Alles wieder unter normalen Bedingungen: die Frankfurter Buchmesse 2022. Barbara Fellgiebel war natürlich wieder vor Ort. Lesen Sie hier Barbara Fellgiebels Messeimpressionen – respektlos, subjektiv, frech, erfrischend und noch so einiges.
Montag, 17. Oktober 2022
Meine Buchmesse fängt seit 18 Jahren mit der diesmal spektakulären Verleihung des #dbp, des Deutschen Buchpreises an. Beschwerte ich mich im letzten Jahr an dieser Stelle über erhebliche Akkreditierungsschwierigkeiten, flutschte in diesem Jahr alles problemlos.
Alle Anwesenden waren superguter Laune, erfreut, dass alles wieder unter normalen Bedingungen stattfinden konnte. Gelegentlich wurden Masken getragen, aber das war ja schließlich freiwillig. Volles Haus, voller Kaisersaal, wieder dicht neben anderen Menschen zu sitzen und spontan mit ihnen zu sprechen, war einfach wundervoll. »Sprühende Kreativität« lautete der Titel des diesjährigen Gastauftritts Spaniens, und sprühend war auch dieser Auftakt. Immer wieder wurde betont, wie wichtig das Treffen in real live sei und trotzdem wurde diese Preisverleihung gestreamt und im deutschen Fernsehen übertragen. Lobenswert!
Mein Favorit war das »Blutbuch« von Kim de l’Horizon, und neben mir sitzt Yazemin Sönmez, die Präsidentin des Soroptimist Internationalverbandes in Frankfurt. Ihre Favoritin ist natürlich Fatma Aydemirs Buch: Dschinns. Ich lasse mir von Yazemin die Bedeutung von Dschinns (= Geister) erklären. Sie staunt nicht schlecht, dass man an alten portugiesischen Häusern farbige Rahmen um die Fenster malte und spitze Metallornamente an den Hausecken anbrachte, um eben solche Geister abzuwehren.
Selten war die Zusammenstellung der Shortlist, d. h. der sechs von knapp 250 eingereichten Titeln so stimmig und so »zu Recht«. Erst, wenn man sich näher mit all diesen Büchern befasst hat, versteht man die brillante Begründung der diesjährigen Jurysprecherin Miriam Zeh: »Ein Roman gibt sich eigene Gesetze und steht doch unweigerlich in Kontakt zur Gegenwart, in der er geschrieben und gelesen wird. Alle sechs Titel der Shortlist 2022 konnten uns in ihrer ästhetischen Eigenheit überzeugen. Mit sprachlicher Brillanz und formaler Innovationskraft beschreiben sie soziale Realitäten und Phantasmen, vermessen Mitte und Ränder, umkreisen Trauer und Komik. Damit bilden die nominierten Autor*innen die thematische wie stilistische Vielfalt der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ab. Gemeinsam ist ihnen: eine künstlerische Unbedingtheit. Mit ihren Büchern beziehen sie Position, zeigen sich streitbar und zugleich offen für den Dialog. So laden wir mit der Lektüre dieser Shortlist auch ein, in einen Austausch zu treten und den eigenen Blick auf die Welt neu zu justieren.«
Von thematischer Vielfalt würde ich jedoch nicht sprechen, da der Trend zur Findung der eigenen Herkunft durch Beschäftigung mit Mitgliedern der eigenen Familie über mehrere Generationen selten so auffällig war wie in diesem Jahr.
Die Wahl des diesjährigen dbp-Gewinners fällt wieder auf meinen Favoriten: Blutbuch von Kim de l’Horizon – nicht wegen der fluiden Genderzugehörigkeit, sondern der innovativen Sprachgewalt und -fantasie. Entsprechend fantasievoll ist die Dankesrede: Kim sagt, keine solche vorbereitet zu haben, beginnt fast zu weinen, als Kim seine Mutter ansieht, singt a-capella den Song »Nightcall« und zieht zum Abschluss einen Rasierapparat aus der Tasche und rasiert sich spiegellos die Haare Strähne für Strähne ab. Diese Solidaritätsbekundung mit der gegenwärtigen Situation im Iran wird von allen verstanden und mit stehenden Ovationen und donnerndem Beifall gewürdigt. Körperlich spürbar ist die Betreten- und Betroffenheit vieler im Saal Anwesender (nicht nur alter weißer Männer), denen die Peinlichkeit, dieses Buch nicht gelesen zu haben, im Gesicht steht.
