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Norden und Niedergang: »Zur See« von Dörte Hansen

Buch: Zur See von Dörte Hansen

Norden und Niedergang. Auch in ihrem dritten Roman »Zur See« bleibt Dörte Hansen ihren Themen treu. Ihr Roman über eine Kapitänsfamilie auf einer Nordseeinsel besticht durch eng verwebte Figuren und die Erzählperspektive.

In ihrem ersten Roman »Altes Land« griff Dörte Hansen seinerzeit beliebte Genre-Elemente auf und verwob sie ungewohnt: die junge Frau, die mit der Vergangenheit der eigenen Familie konfrontiert wird und erleben muss, wie Städter das Umland okkupieren.

»Mittagsstunde« war noch düsterer. Ein Mann kehrt aus der Stadt in sein Dorf zurück, um den kranken Vater zu pflegen. Auf dieser Basis beschreibt Hansen den Niedergang des Dorfes und der Dorfgemeinschaft. Melancholie schwebt über allem, fein dosiert von Humor durchzogen.

Podcast: Gespräch mit Dörte Hansen über »Zur See«
Wolfgang Tischer hat Dörte Hansen getroffen und mit ihr über den Roman gesprochen. Hören Sie in unserem Podcast das ausführliche Interview. Hier klicken »

In »Zur See« sind wir auf einer Nordseeinsel. Für den Schauplatz setzt sich die Autorin ihre Insel aus Elementen aller Nordseeinseln zusammen, ein wenig Sylt, ein wenig Norderney, ein wenig Langeoog und ein wenig Amrum. Eine jener Inseln, die wie fast alle von den Touristen leben. Die Einheimischen haben gelernt, zum Leben auf der Insel die Tagesränder zu suchen, wie Hansen es bezeichnet.

Romane von Dörte Hansen haben Bestsellergarantie. Auch »Zur See« wurde lange erwartet und stieg auf den obersten Plätzen ein. Das Feuilleton nimmt sie – wenn überhaupt – ebenfalls am Rande war. Dabei dürfte Hansen zu den derzeit besten Autoren in Deutschland zählen. Doch Erfolg macht suspekt. Ein Unding, dass »Zur See« nicht einmal auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis zu finden war. Hansen scheint aus irgendwelchen Gründen unter dem Verdacht des Seichten zu stehen.

Dabei kann derzeit niemand so intensiv erzählen, so leicht auch schwere Themen aufgreifen und erzählerisch raffiniert komponieren. Ein sentimentaler Blick auf eine sich verändernde Gesellschaft, ohne sich plump mit Trendthemen anzubiedern.

Bereits der Anfang des Romans beginnt unerwartet und ohne Handlung. Wie mit einer Drohne gefilmt nähern wir uns der Nordseeinsel und einem Mann oder besser gesagt einem Typ Mann. Ein Seefahrer, der eigentlich keiner mehr ist, weil er nur noch auf einer der Fähren Dienst tut, die die Touristen auf die Insel bringen. Ein Mann, vom Leben gezeichnet, einer der friert. Ein Alkoholiker. Die exemplarische Figur wird konkreter. Wir kommen näher ran, und er bekommt einen Namen. Ryckmer Sander. Dass Dörte Hansen später im Roman die Position des rauen Seebären durch eine Frau ersetzt, sind die schönen kleinen Details, die man ebenfalls am Rande der Lektüre wahrnimmt.

Kapitel für Kapitel stellt die Autorin die Mitglieder der Familie Sander wie Figuren auf ein Spielbrett und lässt sie ihre Züge machen. Sie alle sind angeschlagen, vom Leben ramponiert, oft liebes- und kommunikationsunfähig. Alle sind auf der Insel geblieben und haben ihren Weg gefunden, sie dennoch zu verlassen. Ryckmer den Alkohol, seine Schwester Eske den Heavy Metall, sein Bruder Henrik die Kunst, Vater Jens das Beobachten der Seevögel, Mutter Hanne die ständige Geschäftigkeit und Ruhelosigkeit.

Hansen erzählt von Entwicklung und Veränderung, Ende offen. Die Feriengäste der Vergangenheit sind Kurzurlauber geworden, die Hotels mit Spa werden den familiären Unterkünften vorgezogen. Traditionen werden zur Touristenshow. Und nicht am Rande, sondern mitten in der Geschichte liegt ein Wal am Inselstrand. Größer kann ein Motiv nicht sein

Dörte Hansen erzählt konsequent auktorial, stellt Fragen und bindet Nebenfiguren souverän mit ein, wie die des Pastors Lehmann und seiner Frau. Und Klara Loof, die stets ihren dicken Dackel im Tuch mit sich herumträgt wie die Log Lady in Twin Peaks den Holzscheit. Ihre Verbindungen sind sauber und detailliert gearbeitet, wie schon in den Vorgängerromanen traut Hansen ihren Lesern fast nahtlose Zeit- und Figurensprünge zu.

Mag sein, dass Pathos und Melancholie in »Zur See« bisweilen etwas dicker aufgetragen werden, die Grundkonstruktion hält es locker aus, der immer wieder aufblitzende Humor versöhnt mit dem Niedergang im Norden.

Wolfgang Tischer

Dörte Hansen: Zur See: Roman - Der Nummer 1 Bestseller. Gebundene Ausgabe. 2022. Penguin Verlag. ISBN/EAN: 9783328602224. 24,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
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