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Textkritik: Ich Ich Ich – Prosa

Eine Textkritik von Malte Bremer

Ich Ich Ich

von Thomas Utzinger
Textart: Prosa
Bewertung: 2 von 5 Brillen

Wer bin ich?

Ich mag Alkohol. Ich mag Frauen. Ich mag es, wenn Frauen Alkohol trinken. Ich mag schnelle Autos, schnellen Sex, schnell wirkende Drogen und laute Musik. Ich mag Designerklamotten, großzügig geschnittene Apartments, verchromte Küchen und Futons. Ich mag Handys, PDAs, meinen I-Mac und die blonden Locken meiner Sekretärin.

Ich, ich, ich.

Ich mag sanfte Sommerwinde bei 30° C Außentemperatur und ich mag es, die Sonne im Meer versinken zu sehen, ich, auf einem Motorboot, eine Flasche Veuve Cliquot und eine oder zwei meiner Model-Freundinnen, verführerisch schimmernder Kaviar im Mundwinkel, den ich zärtlich wegküsse. Kaviar übrigens stammt vom Stör, falls Sie das nicht wussten.
Ich mag Fußball, die Bundesliga, aber besser noch die Champions League, Real Madrid und AC Milan. Ich mag meinen Plasmafernseher, meinen DVD-Player, den Beamer und die Leinwand, die naturbelassene Steinmauer in meiner Wohnung, meinen gläsernen Schreibtisch, Austern, Filet Mignon und meinen Bonsai. Mein Lieblingsautor war früher Bret Easton Ellis, heute ist es Haruki Murakami. Ich höre Bach und lese Nietzsche. Baudrillard hatte Recht. Meine Leitfäden zu beruflichem Erfolg sind Sun Tsus „Kunst des Krieges“ sowie „Hagakure – der Weg des Samurai“ von Tsunetomo Yamamoto. Darin heißt es:
„Wirf kleinmütige Logik weg. […] Wer Dinge für falsch oder richtig halten kann, ist in unwichtige Details verstrickt und verschwendet sein Leben für nichts.“
Und an einer anderen Stelle schreibt er:
„Der Trend der Zeiten kann nicht geändert werden. Die Gesellschaft wird nach und nach korrupter und nähert sich dem Untergang – das ist die Natur der Dinge.“

Ich, ich, ich.

Ich bin der globalisierte Alptraum aller Ideologen, eine geifernde Kreatur aus der Hölle der Banalität, die grotesk entstellte Fratze des Kapitalismus. Und ich bin überall. Wie alle meine Freunde bin auch ich zu zynisch, um noch an irgendetwas zu glauben. Wir haben den Wahnsinn durchschaut und genießen ihn, denn über kurz oder lang werden wir alle sterben, verwelken, zerfallen, in uns zusammensinken und vergehen. Nichts wird bleiben. Und das ist gut so, denn wir sind ohnehin zu viele: 6 Milliarden, mehr, als dieser Planet ertragen kann.
Bin ich glücklich?
Jetskis, Cabrios, Kondome mit Pfirsichgeschmack und eine Fußreflexzonenmassage jeden Freitag. Eine Platinkarte. Die verchromten Handgriffe zum Einstellen der Sitzhöhe an den Geräten meines Fitnessstudios. Goldene Schweißperlen auf meinem Abdomen und ein Bizeps, der Michelangelos David grünen Neid ins marmorne Antlitz meißelt.

Ich, ich, ich.

