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Sisi und ich – Nach drei Tagen Buchmesse geht’s zu Thea Dorn ins Literarische Quartett

Isa Tschiersche (links) und Thea Dorn im Literarischen Quartett (Zuschauer-Edition) auf der Leipziger Buchmesse 2023 (Foto: Screenshot/ZDF)
Isa Tschierschke (links) und Thea Dorn im Literarischen Quartett (Zuschauer-Edition) auf der Leipziger Buchmesse 2023 (Foto: Screenshot/ZDF)

Isa Tschierschke war als Mitdiskutierende zur Sonderausgabe des Literarischen Quartetts auf der Leipziger Buchmesse eingeladen. Grund genug, sich nochmals mit Sisi zu beschäftigen und mit den Gemeinsamkeiten zu Virginie Despentes’ »Liebes Arschloch«.

In Anlehnung an die Slogans der Gastländer suche ich mir bei jeder Buchmesse mein eigenes Motto. Für Leipzig 2023 stelle ich mit Österreich fest: »Mea ois wia i«. Es gibt Horizonterweiterung im Halbstundentakt, aber körperlich wird es eher wieder eng. Anders als bei der übersichtlichen Popup-Messe 2022 mit Mindestabstand, gab’s dieses Jahr wieder volle Hallen und volles Programm.

Für jemanden, die recht zurückgezogen lebt und arbeitet, führt das bei mir ziemlich schnell zu einem ziemlich vollen Kopf. Deshalb höre ich für gewöhnlich an einem Messesonntag gegen 11 Uhr auf zu sprechen. Die vielen Worte der vorangegangenen Tage haben so ein Chaos in meinem Hirn angerichtet, dass ich mich schon beim Frühstück nicht mehr verständlich ausdrücken kann. Ich setze mich entweder in ein stilles Eckchen und tippe die lebhaften Messeeindrücken in meinen Laptop oder fahre gleich nach Hause.

Mea ois wia i

Diesmal geht das nicht, denn ich bin ins Literarische Quartett eingeladen und soll am Messesonntag um die Mittagszeit mit Thea Dorn und anderen geladenen Zuschauer:innen über Karen Duves »Sisi« reden. Neben einer zweiten U21-Sonderausgabe, die im ZDF ausgestrahlt wird, testete das ZDF in Leipzig zwei weitere Runden mit Buchhändler:innen und mit »normalen« Menschen. Für letzte hatte ich mich beworben und wurde ausgewählt. Die Testausgabe wurde lediglich live via Mediathek ausgestrahlt und ist dort leider nicht mehr abrufbar.

Bühne von ZDF und 3sat auf der Leipziger Buchmesse 2023 (Foto: Screenshot/ZDF)
Bühne von ZDF und 3sat auf der Leipziger Buchmesse 2023 (Foto: Screenshot/ZDF)

Es ist nicht so, dass ich mich vor Kameras und Publikum unwohl fühle. Eher irgendwie »abwesend«, so als ob ich schon wieder über alle Berge wäre. Wir Zuschauergäste werden liebevoll in Empfang genommen, geschminkt und verkabelt und es tut gut, sich in die Hände von Menschen zu begeben, die wissen, was sie tun. Neben Thea Dorn auf der Bühne erscheint mir jedoch schon die erste Aufgabe unlösbar, nämlich kurz darzustellen, warum ich das Buch für bemerkenswert halte.

»Sisi klebt«

Ich habe mehr Zeit mit diesem Roman verbracht, als ich gedacht hätte und sehr viel mehr als mit den anderen Büchern der vergangenen Monate. Wer einmal angefangen habe, sich mit Elisabeth von Österreich zu beschäftigen, sagte Karen Duve in einem Interview, käme kaum mehr von ihr los: »Die Sisi klebt«. An mir seit über einem halben Jahr.

Obwohl ich mich bei Erscheinen des Romans letzten Herbst schwer tat mit den detaillierten Hetzjagdszenen zu Beginn des Buchs, schien »Sisi« im Laufe der Monate an Komplexität zuzunehmen. Vor einigen Tagen habe ich Frauke Finsterwalders Kino-Interpretation »Sisi und ich« mit Sandra Hüller und Susanne Wolff gesehen und fühle mich bestätigt in meinen Thesen.

