Die folgende Geschichte zählt ebenfalls zu den vier Gewinnertexten 58. Folge des Schreibzeug-Podcasts. Die 58. Folge mit den zugehörigen Textanalysen kann hier angehört werden – und überall, wo es Podcasts gibt. Über die Zahlen unter den Geschichten kann zwischen den Geschichten geblättert werden.
Eisige Kälte
von Jana Tegel
Es ist kühl.
Die Finger spüren es gleich, noch bevor Filips ganzer Körper es merkt. Der Federstift gleitet ihm aus der Hand und poltert klirrend auf dem Parkettboden. Filip erschaudert. Der eingekrallte Bücherstaub vermischt sich mit dem maroden Geruch der nicht-bewohnten Räumen.
Filip reibt die starren Finger an den Handflächen und stellt den Kragen seines groben Soldatenmantels auf. Unbeholfen klaubt er den Federstift auf, sticht damit in das gläserne Tintenfässchen und kratzt ins Notizbuch: »15/XI/191…« Die Federspitze stößt noch einmal auf den Glasboden, hinterlässt aber nichts auf dem Papier.
Filip pustet seinen warmen Atem auf das kalte Tintenfässchen, hält inne und holt aus seinem Soldatensack einen Graphit-Stift. Er bringt ihn an die Lippen und feuchtet ihn an. Die nasse Spitze hinterlässt einen schwarzen dünnen Streifen. Mit der Zunge leckt er die Lippen ab. Eine Kindheitsangewohnheit. Mist, sie werden wieder entzündet!
Es ist kalt.
Wie gemütlich war es hier, bevor die Hausbibliothek aus privatem zum sozialen Besitz wurde. Sozialistisch. Angeeignet. Dem neuen Staat fehlt noch an allem. Besonders sind Heizmittel und Bücher kostbar. Die Möbel, das Geschirr, die Teppiche wurden gleich nach der Revolution katalogisiert. Filip war für die Privatbibliotheken zuständig.
Er knabbert kurz am Stift, betrachtet die meterhohen Regale und beugt sich über das Papier.
Autor – Buchtitel – Seitenzahl – Extras.
Er nimmt ein Buch aus dem Regal. Mit seinen vor Kälte steifen Fingern kann er das schwere Buch nicht lange halten.
Das ist nur eine Momentaufnahme: ein im Flug getroffener Vogel mit einem kaputten Flügel. Dann klärt sich sein Blick und Filip ist wieder in der Realität. Er sieht, die quer über dem Parkett verteilten Teile des schweren Buches … ausgerissene Textseiten mit dem Titelblatt … ein Teil der Falz … der zerrissene Schmutztitel. Und vor seinen Füßen – das gebrochene Vorsatz.
Es ist eisig kalt.
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Liebe Diana, lieber Wolfgang,
erstmal vielen Dank für die viele Arbeit, die ihr euch macht mit dem Podcast und den Schreibwettbewerben. Ich bin vielleicht etwas spät dran, wollte aber einen Punkt zum Wettbewerb „Gebrochene Vorsätze“ anbringen, der mir jetzt erst klarer wird. Hier höre ich Wolfgangs leicht genervte Stimme zwischen meinen Zeilen: eine neue Episode „Kritisier den Kritiker?“ Ja und nein. Ihr seid die Jury, d.h. ihr habt die Erfahrung und kennt vor allem alle Texte. Mir fehlt aber eine Dimension in euren Besprechungen. Gibt es nicht auch, und gerade auch in eher banalen Themen, eine Suche nach Bedeutung im Themenbegriff? Und damit meine ich nicht die Begriffserläuterungen in Wikipedia (es gibt, denke ich, auch eine Stereotypie der Originalität. Ihr sucht ein „Spektrum“? Echt jetzt?). Ich grabe hier: Was genau ist ein Vorsatz? Warum fasst ein Mensch einen Vorsatz? Und warum bricht er / sie ihn? Was ist der Wert eines Vorsatzes? Müssen Geschichten nicht eine Relevanz haben, einen Bezug zur gesellschaftlichen Situation? Das geht über reine Bildersprache und überraschende Wendungen / Pointen hinaus. Wieder höre ich da Wolfgangs Stimme: hatte deine Geschichte doch auch nicht! Ja und nein. Ich schreibe euch auch nicht, um eurer Entscheidung nachzukarten. Ich schreibe euch, weil ich mich gerade verstärkt an dem Begriff Relevanz reibe. Vielleicht ist das ja auch ein Thema für den Podcast?
Erst mal ganz liebe Grüße, nichts für Ungut und gutes Gelingen in Leipzig.
Michael Fiedler