Ich bin der Wurmfortsatz dieser Gesellschaft, und wenn ich schon in Erscheinung trete, dann soll es auch bitteschön wehtun. Ich bin Ihr zuckendes Augenlid, Ihr nervöser Tick, bin Christians tosender Wanderschmerz und Marias nässender Nagel. Ich bin der tausendste Löffel, wenn alles, was Sie benötigen, ein Messer ist.
Wären Sie gerne wie ich?
Ich habe vor langer Zeit den Versuch aufgegeben, nicht oberflächlich zu sein. Wer moralisch-intellektuellen Anspruch erhebt, macht sich lächerlich. Das abscheuliche Wort „Tiefgang“ stammt aus der Seefahrt und beschreibt den Abstand der Wasserlinie vom tiefsten Punkt eines Schiffes. Wie viel ist viel? 4, 6 oder 12 m? Seien wir ruhig völlig unrealistisch, rebellisch und sagen wir: 30 m. Der Marianengraben ist 11,000 m tief. Wir können es drehen und wenden wie wir wollen: wir sind dazu verdammt, auf ewig an der Oberfläche zu treiben. Droben, wo es hell, freundlich, warm und vollkommen sinnentleert zugeht.

Ich, ich, ich.

Ich mag das Parfum von Hugo Boss, Schuhe von Bugatti, Hemden von Versace und Sakkos von Dolce & Gabanna. Ich mag es, in der Welt herumzureisen und von Sydney bis Rom, von New York bis Seoul die Produkte von McDonalds, Burger King, Coca Cola und Starbuck’s konsumieren zu können, weil mir das ein Gefühl von Heimat, von Zugehörigkeit und Vertrauen verleiht, in einer Welt, die um Verachtung fleht. Ein Big Mac zaubert ein Lächeln auf meine Lippen und Aceto Balsamico in Peking flößt mir Vertrauen ein. In beiden Fällen – jedoch besonders im ersten – ganz sicher nicht des Geschmacks wegen.
Ich bin zynisch, aber kein Masochist.
Meine Menschlichkeit und eine tiefe Liebe zu meiner Umwelt treten zutage, wenn ich auf einer Sonnenbank liege und schwitze. Alle paar Minuten löse ich dann meinen schweißigen Rücken mit einem Ruck vom Vakuum der Plexiglasplatte. Der Effekt: ein luftig-pfeifendes Geräusch, ein Furz wie aus dem Lehrbuch. Das Wissen um verstohlenes Kichern und nachsichtig-schadenfrohes Lächeln in den Nachbarkabinen und im Vorraum macht mich glücklich. Ob aus märtyrerhafter Selbstlosigkeit oder infantilem Fäkal-Humor sei dahingestellt.

Ich, ich, ich.

Löschen Sie das Licht, dann ist es weniger gefährlich. Auch mir ist es nicht leicht gefallen, ein Selbstbild ist schwer zu finden, aber – was soll’s? Keine Sorge! Stehen Sie auf, schauen Sie in den Spiegel. Sagen Sie es, sprechen Sie es aus, schreien Sie, so laut Sie können:
ICH! ICH! ICH!
MEIN! MEIN! MEIN!
MIR! MIR! MIR!
HABEN! HABEN! HABEN!

Bist Du jetzt zufrieden?

© 2005 by Thomas Utzinger. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Viel zu unentschieden und viel zu lang
Keine Frage: dieser Text hat einen sauberen Aufbau, und wo echte Sprache vorkommt und nicht nur Werbeblöcke versammelt werden, zeigt sich, dass mit ihr wohl umgegangen werden kann. Inhaltlich aber ist keine Linie erkennbar, es fehlt eine klare Distanz zu dem Thema, und es fehlt vor allem eine klare Vorstellung von dem Ich-Erzähler – der suhlt sich viel zu sehr in Klischees!
PS: Wer etwas wirklich gutes zum Thema »Ich Ich Ich« lesen möchte, dem empfehle ich eines meiner Lieblingsbücher, nämlich Ich Ich Ich, von Robert Gernhardt, mit den 5 Kapiteln ich, du, er, sie, es, früher bei Haffmanns, jetzt beim S. Fischer Verlag, ISBN 3-596-16073-1, auch antiquarisch vielfach zu erwerben!