Mich freut besonders, dass der:die Preisträger:in noch keine 30 Jahre alt ist und von dem Preisgeld (25.000 €) ein Jahr schreiben kann, ohne sich sorgen zu müssen, wo die Miete für den nächsten Monat herkommt. Ein leicht abgewandeltes Zitat des ersten dbp-Gewinners Arno Geiger.
Weniger freut mich die Meldung, dass Kim auf der Buchmesse Personenschutz benötigte, weil queer-feindliche Angriffe gegen seine Person gerichtet waren.
Beim anschließenden feuchtfröhlichen Beisammensein genieße ich das perfekte Deutsch des englischen Übersetzers Jamie Bulloch, der mir bedauernd erzählt, dass die meisten deutschsprachigen Bücher in England nur eine Verkaufshöhe von 700 Exemplaren erreichen.
Dienstag, 18. Oktober 2022
Wie angenehm und einfach der Zugang zur diesjährigen Pressekonferenz. Wie in alten Zeiten. Diesmal findet sie im Frankfurt-Pavillon mitten auf der Agora statt. Zu ebener Erde und leicht zugänglich. Barrierefreies Lesen – wie Ina Hartwig, die Frankfurter Kulturdezernentin so treffend sagt. Buchmessedirektor Jürgen Boos erwartet 4.000 Aussteller aus 95 Ländern und weist mit dem schönen Satz »Ohne Verständigung kein Verstehen« auf das Abschlusskonzert des diesjährigen Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels hin. Mehr zu ihm später im Text.
Ich freue mich, dass das Thema »rechte Verlage« nicht thematisiert wird, hingegen ist der Rückgang der Buchverkäufe beängstigend und für viele kleine Buchhandlungen existenzgefährdend.
Der pakistanische Schriftsteller Mohsin Hamid sagt kluge Dinge in seiner etwas zu langen Rede. Mit dem Satz »Wir schreiben halbe Bücher; die Leser schreiben die andere Hälfte« fasziniert er die Anwesenden. Wie wahr. Jede und jeder hat eine andere Art der Wahrnehmung. Natürlich nicht nur bei Büchern.
Nach der Pressekonferenz ist der Rundgang im Gastpavillon angesagt.
Spanien erwartet uns – hell und offen, freundlich, farbenfroh, zugänglich und mit ganz vielen Büchern. Mit sprühender Kreativität eben.
Die Bedeutung von Übersetzungen und Übersetzern wird in diesem Jahr ganz groß gewürdigt und hat mit dem Dreiklang »translate transfer transform« viel Beachtung gefunden. Auch die Metapher, Worte seien wie Kirschen, an denen immer noch mehrere dranhängen, hat was.
Ich wandere stundenlang durch die Hallen, in denen die Stände für den morgigen Tag fertiggemacht werden, auf der Suche nach dem Pressezentrum. Es befindet sich am selben Platz wie im Vorjahr, d. h. nicht in, sondern vor Halle 4.2 und ist auch in diesem Jahr total computerfrei. Ab jetzt immer – das ist Neuzeit. Da stehe ich genauso blöd und ratlos mit meinem Stick wie im vergangenen Jahr. Willkommen 2022, wo man offensichtlich immer ein eigenes Notebook dabeihaben muss. Habe ich aber nicht. Da heißt es, aus der Not eine Tugend zu machen: Ich spreche meinen Text in mein Handy, schicke mir diesen Text per E-Mail und habe dann den Text da, wo ich ihn haben will: auf dem Heimcomputer. Viel einfacher, als alles mit der Hand zu schreiben und es dann nochmals tippen zu müssen.
