Wie in den Jahren zuvor macht unser Textkritiker Malte Bremer mit allen 20 Titeln der Longlist zum Deutschen Buchpreis den »Buchhandelstest«. Bremer liest die ersten Seiten und fragt sich: Taugt das was? Will man das weiterlesen? Spannend? Oder langweilig? Lesen Sie den 4. von 5 Teilen mit jeweils 4 Büchern.
Diesmal: Iris Wolff, Arno Camenisch, Charles Lewinsky und Christine Wunnicke.
Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt
Lass mir das Kind.
Was ein Beginn: Offenbar ist ein Kind auf irgendeine Weise bedroht: Warum will man oder frau es ihr wegnehmen? Was ist das für ein Kind? Ist die Person, die den Satz »Lass mir das Kind!« sagt, die Mutter des Kindes? Oder ist es ein Waisenkind, das die Protagonistin Florentine aufziehen will? Weiter heißt es, dass Florentine diesen Satz gar nicht ausspricht, sondern sich ihm überließ. Und dann werden die äußeren Umstände deutlich: Es schneit seit einiger Zeit ununterbrochen. Hannes – offenbar Florentines Mann – hatte das Schneeschippen aufgegeben. Dann spielt ein Pferdewagen eine Rolle: Der Kutscher schaut Florentine von der Seite an, und jetzt wissen wir Leser auch Bescheid: Florentine ist hochschwanger …
Das erschließt sich aus dem lakonischen Beginn dieses Romans und entfaltet einen gewaltigen Sog: Ich jedenfalls werde das weiterlesen und empfehle es als Kandidat für die Shortlist!
Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt: Roman. Gebundene Ausgabe. 2020. Klett-Cotta. ISBN/EAN: 9783608983265. 20,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Arno Camenisch: Goldene Jahre
Auf zum Mond, sagt die Margrit und dreht den Schalter, die gelbe Leuchtreklame auf dem Dach des Kiosk geht an. Dann tritt Margrit zur Türe vom Kiosk raus und schaut zur Leuchtreklame hoch. Eine Freude ist das, wie schön sie leuchtet, sie lächelt, da geht einem grad das Herz auf, wenn wir am Morgen die gelbe Leuchtreklame einschalten. In aller Herrgottsfrühe, wenn noch die letzten Sterne am Himmel sind. Und bald wird es hell, sagt sie und geht ein paar Schritte bis zur Strasse und dreht sich zum Kiosk. Bereits von weitem sieht man sie, die schöne Reklame, so wissen die Leute, dass wir hier sind und offen haben, sobald das Licht auf dem Dach angeht, geht auch das Leben im Ort an, das ist wie der Hauptschalter.
So beginnt dieser Roman. Dass die Schweizer Mundart durchscheint (z. B. offen haben statt auf) und die Schweizer Rechtschreibung (in der Schweiz wurde das ß abgeschafft) – verdankt sich dem Umstand, dass wir es hier mit einem Schweizer Roman aus einem Schweizer Verlag zu tun haben: Hier darf man dem Volk unbehelligt aufs Maul schauen! Ich schaute und kam aus dem Schmunzeln kaum heraus, wie Rosa-Maria und Margrit mit der Vergangenheit umgehen, z. B sich über die Astronauten der ersten Mondlandung austauschen und wer der wichtigste bzw. beste dabei war und von da aus auf die Probleme einer Dreiecksbeziehung springen und warum das niemals gut gehen kann.
Liebevoll hegen und pflegen Rosa-Maria und Margrit die schöne Leuchtreklame, dieses Bijou von einer Leuchtreklame, das seit 51 Jahren in Betrieb ist, und sie erinnern sich an vieles, was in dieser Zeit geschehen ist … und was auch denen widerfahren wird, die z. B. die Mondlandung live miterlebt haben, sei es nun im Schwarz-Weiß-Fernsehapparat oder Radio! Ich freue mich auf dieses Werk und wünsche ihm einen Platz auf der Shortlist!
PS: Sollten Sie tatsächlich auf ein völlig unbekanntes Wort stoßen, dann kann Ihnen hier geholfen werden.
Arno Camenisch: Goldene Jahre: Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2020 (Longlist). Gebundene Ausgabe. 2020. Urs Engeler. ISBN/EAN: 9783906050362. 19,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Charles Lewinsky: Der Halbbart
Wie? Was? Halbbart? Wie kann man einen halben Bart haben? Nur links bzw. rechts? Und dann Ostern oder Palmsonntag: Ist der Auferstanden wie weiland ein gewisser Jesus? Nein, der ist nicht auferstanden, sondern aus einem großen Weinfass mit Räuschling um Mitternacht durch das Spundloch hinausgeschloffen … behauptet einer. Da sind wir wieder bei der reizvollen Schweizer Mundart! Jedenfalls wird immer deutlicher, dass eigentlich niemand nix Richtiges weiß! Vielleicht ist der Halbbart auch nur ein Flüchtling? Zumindest glaubt man zu wissen, dass der sich mit bloßen Händen einen Unterschlupf gebaut habe, wobei er mit bloßen Händen Brombeersträucher ausgerissen habe. Aber das alles glaubt der Ich-Erzähler nicht und erinnert sich, dass sie sich als Kinder auch solche Unterständ gebaut haben!