Ich weiß, dass ich beim ZDF versuchen muss, nur einen Aspekt herauszugreifen, auch auf die Gefahr hin, dass den vielleicht nicht jeder hören will. Sisi war wütend, behaupte ich. Ich komme darauf, weil ich – als Hausaufgabe fürs Quartett – auch »Liebes Arschloch« von Virginie Despentes gelesen habe und die Parallelen (für mich jedenfalls) unübersehbar sind.

In »Liebes Arschloch« sieht sich eine Ü50 Schauspielerin, Rebecca, aufgrund ihres Alters und ihrer schwindenden Attraktivität den diskriminierenden Social-Media-Attacken eines durchschnittlich erfolgreichen Schriftstellers, Oscar, ausgesetzt. Wütend setzt sie sich zur Wehr und prangert die allgegenwärtige Fixierung von Publikum und Produzenten auf die weibliche Physis an.

»Ich wäre gerne ein richtiges Arschloch«

Das Schönheitsideal, das Elisabeth von Österreich selbst fütterte, tyrannisierte sie in höherem Alter. Ihre Versuche, sich mit Sport, Diäten und Drogen »die Entstellungen des Alters vom Leibe zu halten«, sind Legende. Ebenso die Weigerung, sich jenseits der 30 fotografieren zu lassen, um auf der eigenen Poster-Girl-Welle möglichst lange obenzuschwimmen.

Rebecca hat in »Liebes Arschloch« eine andere Strategie. »Die Scham muss die Seite wechseln«, erkennt sie und geht zum Gegenangriff über, was Oscar sofort einknicken lässt. Er gibt zu: »Ich wäre gerne ein richtiges Arschloch«. Seine Erbärmlichkeit und die vieler Männer, die Frauen im Netz dissen, um sich weniger klein zu fühlen, erinnert an die Blässe einiger Männergestalten in »Sisi«, inklusive Kaiser Franz-Josef und Thronfolger Rudolf.

Elisabeth ist in Duves Roman keine fünfzehn mehr, sondern kurz vor ihrem 40. Geburtstag. Als jemand, die nicht nur als die schönste Frau, sondern auch noch als beste Reiterin ihrer Zeit gilt, muss sie über große natürliche Autorität verfügt haben. Das weiß jede, die sich mit Pferden auskennt. So auch die Reiterin Karen Duve. Kein überzeugender Reiter zu sein, ist in »Sisi« die Chiffre für mangelnde Führungsqualitäten. »Die Kaiserin selber will ihren Sohn nicht an dem exklusiven Kreis teilnehmen lassen« schreibt sie, »In Gödöllő ist das Pferd ein mächtiges Tier. Einen guten Reiter hebt es über alle Standesunterschiede hinweg in den Olymp, einen schlechten wirft es auch dann in den Dreck, wenn es der Thronfolger selber ist.«

»Anziehpuppe im Geschirr«

Umso schlimmer, wenn die eigene Durchsetzungsfähigkeit dann nicht gelebt werden kann und Elisabeth sich als »Anziehpuppe im Geschirr« mittelmäßigen Männern unterordnen muss. Karen Duve berichtet, sie habe nur einen Beleg dafür gefunden, dass Sisi je versuchte, politisch Einfluss auf Kaiser Franz-Josef zu nehmen, und zwar nach der verheerenden Schlacht von Solferino, die für Österreich verloren ging.

»Sisi hatte das provisorisch eingerichtete Spital in Schloss Laxenburg besucht und die Amputierten, die Entstellten und die qualvoll Stöhnenden gesehen – und wenn sie mit ihm reden wollte, behandelte er sie wie ein Kind.«

In Finsterwalders Film wird der Kaiser als alternder, mitunter weinerlicher, Bittsteller um Sisis Liebe dargestellt. Ihr Freiheitsdrang, so scheint es, schwächt ihn. Und nichts hilft angezählter Männlichkeit schneller wieder auf die Sprünge als ein neuer Krieg, der die Frauen zu Opfern und Schutzsuchenden macht.