Auch der Zutritt zur Eröffnungsfeier war ungewohnt einfach – wahrscheinlich aus der unbegründeten Angst, den riesigen Saal mit 2.207 Plätzen nicht zu füllen. Die Anwesenheit des spanischen Königspaars verlieh der Veranstaltung einen besonderen Glanz, von dem die Kulturdezernentin Ina Hartwig in ihrer Eröffnungsrede der OPEN-BOOKS-Veranstaltung zutiefst angetan schwärmte. Doch dazu später. Hier ersetzte sie – da dieser vor Gericht stand – den Frankfurter Oberbürgermeister Feldmann – angenehmerweise ohne seine funkelnde Kette.
Weiter im Schweinsgalopp zur Nationalbibliothek, wo oben erwähnte OPEN-BOOKS-Eröffnungsveranstaltung stattfand. Hier begrüßte Ina Hartwig Kim de l’Horizon als Büchnerpreisträger, was die bis dahin leicht steife Stimmung angenehm menschlich machte. OPEN BOOKS ist das seit 2009 stattfindende Lesefest der Stadt Frankfurt. An verschiedenen Lesungsorten finden rund 100 Veranstaltungen mit kostenlosem Zugang statt. Eine großartige Initiative, die nicht genug gelobt werden kann.
Außer Kim sind Durs Grünbein (der wirklich Büchnerpreisträger ist) sowie Manja Präkels und Jürgen Kaube zugegen. Kim de l’Horizon schreibt und liest poetisch. Kim hat zehn Jahre an dem Text gearbeitet (Bei Antje Ravic Strubel im vergangenen Jahr waren es acht Jahre). Kim spricht von Autofabulation, Autofiktion und Ecriture fluide.
Manja Präkels schockiert mit ihrer beklemmenden Schilderung vergessener Orte – überwiegend in Ost- aber auch zunehmend in Westdeutschland.
Durs Grünbein ist der erste Lyriker bei der Eröffnungsfeier von Open Books. Bei ihm höre ich erstmalig den Begriff »Putinismus«. Er stellt seinen 13. Gedichtband vor, sehr feinfühlig, sehr beunruhigt von der jetzigen Situation. Zuletzt macht der FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube auf die Gefahren der gespaltenen Gesellschaft aufmerksam. Welch denkwerter, beschämender Abend, der so manche Wessi-Ahnungslosigkeit … »wachrüttelt« wäre übertrieben, aber wachmacht. Beim Verlassen der Veranstaltung sehe ich, dass alle Bücher der anwesenden Autor:innen auf dem Büchertisch erworben werden können, Kims Blutbuch aber längst ausverkauft ist.
Wie gut, dass Petra Roth, die ehemalige Oberbürgermeisterin Frankfurts, ihr Exemplar noch vor der Veranstaltung erstanden hat. Dass sie dafür im Verlauf des Abends ihre Tasche von unerwünschtem Abfall unangemessen befreit, sollte ich gentlemanlike übergehen. Ich bin aber kein Gentleman.
Mittwoch, 19. Oktober 2022
Der erste und immer schönste Messetag bricht an. Es ist der schönste, weil alles noch so frisch, so leer, so freundlich, so voller Erwartung ist.
Das Blaue Sofa ist – genau wie letztes Jahr – in Halle 3 mit der 3sat-Bühne verschmolzen, doch diesmal ohne abschirmende Gardinen, ohne rechtsradikalen Verlag in nächster Nähe. Also sagte auch niemand bzw. niemensch wie Kim sagen würde, die Teilnahme beim Interview ab. Vielmehr ist diesmal der Stand des neugegründeten, noch nicht anerkannten PEN Berlin unter Vorsitz des charismatischen Deniz Yücel gleich nebenan.
Dafür ist die Bühne des Deutschlandfunks gleich gegenüber. Das bedeutet, laufend fallen sich lautstarke Interviewteilnehmer:innen gegenseitig ins Wort und legen den Grundstein zu der bisweilen unerträglichen Kakophonie, die entsteht, wenn allzu gehetzte, allzu eifrige ZDF-Simultanübersetzer zwar großartige Arbeit leisten, jedoch genauso laut wie die Originalstimmen aus den Lautsprechern erschallen. Wie schade und wie unnötig. Liebe Messestandorganisation! Bitte nächstes Jahr daran denken, dass die leider immer weniger werdenden und sparend zusammengelegten Bühnen nicht auch noch örtlich nahe beieinander sind.