Die Kritik im Einzelnen

Bis hierhin habe ich einigermaßen unwillig gelesen: was soll das alles? Wozu diese endlosen und langatmigen Aufzählungen von irgendwelchen technischen Errungenschaften oder berüchtigten Produktnamen? Soll das eine verquaste Konsum- und Konsumentenkritik werden? Soll dem sogenannten Zeitgeist eins übergebraten werden? Und: Ist Langeweile ein Stilmittel? Wenn ich diesen Text nicht bearbeiten wollte, hätte ich ihn spätestens hier weggelegt. zurück
Zur Langeweile gesellen sich jetzt zwei banale, da völlig erkenntnisfreie Zitate: lässt sich Langeweile steigern? Offenbar ja! Wenn das Stilmittel sein soll, ist es überstrapaziert! zurück
Aha: jetzt wird das zweite Kapitel eingeleitet! Nach Überschrift und Einleitung folgte das erste Kapitel, übergetitelt wie dieses »Ich, ich, ich« und enthielt zwei Abschnitte Aufzählungen und zwei Zitate – vielleicht bietet der Text zumindest einen formalen Reiz? Inhaltlich bieten Einleitung und erstes Kapitel nur Gleiches. zurück
Was ein alberner Größenwahn! Besteht die Modernität dieses Textes darin, dass Ichichich das Wörtchen globalisiert verwendet? Diese der Werbung entsprungene Fratze gibt es nirgends außer in der Werbung, der sie gar nicht entspringen darf, denn womit sollte dann geworben werden? Und wieso sollten Klischees ein Alptraum sein und für wen? Wo wird hier gegeifert? Wo ist überall? Im Busch? Im Marianengraben? Fragen über Fragen … zurück
Holla: eine klitzekleine Prise Sloterdijk und drei Löffel barockes Weltuntergangsszenario: alles ist eitel, Mensch: werde wesentlich, carpe diem – das hatten wir doch alles schon, das ist doch nichts Neues, das ist nicht einmal besser: hat IchIchIch uns denn wirklich gar nichts zu sagen? zurück
Was soll diese Frage? Hin und wieder schon, mal mehr und mal weniger, mal ganz doll und mal sehr un-, wie jeder Mensch auf allen Welten im Weltall. zurück
Nach einer erneut ermüdenden Aufzählung endlich mal ein sprachlich interessanter Satz (musste man lange drauf warten) – und ein Rätsel: Wieso ist Neid grün? Wann hat er seine gelbe Farbe verloren? Grün ist die Hoffnung, dachte ich … Aber das Internet bietet beides an (was Wunder: was bietet das Internet nicht an!), bei Redewendungen jedoch nur die gelbe Variante. zurück
Zwei Abschnitte mit einer Zwischenfrage haben wir hinter uns, jetzt beginnt das dritte Kapitel: zurück
Parallel zum 1. Abschnitt im vorigen Kapitel wird jetzt wieder proletet: Ich bin der Wurmfortsatz … Und dieser Abschnitt erinnert mich sehr an die Beat-Lyrik der 60er: »Ich bin der gesunde Aussatz, ich bin das parfümierte Toilettenpapier, ihr Schmetterlingsmörder ….« usw. usw., frei aus dem Gedächtnis zitiert. Damals wollten wir es der Gesellschaft aber so was von zeigen! Und was hat man sich über diese aus dem amerikanischen übersetzten Texte aufgeregt, da kam nämlich sogar das Wort ficken vor … Wenn man schon keine Bedeutung hat, kann man sich ja eine zuschreiben. zurück
Gegenfrage: Wären Sie gerne wie ich? Na also! zurück
