Letzte Woche sind sie bekannt gegeben worden: die fünf nominierten Bücher für den Preis der Leipziger Buchmesse 2018 in der Rubrik Belletristik.
Unser Kritiker Malte Bremer greift zu den ersten vier Titeln und macht den Buchhandelstest: Was lassen die ersten Seiten der Bücher erkennen? Will man sie weiterlesen?
Isabel Fargo Cole: Die grüne Grenze
Nach der Widmung For my Parents, Creedence Clearwater Revival, and Bach folgen ein Zitat von Havemann und ein längeres von Führmann Fühmann, das da endet mit dem philosophischen Dummschwätz »Modell des Gewordenseins der menschlichen Psyche.«
Weiter geht’s mit der Feststellung, dass es im Harz-Dorf Sorge aussehe wie »nach dem Ende der Geschichte«. Und dann folgt eine penible Beschreibung der Umgebung dieses Dorfes mit Fluss und Klippen und Brücke und und und – ja soll ich mir das alles merken? Gibt es nichts zu erzählen, außer dass die Schmalspurbahn am Südhang an Häusern und Pensionen vorbeifährt – gerade so, als seien Pensionen keine Häuser? Was ein Geschwafel … Und jetzt ändert sich auch noch der Blick, denn jetzt will Ich-Erzähler oder Ich-Erzählerin »wirklich hinschauen. Von oben herab: wie durchs klare Wasser. Ich selbst bleibe oben, mein Blick taucht«.
Soll er abtauchen. Mir ist die Lust vergangen, dies Geschwurbel noch weiter zu verfolgen!
Malte Bremer
Isabel Fargo Cole: Die grüne Grenze: Roman. Gebundene Ausgabe. 2017. Edition Nautilus GmbH. ISBN/EAN: 9783960540496. 26,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen
Mittendrin, statt nur dabei – so wünsche ich mir das! Keine langatmigen Beschreibungen, was wie zusammengehört und wer warum mit wem – das ergibt sich aus dem Text ganz von selbst: dass hier von einem Schichtwechsel die Rede ist, einem Austausch von Bohrarbeitern einer Ölplattform vor Marokko (ist nicht gesichert, nur meine Vermutung, denn der im Text genannte Ort »Sidi Ifni« befindet sich in Marokko, während die Kapitelüberschrift »Cantarell« hinweist auf die Ex-Ölplattform vor Mexiko). Nichts wird erklärt, es ist, wie es ist – einfach spannend und direkt erzählt! Dazu starke Bilder, etwa wenn eine Tasche so groß ist wie ein ausgestopftes Wildschwein. Ich habe die gesamte Leseprobe am Stück gelesen: Dieses Buch ist absolut preiswürdig: Anja Kampmann kann erzählen!
Malte Bremer
Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen: Roman. Gebundene Ausgabe. 2018. Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG. ISBN/EAN: 9783446258150. 23,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Matthias Senkel: Dunkle Zahlen
Dieses POEM legt gewaltig los: Ein Ich-Erzähler namens Motja outet sich immer, wenn er gerade etwas sagt (das bin ich, der sich da aufplustert) oder (das bin ich, der da brummelt) und baggert gleichzeitig zwei Anuschkas an – nämlich eine linke und eine rechte (bzw. umgekehrt) – und überlegt sich, ob er die gleich heiraten oder besser noch adoptieren soll. Dazu ein seltsames Gerät der Altvorderen namens GLM, mit dem man kochen kann, dazu Bilder, Diagramme, dann der Startbildschirm der Maschine GLM-3, die wohl außer kochen noch was ganz anderes kann, sie ist nämlich eine Literaturmaschine.
Atemlos durch den Text: Ein sprachliches Feuerwerk, ironisch-historisch, grotesk, humorvoll!
Das Grau seines rechten Auges schimmerte bald altklug, bald abweisend, da er bereits viel gelesen hatte und einiges davon verstand oder allmählich zu verstehen begann!
Meint der mich? Ich verstehe nur Bahnhof. Na und? Dunkle Zahlen scheint ein famoser Schelmenroman zu sein bzw. zu werden und deswegen werde ich meine Freude daran haben!
Malte Bremer
Matthias Senkel: Dunkle Zahlen: Poem. Gebundene Ausgabe. 2018. Matthes & Seitz Berlin. ISBN/EAN: 9783957575395. 24,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Esther Kinsky: Hain: Geländeroman
»In rumänischen Kirchen gibt es zwei voneinander getrennte Stellen, an denen die Gläubigen Kerzen anzünden.« Nach einem Zitat von Wittgenstein beginnt so der Roman. Kursiv. Muss einen Grund haben – aber welchen? Ist das eine wesentliche Aussage für den Roman, dass es in rumänischen Kirchen zwei Stellen für Kerzen gibt: Eine für die Lebenden, die andere für die Toten? Stirbt jemand, wenn man seine Kerze boshafter Weise in die Nische der Gestorbenen stellt? Oder gar umgekehrt? Und was hat das mit Gelände zu tun? Oder mit dem Film, in dem der Ich-Erzähler genau diese Szene gesehen haben will, diese Szene, die den Ich-Erzähler rührte in ihrer Schlichtheit und Hinnahme? Das kitscht so vor sich hin.
Und weiter geht es, diesmal in schlechtem Deutsch:
Wenige Monate nachdem ich diese Szene in einem Film sah, starb M.
Nach Monaten fehlt ein Komma, und M. ist gestorben.
Doch genug von dem missglückten Anfang (abgesehen von Wittgenstein), endlich geht es los mit dem Roman Gelände!