Die nicht vermieteten Stände sind geschickt gebündelt und zu für jeden zugänglichen »Workstations« umfunktioniert worden. Die kann man sinnvoll neben einer Bühne platzieren.
Wie gut, dass sowohl Blaue-Sofa-Interviews als auch ARD-Bühne noch tagelang im Nachgang abrufbar sind. Zum Beispiel hier.
Denis Scheck präsentiert Heinrich Steinfest, dem mit Der betrunkene Berg, wie Scheck meint, ein Meisterwerk gelungen ist. Ich lerne, dass Fisolen Brechbohnen sind und schon Karl Kraus meinte, Österreich und Deutschland seien zwei durch ihre gemeinsame Sprache geteilte Länder.
Danach folgt der erste Teil von druckfrisch live, das eine kritische Publikumsstimme als »abgespult und seelenlos« bezeichnet. Mich hat erstaunt, wie positiv sich Scheck zu der diesjährigen Nobelpreisträgerin Annie Ernaux sowie zu Kim de l’Horizon äußerte. Als er dessen Blutbuch dem Publikum zeigen will, stellt er fest, dass es bereits geklaut worden ist. Beeindruckend: Papyrus von der spanischen Schriftstellerin Irene Vallejo. Es handelt vom Bücherjäger Ptolomeus, der die größte Bibliothek der Welt zusammenstellen will und dafür über Leichen geht.
Lächeln – lügen – Lachs fressen, so wird Lucy Frickes Die Diplomatin, das in Erdogans Istanbul spielt, charakterisiert. Aktueller denn je!
Ich liebe es, wenn Bücher mit stabreimenden Dreiklängen vorgestellt werden. So auch Daniela Dröschers Lügen über meine Mutter: Dorf, Dialekt, Dicksein. Hier wird die unwürdige Behandlung der Mutter erzählt, die der Vater für zu dick und dadurch für schuldig am nicht gelingenden sozialen Aufstieg hält.
Über Buchtitel könnte man oder mensch wahrscheinlich eine Doktorarbeit schreiben. Einworttitel scheinen zur Zeit en vogue zu sein, fünf von sechs shortgelisteten dbp-Anwärtern tragen einen solchen.
Doppelleben gehört auch dazu. Wie viele Bücher mit diesem Titel gibt es eigentlich? Antje Vollmer schrieb vor Jahren das lesenswerte Buch über Schloss Steinort, in dem im einen Flügel Hitlers Außenminister von Ribbentrop residierte, im anderen zeitgleich die Verschwörer um Stauffenberg das Attentat gegen Hitler planten.
Alain Claude Sulzer hat den grandiosen Roman über die französischen Brüder Goncourt und das Doppelleben ihrer Haushälterin geschrieben. Selbst Gottfried Benn schrieb ein Buch mit diesem Titel.
Die See erfreut sich auch auffallender Beliebtheit. Theresia Enzesberger schrieb mit Auf See, eine Art Zukunftsroman, der die an ihn gestellten Erwartungen nicht einzulösen scheint. Dörte Hansen hingegen ist mit Zur See der große Wurf gelungen, Offene See von Benjamin Myers galt schon vor zwei Jahren als »Lieblingsbuch der Unabhängigen«.
Apropos Gottfried Benn: Florian Illies hat im Rahmen der cleveren Kiepenheuer&Witsch-Serie »Bücher meines Lebens« Über Gottfried Benn geschrieben, eine nicht unumschränkte Liebeserklärung an den rätselhaften Arzt, der trotz eher unattraktiven Aussehens die Frauen reihenweise und gleichzeitig erobert und betört hat. Florian Illies gehört zu den Schriftstellern, die ich nicht objektiv beurteilen kann, weil mir bisher alles, was er geschrieben hat, außerordentlich gut gefallen hat. So gehe ich natürlich zur Präsentation seines jüngsten Buches Über Gottfried Benn, und es gelingt mir trotz Buchmesse, das ganze Buch in einem Rutsch zu lesen. Der bittere, nicht-so-Benn-begeisterte Nachgeschmack lässt mich tiefer in Sachen Benn forschen. Fortsetzung folgt in einem gesondertem Benn-Artikel …
Diese Initiative im Foyer von Halle 4 begrüße ich, hätte liebend gern am Sonntagabend erfahren, in wie vielen Fällen hier geholfen werden konnte, was aus Integritätsgründen natürlich nicht möglich war.