Das hat Zug, das hat Biss, das macht neugierig: So ist es gut, so soll es sein! Diesen Titel kann ich mir ebenfalls auf der Shortlist vorstellen!
Charles Lewinsky: Der Halbbart: Roman. Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2020 (Longlist). Gebundene Ausgabe. 2020. Diogenes. ISBN/EAN: 9783257071368. 26,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand
Laut Mitteilung des Verlags entführt uns Christine Wunnicke mit ihrem Roman ins Jahr 1764 auf die struppige indische Insel Elephanta. Das ist irgendwo in der Nähe vom heutigen Mumbai, uns Alten besser als Bombay bekannt. Schön. Wir befinden uns zunächst in einem Garten unter einem Baldachin, wo ein Musa-al-Lahuri das Echtheitszertifikat seines fabrizierten Astrolabiums in drei Ausfertigungen unterzeichnen sollte … aller guten Dinge eben. Der Astronom unterdrückte ein Seufzen und unterschreibt dreimal mit seinem vollen Namen: Ustad Musa ibn Zayn ad-Din Qasim ibn Qasim ibn Lutfullah al-Munaggim al-Lahuri. Das hat man davon, wenn man den Vater und dessen Väter und Väterväter und Väterväterväter mit in seinem Namen herumschleppt oder herumschleppen muss. Wie man das wohl korrekt ausspricht?
Aber das will ich eigentlich überhaupt nicht wissen, im Gegenteil! Schließlich hat der Käufer selbst keinen Namen … Dafür erfahren wir, dass das Haus des Namenlosen an der alten Handelsroute lag, und zwar in einer freudlosen Gegend zwischen Panvel-Markt und Panvel-Haven. Schön. Prima. Alles klar. Und der namenlose Kunde besaß große Magazine und zusätzlich eine portugiesische Kirche, die er als Lager brauchte für seine Waren, als da wären Indigo, Opium, Leinwand. Ach ja: Er war Perser, ebenso wie Ustad Musa ibn Zayn ad-Din Qasim ibn Qasim ibn Lutfullah al-Munaggim al-Lahuri. Der ist am Tag zuvor nach Pavel gekommen, um das bestellte und bezahlte Astrolabium zu liefern.
Fazit: Angestrengte, ermüdende Langeweile.
Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand: Roman. Taschenbuch. 2020. Berenberg Verlag GmbH. ISBN/EAN: 9783946334767. 22,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Maltes Meinung: Longlist Deutscher Buchpreis 2020
- Teil 1: Helena Adler, Birgit Birnbacher, Bov Bjerg und Valerie Fritsch »
- Teil 2: Dorothee Elmiger, Leif Randt, Stephan Roiss und Robert Seethaler »
- Teil 3: Deniz Ohde, Eva Sichelschmidt, Olivia Wenzel und Frank Witzel »
- Teil 4: Iris Wolff, Arno Camenisch, Charles Lewinsky und Christine Wunnicke »
- Teil 5: Anne Weber, Roman Ehrlich, Jens Wonneberger und Thomas Hettche »
überraschung, wieder einmal Ãœbereinstimmung, was den “Halbbart” betrifft, ist ein tolles Buch, würde ich mir auch auf die Shortlist wünschen. Mal sehen, wie es bei den anderen Büchern wird, bin gerade bei der “Zuckerfabrik” angekommen!
Lesen Sie ebenfalls jedes Buch auf der Longlist an, Frau Jancak?
Ja, ich lese schon seit 2015 alles oder was sich bekommen läßt, bin jetzt bei Buch neun den Jens Wonneberger, der mir bis jetzt sehr gut gefällt und habe dann auch die österreichische Longlist vor, macht ab August bis Weihnachten oder auch in den Jänner, weil es ja noch andere Bücher gibt, ein bißchen Streß, aber auch großes Vergnügen und man lernt viel dabei, 2013 als ich mir das noch nicht traute, habe ich es mit dem Leseprobenbüchlein versucht, habe aber bald gemerkt, daß zumindestens ich dadurch keinen Eindruck über die Bücher bekomme!
Wo kann ich ihre Besprechungen finden?
literaturgefluester.wordpress.com/deutscher-buchpreis/
literaturgefluester.wordpress.com/oesterreichischer-buchpreis/
literaturgefluester.wordpress.com/2013/08/25/die-longlist-leseproben/