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Textkritik: Lyrik für Handwerker – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

Lyrik für Handwerker

von Ulrich Degwitz
Textart: Lyrik
Bewertung: 3 von 5 Brillen

Was sich nicht reimt,
ist kein Gedicht
was unverleimt,
eine Spanplatte nicht;
weshalb der wahre Poet
die ordentlichsten Verse
mit dem Schraubenzieher dreht,
bis sie so passen
wie Untertassen
unter die Tassen.

© 2002 by Ulrich Degwitz. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Stümpernden Gelegenheitsdichtern wird hier eine launig-parodistische Rechnung präsentiert – aber diese geht nicht richtig auf, denn das Gedicht zieht sich versehentlich (?) ein kleines Stück Boden unter den eigenen Füßen weg!
Die sprach-handwerklichen Fertigkeiten und sprachlichen Fähigkeiten des Autors sind fraglos! Sei es die reimlose Zeile, sei es, dass am Ende die Untertassen optisch über den Tassen stehen, also – wenn ich das so sagen darf, und ich darf, wer wollte mich auch hindern? – falsch verwendete Formelemente den Inhalt verstellen. Dass das Metrum zu stolpern beginnt, betrachte ich als Absicht Nur: Wenn sich jemand explizit an Handwerker wendet, dann muss er sich dem auch begrifflich stellen …

Die Kritik im Einzelnen

Aha: Es geht um Lyrik für Handwerker – wozu muss es das eigentlich geben, berufsgruppenbezogene Lyrik meine ich? Andererseits, warum eigentlich nicht! Im Gegenteil: spannend wäre sicherlich auch Lyrik für Kleptomanen oder Lyrik für Lyriker – und außerdem und sowieso: muss es denn überhaupt Lyrik geben? Kein Stück!
Da es also um Lyrik für Handwerker geht, die ja, wie der Name schon sagt, mit den Händen werkeln, also praktisch veranlagt sind (so jedenfalls die landläufige Meinung), wird zunächst einmal erklärt, was ein Gedicht nicht ist! Demnach fällt Lyrik für Handwerker darunter, denn eine Zeile reimt sich nur mit sich selber, aber das gildet nicht – so hätten wir dann zur Belehrung ein schlechtes Beispiel, schließlich soll man aus Fehlern lernen! Darüber wird der Handwerker sich aber freuen! Und sehr aufmerksam sein… zurück
Und schon lernt er, und sie tut das geradeaus und lautstark: »He: das heißt nicht Schraubenzieher, das Ding hieß noch nie Schraubenzieher, der heißt immer noch Schraubendreher – nur ausgemacht Weltfremde wie z.B. Poeten kämen auf die Idee, mit solch einem Werkzeug Schrauben ziehen zu wollen!« Und selbst wenn er Zieher hieße: da diese Zeile viel länger ist als alle anderen, sie sich gewissermaßen in die Länge zieht – denn von Rechts wegen gehört das vorhergehende die ordentlichsten Verse, da ohne Reim, sogar noch dazu -, müsste es deswegen mindestens mit dem Schraubenzieher zieht heißen! So viel Handwerks-Freiheit sollte sein! Doch ginge dann wiederum der Reim auf »Poet« flöten, und es bliebe wieder ein reimloser Vers… Ach, wie man es auch dreht und zieht: es hakt!
Was hat unser Handwerker jetzt gelernt? Gedichte sind inhaltlich falsch, wenn man Werkzeuge aus dem Volksmund verwendet, denn reimen tun sie sich trotzdem nicht. Was aber fängt unser Handwerker mit dieser Lehre an? Dass in Gedichten Falsches steht, egal wie? zurück
Wo kriegt man passende Untertassen für Tassen her? Ist man Töpfer, dreht man sich eine (allerdings weder mit Schraubenzieher noch mit -dreher), ist man keiner, kauft man sich am besten gleich ein passendes Set oder eilt mit der verwaisten Tasse durch die entsprechenden Abteilungen einschlägiger Geschäfte – das zieht sich ziemlich! Inhaltlich wird nun die Untertasse unter die Tasse bugsiert – aber vergeblich, wie man auf einen Blick sieht: sie steht trotzdem direkt über der Tasse:
…Untertasse
…Tasse

Ins Grübeln noch und noch gerät da unser Handwerker: Wie macht man so etwas? Und wozu? Und er nimmt den Schraubendreher zur Hand und wendet sich wieder seinen Leisten zu. Brav! zurück

© 2002 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.