Der ZEIT-Stand ist zum Glück wieder da, wenngleich an ganz neuer Stelle, offener, leichter zugänglich.
Iris Radisch führt ein interessantes Gespräch mit Hannelore Schaffer, die sagt: »Ich bin eine Männerphantasie«, womit die 70+-Autorin meint, Männer haben alles erfunden. Alles was Frauen jetzt bekommen, ist das, was Männer fallenlassen. Beispiel: Lehrer.
Donnerstag, 20. Oktober 2022
Am Donnerstag ist wie immer die Pressekonferenz des kommenden Gastlandes: Slowenien.
Ein bisschen wie David nach Goliath. Zwei Millionen Einwohner zählt das vergleichsweise kleine Land und rühmt sich, mit 6.000 Schriftstellern die »dichteste Dichte an Dichtung in Europa« zu haben. Wie schön, dass ihm die Chance Gastland 2023 zu sein gegeben wird. Wir sind gespannt auf die Waben der Worte, die Spaniens sprühende Kreativität ablösen. Die Größe eines Gastlandes hat übrigens nicht das Geringste mit der Beeindruckung zu tun, die es hinterlässt:
Island ist zweifellos mit seinen 376.000 Einwohnern das bevölkerungsärmste Gastland, das es je auf der Buchmesse gab. Aber welchen unauslöschlichen beglückenden Eindruck hinterließ dieser atemberaubende Pavillon. Darin sind sich viele regelmäßige Buchmessebesucher einig.
Danach treffen wir Wolfgang Tischer zum alljährlichen Schlagabtausch und freuen uns, ein paar private revolutionierende News zu erfahren.
Im Frankfurt-Pavillon feiert der Diogenes Verlag sein 70-jähriges Bestehen. Jeder ist willkommen. Verlagsleiter Phillipp Keel hat den 1952 von Vater Daniel Keel gegründeten Verlag nach dessen Tod übernommen und dafür die eigene erfolgreiche Künstlerkarriere an den Nagel gehängt. Denis Scheck als Moderator des sprühenden Autor:innenfeuerwerks läuft zu gewohnter Hochform an. Witzig, spritzig, schlagfertig übersetzt er die nicht Deutsch sprechenden Autoren mühelos während des Gesprächs. Donna Leon, Shelly Kupferberg, Andrej Kurkow, Stefanie vor Schulte machen den Anfang und sagen Dingen wie
Es gibt kein schlimmeres Verbrechen, als nicht geliebt zu haben – Donna Leon. Sie liest gerade Vanity fair (Jahrmarkt der Eitelkeiten) zum dritten Mal, weil sie sich von der bösen Hauptperson nur zu gern verführen lässt.
In zweiter Runde sind Ingrid Noll, Solomonica de Winter, Irene Vallejo und Benedict Wells auf der Bühne. Als Denis Scheck Ingrid Noll fragt, wann sie zuletzt einen Mord geplant hat, kommt es wie aus der Pistole geschossen: »Gerade jetzt!« Und da hält sich die deutsche Krimi-Queen für nicht schlagfertig. Schließlich ist es Zeit fürs Gruppenbild, auf dem die geniale Pressechefin Ruth Geiger fehlt. Also bilden wir sie hier ab.
Am Ende erhält jeder anwesende Diogenes-Fan eine Wundertüte mit Diogenes-Büchern.
Elke Heidenreich entwickelt sich immer mehr zur Grand old Lady der Literatur, obwohl sie noch immer sehr jugendlich, unbekümmert und teilweise schnodderig sein kann. Das schrieb ich im vergangenen Jahr. Nun imponiert die im nächsten Jahr unglaubliche 80 Jahre alte Vielleserin damit, welch fleißige Vielschreiberin sie auch ist. So hat sie auf liebevolle Weise im Schatz ihrer Reiseerinnerungen gegraben und einen Teil daraus gekonnt zusammengestellt. Kaufen Sie das Buch nicht, hören Sie es von ihr gesprochen als Hörbuch! Das ist doppelter Genuss.
