Bodo Kirchhoffs Roman ist auf den ersten Blick sicherlich eine positive Überraschung, weil die Sprache ungewöhnlich ist. Auf den zweiten Blick aber wird genau diese ungewöhnliche Sprache, die ein Aneinanderreihen von Stakkato und bruchstückhaften Einschüben darstellt, langweilig.
Dies insbesondere bei den Naturbeschreibungen, wobei Kirchhoff seltsamerweise mehr die italienische – also in der Hitze sich präsentierende – Natur als die nördlich der Alpen zu beschreiben weiß. In Kaskaden beliebiger Bildeffekte, austauschbar oder auch weglassbar, entsteht keinerlei Gefühl oder eine Atmosphäre durch seine Naturbeschreibungen. Sie wirken auf mich wie das wahllose Aneinanderreihen von Versuchsgedichten.
Tragisch aber ist die Hauptfigur, ein alternder Mann, der alles an sich kritisiert, alles schlecht findet, vor allem sich selbst. Im Laufe der Erzählung, die Kirchhoff zu einer Novelle erhebt, wird durch den Rede- und Verlegenheitsschwall des Erzählers deutlich, wie alt die Hauptfigur tatsächlich ist: ein Alt-68er-Fossil, das von verpassten Chancen träumt und sich im Stil eines Altherrenzögerers geriert. Spätestens hier wird die Strich-Punkt-Sprache Kirchhoffs zum Menetekel, weil sie vollkommen unglaubwürdig wirkt.
Noch dubioser wird es durch die schwer erträgliche Offensichtlichkeit der konstruierten Begegnung mit einem schweigenden Mädchen, natürlich – ganz modern – einem Flüchtlingsmädchen. Die Hauptfigur erinnert dies, wie kann es anders sein, an verpasste Chancen. Seine Begleiterin sieht in dem Mädchen ihre persönliche Rettung für ihr persönliches Unglück. Das wirkt alles in allem linkisch, überfrachtet und ist so ungelebt wie seine Sprache.
Selbst der Schlussteil – ja, es gibt auch wirkliche Flüchtlinge, die Guten, natürlich – wirkt platt und gewollt. Achtung: es wabert die Schließung der offenen Wunde durch einen flüchtigen Arzt, einem Farbigen, natürlich, mit Frau und Kind, natürlich. Das ist so überaus altbacken; es grenzt beinah ans Peinliche, als es sogar zarte Hinweise auf die »Heilige Familie« gibt.
Alles in allem stellt Bodo Kirchhoff uns mit seiner Novelle »Widerfahrnis« ein Buch eines Sprachbeherrschers vor, der im Duktus alter Zeiten und mit der Verve betulicher Altherrenerotik einen Sprung in die Moderne wagte. Leider ist ihm dieser Sprung misslungen.
Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis: Eine Novelle. Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2016. Gebundene Ausgabe. 2016. Frankfurter Verlagsanstalt. ISBN/EAN: 9783627002282. 19,87 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis: Eine Novelle. Taschenbuch. 2018. dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. ISBN/EAN: 9783423146418. 12,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis. Kindle Ausgabe. 2016. Frankfurter Verlags-Anst. 10,99 € » Herunterladen bei amazon.de Anzeige
Mir hat die Lektüre auch keinen Spaß gemacht. Zu affektiert die Sprache. Zu gewollt, zu gekünstelt. Zu gestelzt. Ich liebe (scheinbar) einfach formulierte Texte, und weise in diesem Zusammenhang immer wieder gern auf eines meiner Lieblingsbücher hin: „Die Wand“. Haushofers Sprache in diesem Buch ist für mich Lesegenuss pur! Allein bei der Szene, wo die Kuh ein Kalb auf die Welt bringt, geht mir das Herz auf. Aber die Einfachheit und Klarheit der Sprache Haushofers strebt Kirchhoff gar nicht an. Sollte er vielleicht mal ausprobieren …