Sisi verachtete Franz-Josef wahrscheinlich für dessen Verachtung von Menschenleben. Darin unterstützte sie den gemeinsamen erwachsenen Sohn Rudolf. Aber der alte Habsburger ließ die moderateren, moderneren Ideen des Thronfolgers nicht gelten, sondern folgte stur der immergleichen alten Logik des Krieges mit den bekannten Folgen für ganz Europa. Auch hier könnte ein Grund für den plötzlichen Popularitätsschub der Sisi-Zeit liegen. Wir spüren, dass der Aufstieg der Logik des Krieges als »alternativlos« wieder in der Luft liegt.

Wohin mit der Wut?

Die barbarischen Zustände auf dem Schlachtfeld von Solferino veranlassten einen völlig schockierten Augenzeugen, den Schweizer Geschäftsmann Henry Dunant, 1863 in Genf das Rote Kreuz zu gründen, wofür er 1901 den ersten Friedensnobelpreis bekam. Elisabeth hat keine solchen Handlungsmöglichkeiten. Sie flüchtet sich abwechselnd in die Depression oder schikaniert ihr Personal, das naturgemäß keine Gegenwehr bietet, so dass ihre Aggression ins Leere läuft.

Frauke Finsterwalder und Christian Kracht thematisieren im Drehbuch von »Sisi und ich« auch Elisabeths Widerwillen gegen den Geschlechtsverkehr mit ihrem Mann. Die Frustration darüber, dass sie, obwohl mächtigste Frau im Staat, noch nicht einmal über ihren eigenen Körper verfügen konnte, machte sie wohl zu der anstrengenden Herrscherin, als die sie in Erinnerung geblieben ist. Sie verlangte ihrem Umfeld einiges ab und im Film sorgt dies für reichlich Situationskomik. »Sisi und ich« hat keine Handlung im eigentlichen Sinne, sondern dreht sich um die kapriziösen Einfälle einer faszinierenden Persönlichkeit. Inklusive einiger Drogenexperimente, wie der regelmäßigen Einnahme von Kokain, das auch dem Personal verabreicht wird.

»Redundanz der Verstörung«

Im Film wird Suchtverhalten modern inszeniert und die Frage nach historischer Korrektheit erfrischenderweise einmal hintangestellt. Damit öffnet sich eine weitere Verbindung zu Virginie Despentes’ Protagonisten Rebecca und Oscar, die beide mit Drogen- und Alkoholmissbrauch zu kämpfen haben.

Sucht ist auch ein durchgehendes Element in Joy Williams’ »Stories«, dem dritten Buch der Sendung. Insbesondere der Alkohol ist allgegenwärtig, ebenso fehlende Bildung, oberflächliche Konsumgier und Verantwortungslosigkeit der Erwachsenen. Kinder werden oft ohne Not, eher aus Langeweile, sich selbst überlassen und verkümmern oder verwahrlosen, ganz ähnlich wie die überall vorkommenden rostenden Autos.

In der Besprechung der Kurzgeschichtensammlung monierte Philipp Tingler im Literarischen Quartett vom 31.3.23 die »Redundanz der Verstörung«. Eine treffende Kritik an der Zusammenstellung von Williams Meisterwerken von 1972 bis 2014, die in dieser Häufung deprimieren.

dtv fand den Zeitpunkt zur Veröffentlichung wohl deshalb günstig, weil die Anzeichen allgemeiner Degeneration, die noch vor dreißig Jahren in Europa als »typisch amerikanisch« wahrgenommen wurden, längst auch die deutschsprachigen Gesellschaften erreicht haben. Und eine Geschichte mit dem Titel »Letzte Generation« weckt natürlich unsere Neugier.

Alle drei Bücher der Sendung thematisieren die Dekadenz als goldenes Gefängnis. In »Sisi« ist der Wettkampf darum, wer das schönste Gefängnis hat, der einzige Kriegsschauplatz, zu dem Elisabeth als Frau zugelassen ist. Was für eine Verschwendung!

Isa Tschierschke

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3 Kommentare

  1. Lieber Herr Tischer, bei den bibliographischen Angaben der drei Bücher ist die ehrenwerte Frau Despentes doppelt vertreten, die sehr lesenswerten “Stories” von Joy Williams hingegen sind nicht angegeben.

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