Freitag, 21. Oktober 2022
Beim Frühstück im Intercity-Hotel mit meinem ältesten Freund, der extra aus Siegburg gekommen ist, um mich zu sehen, sitzt doch tatsächlich Ingrid Noll einsam und allein am Nebentisch.
Da ich auch mal mörderische Schwester war, duzen wir uns. Sie bittet mich an ihren Tisch. Das ist wie Weihnachten und geht vor. Im Nu sind wir in ein herzliches Gespräch vertieft und stellen übereinstimmend fest, dass das Wegsterben der lieben und geliebten Menschen um uns her schrecklich ist, die Unerreichbarkeit aus Demenz oder anderen Gründen nicht mehr zugänglicher Menschen aber noch schwerer zu verkraften ist. Mein Freund wartet geduldig und verzeiht mir verständnisvoll.
Aufmerksame Leser/innen meiner Messeimpressionen fragen sich: Wie war denn der Dresscode in diesem Jahr? Alles ist zu sehen, bunt und bequem (besonders die Schuhe) und zunehmend nachhaltig.
Und: War sie denn in diesem Jahr wieder nicht auf der Verleihung des Hessischen Filmpreises? Nein, war sie nicht, denn – wie die offizielle Erklärung hieß: Eine feierliche Gala soll es in diesem Jahr angesichts der durch die Corona- und die Energiekrise getroffenen Kino- und Filmbranche nicht geben. Die eingesparten Kosten kommen den Kinopreisträgern zusätzlich zugute. Wollen wir hoffen, dass dem wirklich so ist.
Sonntag, 23. Oktober 2022
Auch in diesem Jahr verfolge ich die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche nur am TV. Sie verläuft im Gegensatz zum vorigen Jahr zwischenfalllos, würdig und berührend. Karin Schmidt-Friedrichs, die immer gefühlvolle, viel Herzenswärme ausstrahlende Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, war glücklich, erstmals seit ihrem Amtsantritt 2019 eine »normale« Buchmesse erleben zu dürfen. Bei ihrem Auftritt in der Paulskirche wird sie jedoch von den Gefühlen überfraut, und mensch wäre am liebsten aufgesprungen und hätte sie tröstend in den Arm genommen. Wenig ist so ergreifend, wie ein Mensch, dessen Stimme wegbricht und dem man hofft, mit hypnotischen Wünschen und ganz viel Wohlwollen Stärke und Contenance zubeamen zu können.
Serghij Zhadan, der ukrainische Friedenspreisträger, wurde bereits im März für den Preis ausgesucht und hat sich seitdem als einzig denkbarer Kandidat bewiesen. Der 48-jährige in Charkiw lebende Schriftsteller, Poet, Übersetzer und Rockmusiker studierte Germanistik und promovierte über den ukrainischen Futurismus. Geehrt wird er aber nicht nur für sein literarisches Werk, sondern auch für sein humanitäres Engagement. Seit dem 24. Februar hat er seine Heimatstadt Charkiw nicht verlassen, sondern ist unermüdlich bei täglichen Hilfsaktionen zugange. Truppen mit seiner Band aufmuntern, Kühlschränke schleppen, Hilfsgüter koordinieren, in U-Bahn-Schächten verängstigte Menschen unterhalten – er ist für alles da und packt an, wo Not am Mann ist. Nachzulesen in seinem auf Deutsch erschienenen Buch Himmel über Charkiw.
War die in Russland geborene Sasha Marianna Salzmann vor fünf Jahren mit ihrem Debütroman Außer sich sofort auf der Shortlist des dbp, gelangte ihr Roman »Im Leben muss alles herrlich sein« im vergangenen Jahr auf die Longlist. Nun hielt sie die Laudatio auf ihren ukrainischen Kollegen. So einfühlsam, so gelungen findet sie die richtigen Worte, die von Serghij ohne Unersetzung verstanden werden. Beide Autor:innen beeindrucken mit dem Grad der Beherrschung der deutschen Sprache.