Aber welch Enttäuschung: Statt einem Handlung wird haarklein der Ort Olevano Romano beschrieben: Wo der Friedhof ist, dass der Hang steil ist, dass und wo es Zypressen gibt, Sempervirens, Totenbaum, – es gibt ungestrenge (?) Pinien, Olivenbäume, Bambusgestrüpp, drei, vier Irrgäste namens Birke), Steineichen, Weinstöcke,  und eine Straße, die sich gabelt, sodass das Dorf jetzt wieder links liegt und der Friedhof rechts.
Ächz: Das ist unglaublich langweilig! Landschaft um der Landschaft willen! Wie gerät sowas auf eine Shortlist? Wie mies müssen all die anderen sein, wenn sowas protegiert wird?
Malte Bremer
Esther Kinsky: Hain: Geländeroman. Gebundene Ausgabe. 2018. Suhrkamp Verlag. ISBN/EAN: 9783518427897. 24,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Georg Klein: Miakro (Rowohlt)
Der fünfte Titel auf der Shortlist war bei Verkündung noch nicht erschienen. Mittlerweile ist das jedoch der Fall und Malte Bremers Bewertung von Georg Kleins »Miakro« kann hier nachgelesen werden. Hier klicken »
Auf der Rowohl Homepage ist bereits eine umfangreiche Leseprobe von Miakro von Georg Klein verfügbar oder darf erst bei Erscheinen rezensiert werden?
Das “Buch der Zahlen” habe ich gelesen, sonst sind mir die nominierten Werke ziemlich unbekannt
Geländebeschreibungen, Naturschilderungen – schlag nach bei Adalbert Stifter. Der fing bekanntlich zuerst als Landschaftsmaler an, die Erfolge blieben jedoch aus. Seinen Werken sind sie heute noch vergönnt und offensichtlich dienen diese in gewissen Punkten als Vorbild den Schriftstellerinnen, die auf der Leipziger Short List stehen. Viel Glück immerhin!
Zitate: “Wenige Monate nachdem ich diese Szene in einem Film sah, starb M.”
“Nach Monaten fehlt ein Komma, und M. ist gestorben.”
Sehr geehrter Rezensent: Nein – nach Monate fehlt kein Komma. Warum bitte, sollte da eins hin?
Aber der Satz steht in der falschen Zeit. Da der Nebensatz im Imperfekt geschrieben wurde, muss der erste Satzteil “Wenige Monate . . .” im Plusquamperfekt stehen.
In Ihrer Einleitung zitieren Sie einen gewissen Führmann. Das verwendete Zitat: »Modell des Gewordenseins der menschlichen Psyche.« stammt allerdings von Franz Fühmann, 1982 in der DDR verstorbener Schriftsteller.
Ich weiß nun nicht, was ich von Rezensionen halten soll, mit mit einem derartig marginalen Grundwissen an deutscher Grammatik und Literaturgeschichte geschrieben werden.
@Ben Vart
Danke für den Hinweis! Der Tippfehler im Namen Fühmann wurde korrigiert!
(Malte Bremer)
Das Komma vor Konjunktionen. Vor Konjunktionen (Bindewörter) wie als, dass, dann, denn, weil, wenn, bevor, nachdem usw. steht ein Komma
So sagt es der Duden – und warum sollen wir uns nicht nach ihm richten?
Schreiben ist ohnehin kompliziert genug, also ist es doch sinnvoll, Regeln zu beachten, die den schlichten äußeren Aufbau zum Inhalt haben – ist zumindest meine Meinung.
freischreiben geht aber auch
Natürlich geht frei schreiben – Hauptsache, es wird überhaupt geschrieben! Ãœber gewisse Feinheiten kann man dann immer noch streiten.
@Johanna Sibera: Ihre Meinung teile ich uneingeschränkt!
@Eva Jancak: Ja, das geht. Wenn man für die Schublade schreibt und es sonst niemand zu Gesicht bekommt. Veröffentlichungen – und seien es auch “nur” Rezensionen – müssen nach den geltenden Rechtschreibregeln verfasst sein. Aber davon hatten wir beide es ja schon zur Genüge, nicht wahr? 😉
Ja hatten wir, lieber Uli und da haben wir Auffassungsunterschiede, weil ich da einiges anders sehe, damit bin ich weitgehend allein und nicht nur Sie sind der Meinung, daß man die geltenden Rechtschreibregeln beachten muß und nicht gegen den Strom schwimmen darf.
Allerdings gibt es genügend Gegenbeispiele, ich sage nur Tomer Gardi etcetera und die IG Autoren sagen auch immer, daß jeder schreiben darf, wie er soll.
Ich habe übrigens demnächst Texte in einer der führenden Literaturbeilagen Wiens und die sind in der alten Rechtschreibung und eine gut honorierte Lesung habe ich bald auch.
Ich hätte übrigens vor ein paar Tagen gerne Ihren letzten Text gelesen, hatte aber irgendwie Schwierigkeiten hineinzukommen, liebe Grüße!
Ist doch nicht schlimm, liebe Frau Jancak. Das geht mir mit vielen Ihrer Beiträge genauso 🙂 Wünsche Ihnen ein schönes Wochenende, viel Erfolg und liebe Grüße nach Wien!
kein Schriftsteller muss irgendwelchen Zeitformen folgen, sehr häufig wird das variiert, weil es dem sound dient, weil man keine ist gestorben, war gestorben etc montruktionen möchte. vollkommen legitim, seit Jahrzehnten und länger. das findet man bei mann bis Joyce und heute sowieso. Johnson zbsp. setzte Kommas nach eigenen regeln, ähnlich der englischen Sprache, auch nach sound.