcafe.de bezahlt werden muss, stellt derzeit nur Amazon die notwendigen Programme und Infrastrukturen zur Verfügung. Regelmäßig sind wir mit Buchhandlungen im Gespräch, doch bislang kann keine einen mit Amazon vergleichbaren Service bieten. Das finden wir sehr bedauerlich. Daher kann ich an dieser Stelle den Aufruf an Buchhandlungen und Online-Shops nur wiederholen: Wenn Sie ein vergleichbares Affiliate-Programm wie Amazon anbieten und – ebenfalls elementar wichtig – die notwendigen technischen Schnittstellen, bauen wir gerne Links zu Ihrem Angebot ein. Welche Voraussetzungen dabei erfüllt sein müssen, das ist in diesem Beitrag sehr ausführlich beschrieben.
Herzliche Grüße
Wolfgang Tischer, literaturcafe.de