Ich könnte noch stundenlang weitererzählen, will aber Ihre Aufmerksamkeit nicht überbeanspruchen.
Summa summarum: eine verhalten vorsichtige Buchmesse, bei der die Freude vorherrschte, vor Ort zu sein.
Bücher und Hörbücher, auf die ich mich freue:
- Alex Schulman: Verbrenn alle meine Briefe
- Christine Koschmieder: Dry
- Lucy Fricke: Die Diplomatin
- Fatma Aydemir: Dschinns
- Kristine Bilkau: Nebenan
- Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter
- Jan Faktor: Trottel
- Kim de l’Horizon: Blutbuch
- Eckhart Nickel: Spitzweg
- Elke Heidenreich: Ihr glücklichen Augen
- Serghij Zhadan: Himmel über Charkiw
- Ingrid Noll: Tea time
- Florian Illies: Gottfried Benn
Barbara Fellgiebel
mit Fotos von Beate Fischer-Kanehl
Sie freut sich aber über Ihre Reaktionen hier als Kommentar oder an alfacult(at)gmail.com.
Danke liebe Barbara für die ausführliche intelligent humorvolle Sicht, die Beschreibung Deines Wandelns durch die Messehallen 2022 in Frankfurt. Ich fühle mich nahezu selbst anwesend.
Das hast Du wirklich wunderbar und mit herzerfrischender Leichtigkeit und Anteilnahme geschrieben mit allen kleinen Nebenbeobachtungen. Gratulation! Petra Kammann
Nächstes Jahr komme ich mit, @Barbara!
Wenn Du mich in Schlepptau nimmst, trage ich dafür alle deine Taschen!
Herzlichen Dank, ebensolche Grüße
Gregor Schürer
Danke, liebe Barbara. Es ist für mich immer ein Genuss, Deine ausdrucksstarken Impressionen zu lesen. Viele Grüße, Monika Buttler
Liebe Barbara, du weißt, ich bin seit Jahren ein Fan (Fanin??) deiner lebendigen Berichte von der Frankfurter Buchmesse. Ich war auch ganz traurig, dass ich wegen der Pandemie die Freikarten 2020 nicht einlösen konnte, die ich anlässlich des Bremer Autorenstipendiums 2019 bekommen hatte. Und dann lese ich deine Impressionen und frage mich, warum ich nicht einfach in diesem Jahr Eintrittskarten gekauft und ein Appartement in Frankfurt gemietet habe.
Am letzten Sonntag lästerte allerdings Moritz Rinke in seiner wöchentlichen Kolumne im Weser-Kurier, dass nun eine ausgewiesene non-binäre Person den Buchpreis bekommen hat, wobei er „Blutbuche“ durchaus lobt. Mich würde interessieren, inwieweit du einschätzen kannst, ob Diskussion um gender, political correctness oder die „richtige“ politische Gesinnung die Entscheidung der Juroren beeinflusst. Angst vor einem Shitstorm?
Ich habe fast ganz aufgehört, die Romane der überall besprochenen Preisträger zu lesen. Ich war zu oft enttäuscht und gelangweilt. Ist ein Buch, das nicht dem „mainstream“ folgt, zurzeit finanziell für den Buchhandel uninteressant? Die Frankfurter – Buchpreise seien wichtig für die Bibliotheken und für das Weihnachtsgeschäft, sagte mir mal der Cheflektor eines großen Verlages, es gehe nicht um die Leser und LeserInnen. Die meisten Leute bekämen die Bücher geschenkt, läsen sie oft nicht oder nur den Anfang und legten sie beiseite.
Also, warum geht es eigentlich bei den großen Preisverleihungen? Ums Marketing? Den derzeitigen Mainstream? Ich habe gerade mit Vergnügen „The Plot“ von Jean Hanff Korelitz gelesen – auch nicht bis zum Ende, so gut ist er auch wieder nicht, aber es zeigt die Machenschaften der Verlage, die Eitelkeiten der Autoren und die Macht der Medien, die ein Buch zur Spitze pushen, indem sie darüber berichten, auch wenn es n u r politisch korrekt ist und absout keine literarische Relevanz hat, der Plot sogar „geklaut“ ist.