Wir sind zu gar nichts verdammt, nicht einmal zur Freiheit, so billig schleicht sich Ichichich nicht davon und aus der Verantwortung! Und ob Tiefgang oder Flachwichserei: das ist eine Frage der Perspektiefe: der Marianengraben z. B. ist wesentlich tiefer als nur 11 Meter, wie Ichichich uns weismachen will, nämlich um die 11.000 Meter! Und um es follends filosofisch zu fertiefen: welchen Tiefgang hat ein Schiff, das auf dem Grunde des Marianengrabens ruht? Wie sieht es aus mit dem Tiefgang der Person, der auf der Oberfläche dieses Schiffes sich befindet? Darüber hinaus – denn Schiff ist Schiff : wie begreift unsereins den Tiefgang eines Raumschiffes? Unendliche Weiten, Höhen, Tiefen und Längen und Breiten breiten sich dort nach allen Richtungen aus! Man sieht: Tiefgang ist allemal kein abscheuliches Wort, sondern eines, das seinem Namen alle Ehre macht! zurück
Es beginnt offenbar das vierte Kapitel, nachdem erneut zwei Abschnitte nebst einer Frage abgesondert wurden. zurück
Leider eine Rückkehr zu den Aufzählungen, nachdem Ichichich sich weidlich ausgekotzt hat. Es braucht das wohl zur Selbstberuhigung: sei ihm gegönnt! Toll, was Ichichich alles für Marken kennt, die ich auch kenne!  Aber wieso fleht die Welt um Verachtung? Und wen fleht sie an? Wer verleiht der Welt die Flehstimme (s. a. auf dieser Seite in der rechten Spalte ganz unten unter: 55 weitere Meinungen…/Die Erde fleht uns um Erbarmen)? Genießer wie Ichichich? zurück
Warum eigentlich nicht? Masochisten genießen doch die Selbstquälerei!  Und was macht Ichichich? »Wir haben den Wahnsinn durchschaut und genießen ihn, denn über kurz oder lang werden wir alle sterben, verwelken, zerfallen (…)« Neinnein, der Satz ist falsch! Richtig müsste er heißen: Ich bin zynisch, und deswegen Masochist. Mit Verlaub: wer vertilgt schon einen Big Mac, der ihm ganz sicher nicht schmeckt, nur um daraus tiefgängiges Heimatlandsjefiehl zu zutzeln, wenn nicht ein ausgebuffter Masochist? zurück
Einer der  wenigen sprachlichen Schnitzer: dieses Vakuum ist kein Eigentum der Plexigasplatte (ist die nicht eher aus Acrylglas? Aber das ist nur eine Vermutung!), sondern der Unterdruck entsteht zwischen Körper und Untergrund; es reichte, wenn sich der schweißige Körper vom Untergrund löst: was dann passiert, wird ja geschildert. zurück
Oben heißt es,  Ichichich sei oberflächlich und nicht masochistisch, jetzt bietet es an, man könne es ruhig als tiefgängig und masochistisch bezeichnen, nämlich als einen Märtyrer, der wegen irgendwelcher Ideale sich zu Tode quälen lässt. Ich fällt Ichichich marianengrabenweit hinter sich selbst zurück: das liegt an der Unentschiedenheit zwischen Satire, Ironie, Zynismus, Zeigefinger und Wut. zurück
Das letzte Kapitel, also der Schluss, beginnt. Wieder fanden wir zwei Abschnitte, aber statt 1 Frage eine Lüge. zurück
Bin ich nicht, denn: wie zu befürchten war, folgt die Moral! Man soll in den dunklen Spiegel schauen und Ichichich (usw.) brüllen, damit man irgendetwas Unerhebliches merkt, woraufhin ein DU vielleicht zufrieden ist: damit soll wohl der Leser als Freund angesprochen werden (die duzt man schließlich), und dann ist man genau so wie Ichichich: »Wie alle meine Freunde bin auch ich zu zynisch, um noch an irgendetwas zu glauben.« Ach Gottchen, ja, ist ja schon gut! Warum schreibt er dann erst überhaupt so etwas … Diese ganze Kapitel würde ich mit Stumpf und Stil entfernen, die anderen überarbeiten, vor allem kürzen! zurück

© 2005 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.

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