Liebe Barbara, ich würde gern einmal unter deinen „Followern“ eine Diskussion entfachen, wie sie die Lage auf dem Buchmarkt sehen und welche Bücher sie gern lesen. Und warum. Weil die Autoren einen Buchpreis bekommen haben?
Liebe Grüße nach Schweden, Anne
PS. Um die Begegnung mit unserer Mörderischen Schwester Ingrid Noll beneide ich dich glühend. So schreiben können wie diese Grand Old Lady des deutschen Kriminalromans, das muss man erst einmal können!
Liebe Barbara, vielen Dank für diese wie immer „mitnehmenden“ BIPs und auch bei mir das Bedauern nicht dabei gewesen zu sein. Slowenien als Gastland im nächsten Jahr wird mich noch einmal mehr anziehen. Beeindruckung ist ein schöner Neologismus. Bezüglich des Friedenspreis für Serhij Shadan lohnt es sich den Kommentar von Navid Kermani in einer der letzten Zeit-Ausgaben zu lesen, der den Autor prinzipiell sehr schätzt, aber sagt, dass eine Friedenspreis-Vergabe aufgrund dieses letzten Buchs mit offen rassistischen und hasserfüllten Aussagen schwer fällt und nur vor dem Hintergrund des Gesamtwerks möglich erscheint. Vielen Dank jedenfalls und beste Grüße, Kristine Ziemens
oh welche Freude, so viele Kommentare zu bekommen. Da weiche ich von meinem Prinzip, Kommentare nicht zu beantworten ab und stürze mich gerne in die von Anne Achner vorgeschlagene Diskussion. Mal sehen ob jemand mitmacht. Cecile Schortmann wurde nicht müde, zu betonen dass nicht die nonbinäre Verfasserperson sondern der Roman Blutbuch (ohne E ) wegen seiner innovativen Sprache ausgezeichnet worden ist. Lest ihn und überzeugt euch selbst
Seitdem ich nicht mehr zur Buchmesse gehen mag,
lese ich um so „gerner“ Barbara’s Blog, klar.
Eine freie „subjektiefe“ Meinung statt konventionnellen flachen Artikeln.
Ich betanke mich
Vielen Dank für den schönen Bericht. Wir konnten dieses Jahr aufgrund unserer eigenen Corona-Infektion leider nicht dabei sein.
Was ich mich schon seit Tagen frage: Wie kommt es eigentlich, dass im Literaturcafé so gar nicht über den diesjährigen Buchpreis und das siegreiche Blutbuch berichtet wurde? Da ist doch eigentlich immer eines DER Herbstthemen …
Deutscher Buchpreis, Nobelpreis, Büchnerpreis … Über die großen Literaturpreise wird von anderen viel geschrieben, viel berichtet und die Bücher werden besprochen. Sofern es nicht einen interessanten, unerwähnten Aspekt oder unerwartete Gewinner gibt, sind diese großen »Literaturbetriebspreise« im literaturcafe.de kein Thema und uninteressant. Dazu wird schon viel von anderen gesagt und geschrieben. Wir haben nicht den Anspruch, eine umfassende Nachrichtenseite zu sein. Das können und wollen wir nicht leisten. Das literaturcafe.de versteht sich als ein Ort, der auch mal auf anderes schaut, auf Literaturfestivals, die vielleicht (noch) nicht so im Fokus sind. Soweit ich mich erinnern kann, wurde der Gewinnertext des Deutschen Buchpreises noch nie im literaturcafe.de besprochen. Ups, ich sehe gerade, das stimmt nicht! Und vereinzelte Titel der Long- oder Shortlist sind aus anderen Gründen besprochen und nicht, weil sie auf diesen Listen sind. Bis vor zwei Jahren gab es das Format, dass wir mit den Titeln der Longlist den »Buchhandelstest« gemacht haben und die Titel allein aufgrund ihrer ersten Seiten bewertet haben.
Daher finde ich es schön, dass der #dbp hier in Form von Barbara Fellgiebels Betrachtungen stattfindet, denn sie ist nah dran und berichtet bisweilen das, was andere nicht berichten.